Schnulzenroman. Daniel Borgeldt

Читать онлайн.
Название Schnulzenroman
Автор произведения Daniel Borgeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756130



Скачать книгу

      Das alles änderte sich eigentlich erst, als mein Vater überraschend starb. Er erlag im Alter von 50 Jahren einem Herzinfarkt. Bis zu seinem Tod war er einer der beliebtesten deutschen Volksschauspieler geblieben, auch wenn ihn heute niemand mehr kennt. Die Beerdigung fand im kleinen Rahmen statt. Nur die engste Familie war eingeladen. Der Pfarrer, der die Trauerpredigt halten sollte, war furchtbar aufgeregt. Er erzählte mir, dass es ihm eine Ehre sei, einen so berühmten Toten beerdigen zu dürfen. Er habe ihn einmal bei irgendeinem Festakt zu Ehren eines Politikers gesehen. Er beschrieb mir ganz genau, wie der Auftritt meines Vaters gewesen war, wer damals dabei war und so weiter. Am Schluss stellten wir beide fest, dass er nicht meinen Vater, sondern Johannes Heesters gesehen hatte.

      Als er noch lebte, war mein Vater für mich lange Zeit einfach nur mein Vater, ein Mann, der selten zu Hause war, mir aber immer Spielsachen und Schokolade mitbrachte. Adenauer regierte das Land, Frauen durften ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner nicht arbeiten gehen, alle waren plötzlich katholisch oder taten so und überall durfte man rauchen und trinken. Ich ging in die Schule und stellte bald fest, dass ich in beinahe allen Fächern schlecht war, bis auf Musik. Dort waren meine Lehrer begeistert und attestierten mir eine musische Begabung. Ich hatte große Schwierigkeiten Lesen und Schreiben zu lernen, und in Naturwissenschaften war ich noch schlechter. Je älter ich wurde, desto weniger ernst nahm ich die Schule. Trotzdem schickte mich meine Mutter aufs Gymnasium. Ich erinnere mich an einen Chemietest, bei dem ich eine sechs bekam. Ich hatte bei Fragen wie »Nenne drei Eigenschaften des Elementes Neon« als Antwort geschrieben: »Treue, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit«. Oder »Unter welchen Bedingungen bildet sich bei Gülle Methangas?« »Unter schlechten.« Mein Chemielehrer schrieb unter die Note zusätzlich die Bemerkung, dass ich anfangen solle, die Schule ernst zu nehmen. Meinen Eltern schien das ziemlich egal zu sein. Allerdings verfügte meine Mutter, dass ich schon in jungen Jahren Klavier- und Gesangsunterricht bekam. Wahrscheinlich hatte sie sich das bei ihren großbürgerlichen Freunden abgeschaut und dachte, dass man das mit den Kindern so mache.

      An einen Lehrer erinnere ich mich besonders gut: Dr. Werner. Er hatte immer einen roten Kopf und hinkte. Es ging das Gerücht um, er sei in Stalingrad gewesen, darum nannten wir ihn Stalingrad-Werner. Er unterrichtete Musik und Deutsch und war, wie viele andere Erwachsene, Alkoholiker. Er steigerte sich zu cholerischen Wutanfällen, und wehe, man tat dann etwas Falsches. Wenn wir in der Musikstunde im Chor singen mussten, stand er immer mit einer Stimmgabel vor uns. Falls jemand zu laut war oder etwas anderes Verbotenes tat, warf Dr. Werner die Gabel nach ihm. Der Übeltäter musste sie ihm zurückbringen und zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmen. Stalingrad-Werner presste dann die beiden Finger mit ganzer Kraft zusammen bis der Schüler vor Schmerz aufschrie.

      In Deutsch mussten wir seine beiden Lieblingsdichter auswendig lernen, Börries von Münchhausen und Hermann Löns. Dr. Werner ging während der Stunde mit einem Stock herum und rief Schülernamen auf. Wer das geforderte Gedicht nicht auswendig konnte, bekam Prügel. Ich glaube, ich könnte heute noch ein paar dieser Balladen aufsagen.

      Eines Tages kam Stalingrad-Werner nicht mehr zur Schule. Es kreisten Gerüchte, er sei versetzt worden oder habe sich versetzen lassen. Manche glaubten zu wissen, dass er krank sei und sich in einem Sanatorium befände. Die anderen Lehrer gaben keine Auskunft und benahmen sich höchst seltsam. Ein paar Tage später stand seine Todesanzeige in der Zeitung. Niemand sprach offen darüber, aber Stalingrad-Werner hatte sich in seiner Wohnung erhängt. Was die Russen nicht geschafft hatten, das hatte etwas anderes geschafft. Was es war, habe ich nie herausgefunden.

      Als mein Vater starb, war ich gerade fünfzehn Jahre alt. Das Geld, das er meiner Mutter und mir vermacht hatte, reichte, um uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen und meiner Mutter ihren Alkoholismus bis zu ihrem Tod zu finanzieren. Trotzdem änderte sich plötzlich etwas.

      Es hatte bereits einige Jahre vorher an einem Frühlingstag begonnen. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und ging zur Schule, die nur ein paar hundert Meter weiter stadtauswärts lag. Eines Morgens auf dem Weg dorthin, entdeckte ich einen alten Herrn, der vor seiner Haustür stand und im Anzug mit Aktentasche auf seinen Fahrer wartete. Das war Alfred Döblin.

      Wir blickten uns an. Er schaute aus seinen kurzsichtigen Augen durch seine Nickelbrille hindurch und erweckte bei mir den Eindruck eines alten halbblinden Kauzes. Plötzlich sprach er mich an und fragte, ob ich nicht der Junge aus dem Nebenhaus sei. Ich bejahte und sagte, dass ich schnell zur Schule müsse. Er war mir etwas unheimlich. Döblin aber erwiderte: »Warte mal einen Augenblick.« Er öffnete seine Aktentasche und suchte lange nach etwas. Schließlich schien er es gefunden zu haben. »Ich habe leider keine Süßigkeiten, aber vielleicht magst du ja Musik.« Mit diesen Worten übergab er mir ein dünnes Heftchen mit Noten. Ich dankte ihm und beeilte mich, weiterzukommen. Ich habe mich danach nie wieder mit ihm unterhalten, ihn auch nie wieder alleine gesehen.

      Ein Jahr später verließ Döblin zuerst Mainz und dann Deutschland, für immer. Es liefen ihm dort zu viele Nazis herum.

      In dem Heft, das er mir geschenkt hatte, waren Noten von Schubert. Warum Döblin sie dabeigehabt hatte und glaubte, er würde mir eine Freude machen, wenn er sie mir schenkte, weiß ich nicht. Ich gab sie meiner Mutter und jahrelang verschwanden sie, da sich niemand um sie kümmerte. Erst als mein Vater starb, tauchten sie plötzlich wieder auf. Anna, das Hausmädchen, hielt sie eines Tages in der Hand und fragte, was damit geschehen solle, da sie sie in der Schublade einer Kommode gefunden hatte. Meine Mutter schaute das Heftchen an. Und dann geschah es. Ihr Blick veränderte sich. Ich habe diesen Blick später auch bei anderen Personen wahrgenommen, aber damals sah ich ihn zum ersten Mal. Es war, als ob irgendetwas in ihr seit Jahren nur auf diesen Moment gewartet hätte. Von diesem Tag an änderte sich unser Leben radikal.

      Das heißt, zunächst veränderte sich das Leben meiner Mutter. Sie wurde plötzlich aktiver und trank weniger. Sie engagierte sich in sozialen Projekten der Kirche. Und sie begann, wieder Musik zu machen. Aber sie sang keine Chansons mehr. Stattdessen spielte sie Klavier und begleitete sich selbst mit Gesang. In erster Linie waren es Schubert und Brahms. Wir musizierten zusammen, zuerst nur manchmal, dann immer häufiger. Meine Mutter spielte und ich sang Die Winterreise, Die Forelle und Der Tod und das Mädchen. Es war, als hätte der Tod meines Vaters und das Notenheft bei ihr eine Blockade gelöst. Sie machte einfach da weiter, wo sie vor der Heirat aufgehört hatte. Bald hatte sie auch kleinere Auftritte bei Abendgesellschaften. Sie nahm mich mit und wir trugen die Stücke zusammen vor. So erlebte meine Mutter ihren zweiten künstlerischen Frühling und ich meinen ersten.

      Meine Mutter wollte, dass ich das Abitur bestehe, aber gleichzeitig war sie von dem Gedanken besessen, aus mir einen Künstler zu machen. Am Anfang wünschte sie, ich solle in die Fußstapfen meines Vaters treten. Sie schaffte es auch tatsächlich durch alte Bekannte, mich in einer Filmproduktion unterzubringen. Der Film hieß Grüß mir die Heide!

      Einen Sommer lang drehten wir südlich von Hamburg. Es entstand ein Heimatfilm, in dem mein Vater eine Hauptrolle bekommen hätte. Ich bekam eine kleine Nebenrolle. Der Film bestand sowieso hauptsächlich aus Bildern von Schafen und Landschaftsaufnahmen aus der Lüneburger Heide, wo er gedreht wurde. Die Geschichte war wie Shakespeare für Arme. Ein reicher Industrieller macht mit seiner Tochter Urlaub in der Lüneburger Heide, mit dabei ist sein Sekretär, der die Tochter heiraten soll. Die Tochter will aber nicht, sondern sich ihre Freiheit bewahren und selbst entscheiden, wen sie heiratet. Bei einem Fest in der Heide lernt sie einen Schäfer kennen, der von Liebeskummer geplagt ist. Er ist in die Tochter eines reichen Heidebauern verliebt und sie in ihn, aber der Vater hat die Heirat aus Standesgründen verboten. Zusammen versuchen die Industriellentocher und der Schäfer ihre Pläne zu verwirklichen. Mehrmals ergreifen bei dem Film die Frauen die Initiative, was die Geschlechterverhältnisse gehörig durcheinanderrüttelt. In einer Szene trägt die Industriellentochter sogar Hosen und flirtet wild mit dem Schäfer, aber am Ende finden doch alle Paare zueinander, auch die Industriellentochter entdeckt, dass sie eigentlich in den Sekretär verliebt ist. Männer sind wieder Männer und Frauen wieder Frauen.

      Ich spielte den jüngeren Bruder des Schäfers, der versucht, die Liebenden zu unterstützen. Wie für den deutschen Heimatfilm üblich, wurden viele Schlager gesungen, hier mit Texten von Hermann Löns, den ich schon aus dem Unterricht von Stalingrad-Werner kannte. Löns