Schnulzenroman. Daniel Borgeldt

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Название Schnulzenroman
Автор произведения Daniel Borgeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756130



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der ersten Szene sieht man den vollbeladenen Zug mit Flüchtlingen, Waggon an Waggon zieht er an der Kamera vorbei. Die Leute haben die Türen geöffnet und lassen die frische Frühlingsluft herein, dann Bilder aus der Nahen und der Großaufnahme, einzelne Gesichter, Erschöpfung, Unsicherheit, Angst, schwangere Frauen, meine Mutter. Der Zug bremst. Eine Kontrolle. Deutsche Soldaten rufen. Alles raus. Noch ist Krieg. Die meisten Männer müssen zum Volkssturm. Mein Vater nicht. Er hat die Papiere mit der Unterschrift des Propagandaministers. Er und einige andere dürfen weiterfahren. Der Großteil der jungen Männer bleibt zurück, um den Amerikaner aufzuhalten, den Engländer oder den Russen. Die meisten dieser Einheiten werden sich ergeben oder sterben. Der Zug rollt wieder an. Weiter geht es Richtung Westen. Später, während des Wirtschaftswunders, werden die meisten Deutschen, die dies miterlebt haben, es als die schlimmste Zeit ihres Lebens bezeichnen. Hunger, Kälte, Elend. Kaum vorstellbar, dass jemand etwas Schlimmeres erlebt hat. Doch. Die Juden. Aber die kommen im Film meines Vaters nicht vor. Er hat die Hauptrolle. Hoffnungsfroh schaut er wieder in die Zukunft. Er träumt vielleicht schon von einer Karriere in Hollywood. Am nächsten Tag hält der Zug wieder, diesmal endgültig. Die Kunde ist durchgedrungen, dass die Eisenbahnbrücke bei Mainz gesprengt worden ist, die bei Gernsheim auch. Verbrannte-Erde-Befehl. Alle steigen aus und müssen zu Fuß weiter. Die Amerikaner sind nicht mehr weit. Mein Vater versucht, sich zu orientieren. Aber meine Mutter ist die bessere Pfadfinderin. Sie findet sich in der ganzen Situation sowieso besser zurecht, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Schwangerschaft.

      Sie zieht meinen Vater abseits des Pfades durch die Weinberge. Stunden sind sie unterwegs. Dann begreift auch mein Vater. Sie sind ganz in der Nähe seiner Eltern. Eine Sekunde zögert er. Er möchte zurück. Sich von den Amerikanern verhaften lassen. In die USA gelangen. Warner Bros. Hollywood. Oscar. Meine Mutter zieht ihn weiter. Sie gelangen zu seinen Eltern. Das Haus. Totale. Abspann.

      Ich habe das aus den Erinnerungen meiner Mutter gebastelt. Meinen Vater habe ich nie danach fragen können. Auf dem Land ließ es sich damals für Flüchtlinge besser leben. Es gab mehr zu essen als in der Stadt. Bei meinen Großeltern sowieso. Die Amerikaner kamen, stellten Fragen, forderten meinen Vater auf, zur Registrierung mitzukommen, verhafteten ihn aber nicht. Seine deutschen Ausweispapiere mit der Goebbels’schen Empfehlung hatte er bereits vernichtet. Er war ja kein Idiot. Als der Krieg im Mai endlich zu Ende war, beschlossen meine Eltern nach Mainz zu ziehen. Es hieß, die Franzosen, die inzwischen auch da waren, suchten Leute für den Rundfunk. So kam ich dort zur Welt.

      Die nächsten Jahre verbrachte Georg Fraunhofer bei einem französischen Radiosender als Moderator in einer Unterhaltungssendung für Deutsche. 1951 stand er dann bei einer größeren Filmproduktion wieder vor der Kamera. Der einzige ernsthafte Film, den mein Vater nach dem Krieg und überhaupt drehte, war ein Militärfilm, in dem er den guten Wehrmachtsoffizier mimte, der sich gegen die bösen SS-Männer zu behaupten hatte. Prompt wurde er mit Preisen überhäuft. Es war, als hätte man nur darauf gewartet, ihn auszuzeichnen.

      Meine Mutter tat inzwischen das, was sie seit dem Ende der eigenen Karriere die ganze Zeit schon getan hatte: Sie trank.

      Wir hatten einen Onkel, einen Bruder meiner Mutter, Onkel Erwin. Er war Schneidermeister, wohnte in Westberlin und hatte riesige Hände. Außerdem war er in der SPD, sozusagen das schwarze Schaf der Familie. Alle Altnazis waren in der CDU oder in der FDP. Aber Onkel Erwin war einfach kein Nazi gewesen. Später erfuhr ich, dass er sich mit seinem Vater, meinem Großvater, schon lange überworfen hatte und sogar enterbt worden war. Er besuchte uns nicht oft, aber wenn er kam, brachte er mir immer ein Geschenk mit und nahm mich auf den Schoß. Sein Atem roch nach Tabak und Schnaps und ich bewunderte seine großen Hände. Einmal kam er zum Geburtstag meiner Mutter. Ich weiß noch, dass ich bereits im Bett lag und schlief. Aber plötzlich wurde ich von lautem Stimmengewirr aufgeweckt. Ich schlich in Strümpfen und Nachthemd aus meinem Zimmer durch den Flur und lugte durch den Türspalt ins hell erleuchtete Wohnzimmer.

      Am Tisch saß Onkel Erwin. Er war der letzte Gast. Etwas war zu Bruch gegangen. Unsere Haushälterin Anna war damit beschäftigt, die Scherben eines Glases wegzuräumen. Mein Vater stand mitten im Raum und schien sehr aufgebracht, während meine Mutter mit erhobenen Armen versuchte, ihn zu besänftigen.

      »Das nimmst du zurück, Erwin«, schrie mein Vater.

      »Ich denke nicht daran. Was wahr ist, muss wahr bleiben.«

      »Woran sollen wir denn noch alles schuld sein? Die Russen sind auch nicht gerade Waisenknaben gewesen, falls du dich erinnerst. Sind sie immer noch nicht.«

      »Es geht hier nicht um die Russen, sondern um das, was du und deine Sippschaft getan haben oder eben nicht getan haben. Eure Köpfe steckten bei Goebbels doch ganz tief da drin.« Damit erhob er sich kurz und deutete auf seinen Hintern.

      »Ich glaube, du gehst jetzt besser, Erwin«, schaltete sich meine Mutter ein.

      »Ja«, sagte mein Onkel. »Es ist auch schon spät geworden. Zu spät.« Er stand auf und machte Anstalten das Zimmer zu verlassen. Ich schlüpfte schnell zurück in mein Bett, stellte mich schlafend und wartete bis Onkel Erwin weg war und Anna die Scherben aufgesammelt hatte. Ich wusste, dass sie noch einmal nach mir sehen würde und hatte mich nicht geirrt. Aber nachdem sie sich überzeugt hatte, dass ich schliefe, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Im Wohnzimmer brannte immer noch Licht. Ich stand auf und nahm meinen Beobachtungsposten wieder ein. Mein Vater lief wütend im Raum auf und ab. Ich hörte, wie er sagte: »Mit Leuten wie ihm kann man nicht reden. Die glauben doch, sie hätten die Moral auf ihrer Seite und immer das Richtige getan. Und jetzt blicken sie auf uns hinab. Aber das lass ich mir nicht gefallen.«

      »Ja, Erwin war schon immer anders. Mit Vater gab es auch ständig Streit wegen Politik.«

      Mein Vater setzte sich an den Tisch und schüttete sich einen Schnaps ein. Was er dann sagte, werde ich nie vergessen:

      »Das waren einfach andere Zeiten. Ohne Hitlers Einmarsch wäre ich nie dorthin gekommen, wo ich heute bin. Ich habe nur die Gelegenheit genutzt. Das kann man mir doch nicht vorwerfen. Ich wollte die Welt erobern. Und das habe ich getan.«

      Nach diesem Abend kam Onkel Erwin überhaupt nicht mehr zu Besuch.

       3

      Ich fragte Jessy, ob sie vielleicht bereit sei, unsere Abmachung einzuhalten und auch etwas aus ihrem Leben zu erzählen, nachdem sie mich mit der Nachricht ihrer Schwangerschaft geschockt hatte. Sie ließ sich darauf ein und berichtete, dass es ihr nach ihrem positiven Schwangerschaftstest sehr schlecht gegangen sei und sie nicht mehr gewusst hatte, was sie tun sollte.

      »Ich konnte mit keinem darüber sprechen, am allerwenigsten mit meinen Eltern. Die hätten mir sowieso nur Vorwürfe gemacht. Als meinem Vater irgendwann klar wurde, dass ich kein kleines Mädchen mehr war, glaubte er ernsthaft, ich würde so ein Leben wie meine Eltern führen, irgendwann einen Mann kennenlernen, am besten einen Ingenieur, heiraten, eine Schar von Enkelkindern bekommen und Hausfrau und Mutter werden. Ich wusste schon in der Pubertät, dass ich das nicht wollte. Als ich meinen ersten Freund hatte, fragte ich, ob ich ihn mit nach Hause bringen dürfe. Mein Vater rastete aus und schrie, solche Dinge dulde er in seinem Haus nicht und ich solle froh sein, dass er so viel Geld verdiene und wir uns überhaupt ein Haus leisten konnten. Ich meine, okay, meine Eltern sind keine Nazis, aber komplett durchgeschossen.«

      Ich sagte nichts dazu, stimmte ihr aber heimlich zu. Nach einer Weile fragte ich sie, wie sie eigentlich in den Lerchenhof gekommen sei.

      »Ich meine, das ist ja immerhin eine Privatklinik und ziemlich teuer.«

      Aber sie sagte nur: »Ich habe jetzt keine Lust, darüber zu reden. Erzähl weiter!«

      Ich verlebte also meine Jugend in Mainz und wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Mein Vater war ständig unterwegs und brachte das Geld nach Hause, viel Geld. 1955 kaufte er etwas außerhalb ein Haus für uns, idyllisch inmitten von Obstplantagen und Weinbergen gelegen. Die Wohnung in der Oberstadt behielten meine Eltern als Stadtresidenz. Unser Hausmädchen Anna, eine burschikose Frau, die mit ihrer Mutter vor der Roten Armee aus Ostpreußen