Название | Schnulzenroman |
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Автор произведения | Daniel Borgeldt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955756130 |
Ich drückte meine Zigarette am Gitter aus, warf sie drinnen in meinen Papierkorb und begann, meine Sachen zu packen. Es waren nicht besonders viele, aber ich ließ mir Zeit. Dann nahm ich meine Tasche und verließ das Zimmer, das wochenlang mein Zuhause gewesen war. An der Pforte sollte der Arztbrief für mich bereitliegen, sozusagen meine Entlassungspapiere.
»Es wird empfohlen, dass sich der Patient umgehend in ambulante Behandlung begibt. Eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie erscheint ratsam.«
So oder ähnlich hatte es mir tags zuvor Frau Dr. Müller-Bach persönlich gesagt, in ihrem schönsten Chefärztinnenjargon. Ich hatte ihr Büro mit dem guten Gefühl verlassen, noch einmal davongekommen und keiner ihrer verflossenen Ehemänner geworden zu sein.
Ich machte noch einen Abstecher zum Frühstückssaal, den ich als Patient jeden Morgen besucht hatte, entdeckte dort aber keine Bekannten, nur ein paar neue Gesichter. Schnell nahm ich eine Schüssel Müsli und einen Kaffee zu mir und machte mich auf den Weg zur Pforte. Plötzlich stand Jessy mit gepackten Taschen vor mir.
»Ich habe Kurt getroffen. Er hat mir alles erzählt. Ich komme mit dir«, sagte sie.
Ich starrte sie an.
»Und auf den Gedanken, mich zu fragen, ob mir das recht ist, bist du wohl nicht gekommen?«
»Warum soll dir das nicht recht sein? Es ist schließlich nicht dein Haus. Von Kurt habe ich schon das Okay. Ihm ist das alles egal.«
»Mir aber nicht.«
»Was willst du denn bitte schön völlig alleine in diesem Kaff an der Nordsee anfangen?«
»Ich will meine Memoiren schreiben.«
»Na, umso besser. Ich kann dir dabei helfen.«
»Wie willst du mir denn dabei helfen? Für so was braucht man Ruhe und vor allem Einsamkeit.«
»Das hast du wohl in einem Ratgeber für angehende Schriftsteller gelesen, was? Klischeehafter geht’s ja nicht. Du kannst mir auf der Fahrt Anekdoten aus deinem Leben erzählen und ich sag dir dann, welche ins Buch kommen. Außerdem schuldest du mir noch eine Antwort.«
Was sie meinte, war die Antwort auf die Frage, warum ich Schlagersänger geworden war. Jessy war während meines Aufenthalts im Lerchenhof immer wieder darauf zurückgekommen, weil meine erste Antwort sie nicht zufriedengestellt hatte. Irgendwann einmal hatte ich keine Geduld mehr und schrie sie an: »Ist ja gut! Ich sags dir! Weißt du, ich bin niemand, der sich nicht darüber bewusst wäre, dass das, was er gemacht hat, nur Schnulzen waren. Seichte Unterhaltung, die die Leute nach Feierabend hörten, Lieder bei denen sie mitsummten und nicht einmal wussten, wie der Song genau hieß. Aber vielleicht wollte ich noch etwas anderes. Ich wollte die Deutschen, die in der Zeit, als ich anfing, Musik zu machen, hauptsächlich aus Altnazis bestanden, mit meiner Musik zumüllen. Ich wollte ihnen eine heile Welt geben, eine heile Welt, die ihnen vorne und hinten wieder rauskam, die sie retardieren ließ, weil sie es nicht besser verdient hatten, weil sie zugesehen hatten, wie sechs Millionen Juden deportiert und ermordet worden waren, weil sie Hitler gewählt hatten und es immer wieder getan hätten. Deshalb habe ich begonnen, Schlager zu machen.«
Nach diesem Ausbruch ließ sie mich eine Weile in Ruhe. Aber bald kam sie wieder und ihre Fragerei nach Details wurde noch bohrender, besonders, weil ich einmal erwähnt hatte, dass ich nicht mit Schlagern angefangen hatte. Eine Zeit lang wollte ich nichts lieber machen als Serielle Musik. Diese Musikrichtung, die man kaum hören kann, in der Nachfolge der Zwölftonmusik, deren Stücke so Namen haben, wie Subtraktion 33, Molekül XII–XXIII oder Dienstag aus Licht.
Wir standen also beide mit gepackten Taschen voreinander.
Ich seufzte. »Aber du bist hier doch noch gar nicht fertig. Soweit ich weiß, hast du noch mindestens eine Woche vor dir.«
»Das stimmt. Aber das ist alles schon geregelt. Ich gehe auf eigene Verantwortung. Das ist ja kein Knast hier.«
Damit hatte Jessy natürlich Recht. Wir konnten jederzeit auf eigenen Wunsch den Lerchenhof verlassen, wenn wir wollten. Es schien, als gab es keine Möglichkeit, das Drohende zu verhindern.
Aber ich blieb unerbittlich: »Nein Jessy, keine Chance. Ich gehe alleine. Du kannst mich nicht umstimmen. Es gibt nichts, was du sagen kannst, um das zu ändern.«
2
»Also, erzähl mir was über deine Eltern. Damit könnten wir anfangen«, sagte Jessy neben mir auf dem Beifahrersitz. Wir waren bereits auf der Autobahn und hatten unsere Verfolger abgehängt. Zumindest schien es so.
Als wir nämlich an der Pforte des Lerchenhofs meinen Arztbrief abholten und uns von Johann, dem Pförtner, verabschiedeten, sagte dieser, dass zwei Herren nach mir gefragt hätten und deutete auf den Parkplatz der Klinik. Dort stand ein ziemlich auffälliger schwarzer Oldtimer, ein Sportwagen und darin zwei Männer, ein älterer mit Vollbart und ein jüngerer, der, wie ich flüchtig schätzte, in den Dreißigern war. Beide beobachteten die Pforte und gerieten, als sie uns sahen, in Bewegung. Der Ältere wollte die Beifahrertür öffnen, aber sie schien zu klemmen. Daraufhin versuchte er, bei dem jüngeren Mann auszusteigen, der aber zu spät reagierte, weil er mit seinem Smartphone beschäftigt war. Der Alte wollte sich an ihm vorbeiquetschen, aber da er ein wenig übergewichtig war, dauerte das alles sehr lange, sodass ich Zeit hatte, schnell zu dem wartenden Taxi zu laufen, das Gepäck einzuladen, einzusteigen und davonzufahren. Im Vorbeirennen fiel mir auf, dass das Auto der beiden ein Facel Vega war, das gleiche Modell, in dem Camus vom Sohn seines Verlegers Gallimard zu Tode gefahren worden war.
Jessy blieb die ganze Zeit an meiner Seite, sprang wortlos ebenfalls ins Taxi und fuhr mit mir zusammen zu dem Parkplatz, auf dem mein Mercedes 200 auf mich wartete. Als wir den Parkplatz in meinem Wagen verließen, stellten wir fest, dass der schwarze Facel Vega es geschafft hatte, uns aufzuspüren. Auf der Autobahn schienen wir ihn allerdings abgehängt zu haben. Ich hielt unsere Verfolger für Presseleute, die nach meinem Suizidversuch an einer Titelstory mit mir für irgendein Boulevardblatt interessiert waren.
»Also gut«, seufzte ich. »Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn wir diese Fahrt schon zusammen machen, was du einfach so beschlossen hast, dann können wir uns auch unterhalten. Aber unterhalten bedeutet, dass beide sprechen. Ich erzähle dir etwas aus meinem Leben und du mir etwas aus deinem. Einverstanden?«
»Okay, einverstanden. Also, das Wichtigste von mir zuerst: Ich bin schwanger.«
Diese Nachricht brachte mich völlig aus dem Konzept, wie man sich vorstellen kann, und ich war froh, dass ich keinen Unfall baute. Ich stellte ihr einige Fragen dazu, besonders was sie denn jetzt weiter vorhabe. Aber sie winkte ab.
»Nein, nein, nein. Jetzt bist du erst mal dran. Das musst du erst mal einholen. Also: Wer und wie waren deine Eltern?«
Die Geschichte kennt Gewinner und Verlierer. Möchte man manchmal glauben. Aber es gibt natürlich auch Gewinner, die Verlierer waren und umgekehrt. Als ich jung war, war Heinrich Lübke Bundespräsident. Man möchte meinen, ein Gewinner. Aber Lübke kennt man heutzutage nur noch durch seinen Spruch: »Meine Damen und Herren, liebe Neger!« Also was für ein Gewinner ist ein Bundespräsident, den man nur noch durch den rassistischen Anfang einer Rede kennt?
Oder man denke an den Fürsten von Pückler, ein seinerzeit sehr erfolgreicher und gebildeter Literat, der auch berühmte Landschaftsgärten entwarf und baute. Heute sieht man seinen Namen ziemlich häufig in Gefriertruhen im Supermarkt.
Meinen Vater kennt kaum noch jemand, obwohl er früher sehr berühmt war. Und das ist wahrscheinlich auch besser so. Mein Gesangstalent liegt nämlich in der Familie. Georg Fraunhofer war Schlagersänger, aber in erster Linie Schauspieler. Er war auch der Grund, warum ich einen Künstlernamen annahm. Er muss ein träumerisches Kind gewesen sein, 1910 im Rhein-Main-Gebiet als Sohn eines Winzers geboren, begeisterte er sich als junger Mann für die Romantik, träumte davon, Künstler zu werden und nach Italien auszuwandern. Er zitierte immer Gedichte aus Des Knaben Wunderhorn