Schnulzenroman. Daniel Borgeldt

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Название Schnulzenroman
Автор произведения Daniel Borgeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756130



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Schlagersänger.

      Mein Vermögen ist leider auf wenige Besitztümer geschrumpft, zu denen eine Eigentumswohnung in Mainz gehört, die ich von meiner Mutter geerbt habe, und ein Mercedes 200, Baujahr 1982. Früher besaß ich mehrere Häuser in Deutschland, an der Côte d’Azur, in Schottland sowie eine Finca auf Mallorca, außerdem einen Fuhrpark, der aus zwölf Oldtimern und sechs Sportwagen bestand. Aber durch eine raffgierige Plattenfirma, die mich um den Großteil der Rechte meiner Lieder betrog, habe ich in den Achtzigern beinahe alles verloren. Ich lebe heute von spärlichen zwölf Prozent Tantiemen von dem, was mir eigentlich zustehen müsste. Aber ich will mich nicht beschweren.

      Ich habe eine Tochter, Clara, aus zweiter Ehe. Sie ist schon erwachsen und hat selbst Kinder. Wir haben seit langer Zeit keinen Kontakt, was an meinem früheren Alkoholproblem liegt, das ich inzwischen aber gut im Griff habe. Clara lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Hamburg und arbeitet als Immobilienmaklerin. Mein negatives Beispiel hat ihr die Lust an allem, was auch nur entfernt nach künstlerischer Existenz aussieht, gründlich verdorben, obwohl sie als Kind eine leidenschaftliche Chorsängerin war. Wahrscheinlich werden meine Enkelkinder auch sehr bodenständige Berufe ergreifen. Und das ist wohl auch besser so.

      Es gibt nicht mehr viele Schlagersänger meiner Generation. Denken Sie nur an Ludwig Franz Hirtreiter alias Rex Gildo, der aus dem Fenster seiner Münchner Wohnung sprang, nach einem Streit mit seinem Lebensgefährten. Vielleicht war er es auch einfach leid, immer den gleichen Song zu singen. Aber ich habe Rex Gildo nie persönlich kennengelernt, kann also nur spekulieren, ob er damit wirklich unglücklich war. Oder denken Sie an Drafi Deutscher, Roy Black und Bernd Clüver, die alle Opfer ihrer Alkohol- und/oder Tablettensucht wurden.

      Und nun kommen wir zum eigentlichen Grund meines Aufenthalts im Lerchenhof: Auch ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen. In den Gruppentherapien dort habe ich gelernt, gleich offen über alles zu reden, sozusagen mit der Tür ins Haus zu fallen.

      »Hi. Ich bin Heinrich Fraunhofer. Ich bin ein ehemaliger Schlagerstar und ich habe versucht, mich umzubringen. Wie ich das getan habe? Ich sprang, genau wie Rex Gildo, aus dem Fenster, allerdings nicht aus dem meiner Wohnung, sondern aus dem des Hotels Ideal in Oelde, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Vorher hatte ich einen Auftritt bei der Eröffnung eines Autohauses. Muss ich noch mehr sagen?«

      Ich stand auf, nahm mir eine Gauloises aus der Schachtel vom Tisch und ging auf meinen Balkon. Er war ungefähr anderthalb Quadratmeter groß und komplett vergittert. Es hatte damit tatsächlich nur eine Person darauf Platz. Und was sollte man dort wohl anderes tun als rauchen? Manchmal sah ich auch andere Leute, die das Rauchverbot brachen, auf ihren Balkonen stehen. Wir winkten uns dann zu als würden wir in vergitterten Raumkapseln einsam durchs All gondeln, froh ein anderes Lebewesen zu sehen, aber unfähig einander zu erreichen.

      Der Lerchenhof ist spezialisiert auf Fälle wie mich. Eine Luxusklinik, die sich nicht jeder leisten kann. Mehr als die Hälfte meiner Mitpatienten haben einen oder sogar mehrere Suizidversuche hinter sich. Mein Freund, der Schriftsteller Kurt Vechter, ist auch einer von ihnen. Ich sage, dass er mein Freund ist, obwohl ich mir nicht so sicher bin, immerhin haben wir uns erst vor vier Wochen hier im Lerchenhof kennengelernt. Aber stellen Sie sich vor: Gestern gab er mir die Schlüssel zu einem Haus an der Nordsee, das ihm gehört. Er sagte, ich könne es haben und dort wohnen, es sei ihm nicht mehr wichtig.

      Kurt ist genauso wie ich ein alter Knacker, der versucht hat, sich umzubringen. Er trägt immer schwarz: schwarze Schuhe, schwarze Hose und einen schwarzen Rollkragenpulli und sieht damit aus wie einer dieser Existentialisten, die in den Fünfzigern auch an deutschen Universitäten auftauchten, bevor diese Spezies in den Sechzigern durch die Marxisten verdrängt wurde, die ihren natürlichen Lebensraum, den Hörsaal, besetzten und durch das Schwingen großer Reden ihre melancholischen Vorgänger, die zwischen Uni und Jazzkeller hin- und herpendelten, verdrängten. Die Leute, die sich Existentialisten nannten, lasen Sartre und Camus oder gaben wenigstens vor, es zu tun, und behaupteten, das Leben sei sinnlos, aber man solle sich über diesen Zustand freuen. Als wenn man für diese Erkenntnis Sartre und Camus lesen müsste! Die meisten männlichen Studenten, die sagten, sie seien Existentialisten, taten das sowieso nur, um Studentinnen ins Bett zu kriegen. Es gab auch ein paar Frauen, die von sich behaupteten, Existentialistinnen zu sein. Warum sie das taten, weiß ich nicht.

      Kurt ist Autodidakt und sehr gebildet. Er hat wahrscheinlich auch Sartre und Camus gelesen, aber er ist mit Sicherheit kein Existentialist. Im Lerchenhof trug er diesen Rollkragenpulli in erster Linie, um die Striemen an seinem Hals zu verstecken, von dem Strick, an dem er sich hatte aufhängen wollen.

      Albert Camus behauptete ja bekanntermaßen, es gebe nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Meiner Meinung nach hatte Camus damit alles Wichtige gesagt und er hätte gar kein ganzes Buch schreiben müssen. Leider ging es aber noch weiter und natürlich mussten ein paar philosophische Kniffe folgen, um den Lesern die Botschaft zu geben, dass es noch Hoffnung gebe und jeder, der dann doch den Selbstmord wählt, entweder ein Feigling wäre oder die grundlegende Bedingung des Lebens nicht verstanden habe. Ich hätte Camus gewünscht, diese Thesen mal im Lerchenhof im Kreise der Suizidpatienten erläutern zu müssen. Das wäre eine echte Herausforderung gewesen. Wie sich noch manche erinnern mögen, ist Camus 1960 gestorben, übrigens im gleichen Jahr wie mein Vater, allerdings nicht durch Suizid sondern bei einem Autounfall. Er ist noch nicht mal selber gefahren, sondern der Sohn seines Verlegers hat einen Sportwagen, einen Facel Vega, mit Camus und sich darin um einen Baum gewickelt. Dumm gelaufen!

      Ich habe gesagt, Kurt Vechter sei Schriftsteller. Er hat jedoch noch nie etwas veröffentlicht, obwohl er mir erzählte, er habe in seinem Leben hundertdreißig Kurzgeschichten und zwanzig Romane geschrieben. Wir haben uns in den vier Wochen unserer Bekanntschaft im Lerchenhof oft unterhalten und er hat mir viele Inhalte seiner Werke anvertraut. Er sagte, sie seien ihm sowieso nicht mehr wichtig.

      Kurt schrieb seine erste Kurzgeschichte im Alter von fünfzehn Jahren, als er noch davon träumte, eines Tages ein großer und bekannter Schriftsteller zu werden.

      Es war eine Art Fantasygeschichte und spielt in einer Welt, die von fleischfressenden Ziegen beherrscht wird, die sich Schafe, die ihnen geistig unterlegen sind, als Nutztiere und Futter halten. Der grundlegende Konflikt der Geschichte wird von einer jungen Ziege ausgelöst, die behauptet, die Schafe wären den Ziegen gleich und hätten eine Seele. Sie wird daraufhin von ihresgleichen verstoßen. Es gelingt ihr jedoch, mit ein paar Schafen zu fliehen und zusammen mit ihnen eine Art Kommune aufzubauen, in der alle gleichberechtigt sind!

      Ich ließ meinen Blick über den Schwarzwald schweifen, landete aber bei den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes, das auch zum Lerchenhof gehörte. In manchen Zimmern brannte Licht, obwohl es draußen schon hell war. Die Patienten machten sich fertig für einen weiteren Tag voller Therapien und Gespräche. Manche von ihnen hatte ich in meiner Zeit hier näher kennengelernt. Wir waren eine nette, kleine Familie, wenn auch nur auf Zeit. Jeden Morgen wurden wir um sieben Uhr geweckt, falls wir nicht schon auf waren. Wir mussten uns fertig machen und dann in den Gemeinschaftsraum zum Frühstück kommen. Danach konnte man alle möglichen Arten von Therapien machen: Bewegungstherapie, Kunsttherapie, Gesprächstherapie, einzeln oder in der Gruppe usw. Man konnte frei wählen, aber wenn man einmal eine Therapieform gewählt hatte, musste man sie eine Zeit lang belegen.

      Ich hatte alle zwei Tage eine Sitzung bei Frau Dr. Müller-Bach, die mir sagte, ich solle meine Autobiografie schreiben oder mir wenigstens Gedanken darüber machen, was mir in meinem Leben wichtig sei und das dann aufschreiben. Schreibtherapie nannte sie das. In der Klapse durften wir nicht einmal ein Buch lesen, das über das Niveau von Foto-Love-Storys hinausging, um negative Einflüsse von uns fernzuhalten. Und nun sollten wir in den Abgründen unserer Seele herumfischen. Aber die Psychosomatik war eben etwas anderes. Ich war eine Stufe weiter und wurde auf das Leben draußen vorbereitet.

      Ich sagte gerade, dass ich in der Klapse war. Der Arzt, der mich nach meinem Sprung aus dem Fenster untersuchte und zu seiner Verblüffung feststellte, dass ich körperlich völlig unversehrt war, verfügte die Einweisung auf der Stelle. Ich befand mich damals in einem Zustand, in dem man sowieso alles mit mir hätte machen können. Also warum nicht die Klapse? Bleibt noch zu sagen, warum ich eigentlich unverletzt war. Das lag