Schnulzenroman. Daniel Borgeldt

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Название Schnulzenroman
Автор произведения Daniel Borgeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756130



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gesprungen bin. Das Fenster war geöffnet, weil es schon spät abends und der Wellness-Bereich geschlossen war. Das Reinigungspersonal war gerade dabei sauberzumachen und ein wenig zu lüften. Als sie meinen Sprung live miterlebten, riefen sie sofort ihren Chef und den Notarzt an. Dafür, dass sie mit Sicherheit unterbezahlt waren, waren sie sehr pflichtbewusste Leute.

      Nach drei Monaten in der geschlossenen Psychiatrie wurde ich der Psychosomatik überstellt und landete im Lerchenhof. An meinem ersten Tag fragte mich eine der Mitpatientinnen, warum ich dort sei. Ich sah keinen Grund, zu lügen und so erzählte ich ihr von meinem Sprung. Sie sagte daraufhin, dass das der wohl schlechteste Selbstmordversuch sei, von dem sie jemals gehört habe.

      Der Name der jungen Frau ist Jessy Baumann. Sie ist auch Musikerin, allerdings in einer Punkband, die nur aus Frauen besteht. Jessy bezeichnet sich selbst als Riot Grrrl. Ich weiß nicht, was das ist, aber es scheint ihr sehr wichtig zu sein. Wie viele junge Leute ist sie gepierct und tätowiert. Ihre Haare sind lang und rot gefärbt und an einer Seite abrasiert. Als wir uns gleich am ersten Tag kennenlernten und sie sich über meinen Suizidversuch lustig machte, fragte ich sie, warum sie denn bitte schön hier sei. Sie antwortete, sie habe versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ich wollte ihr irgendwie heimzahlen, dass sie sich über mich lustig gemacht hatte und fragte sie, was denn passiert sei, dass es bei ihr nicht geklappt hatte. Sie antwortete, sie habe es einfach nicht ernst genug gemeint.

      Im Laufe der nächsten Wochen lernte ich Jessy besser kennen. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt und könnte damit natürlich gut und gerne meine Tochter sein. Sie kommt aus Ludwigshafen und ihr Vater ist Ingenieur bei der BASF. Nach dem Abitur ging sie nach Berlin und schrieb sich für Germanistik und Philosophie an der Humboldt-Universität ein. Nebenbei jobbte sie als Kellnerin und begann als Gitarristin in Punkbands zu spielen. Inzwischen hat sie ihre eigene Band gegründet, die The Paloma Pussys heißt. Warum sie sich dann aber plötzlich das Leben nehmen wollte, sagte sie mir nicht, obwohl ich sehr offen ihr gegenüber war. Nicht, dass ich glaube, man braucht dafür unbedingt einen guten Grund, aber bei Jessy hatte ich irgendwie das Gefühl, dass etwas mehr dahinter steckte. Und das war bestimmt mehr, als herausgefunden zu haben, dass das Leben sinnlos ist.

      Ich habe ganz vergessen zu erwähnen, wie ich auf Jessy aufmerksam wurde. Sie saß auf einer Bank im Park, der zum Lerchenhof gehörte, und las ein Buch. Ich bemerkte im Vorbeigehen zufällig den Titel. Es war Die Vernichtung der europäischen Juden von Raul Hilberg. Ich stand wohl ein bisschen zu lange da, denn schließlich senkte sie das Buch, blickte mich an und fragte: »Is was?«

      Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also meinte ich: »Ein interessantes Buch lesen Sie da.«

      »Ach das, ja«, antwortete sie, worauf eine längere, unangenehme Pause entstand.

      Schließlich versuchte ich einen Witz zu machen, um das Schweigen zu brechen: »Ich dachte, Ihre Generation interessiert sich nur für Pornos und Videospiele.«

      Jessy sah mich an und antwortete: »Und ich dachte, Ihre Generation interessiert sich nur für Schlager.«

      Ich war ziemlich überrascht. »Kennen Sie mich?«, fragte ich.

      Sie grinste.

      »Ich war mir erst nicht sicher. Aber doch, ja. Du bist dieser Schlagertyp. Ist doch okay, wenn ich dich duze? Wir sind doch alle gleich hier?«, meinte sie grinsend und redete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten: »Meine Oma hatte eine Plattensammlung mit Schlagern. Auf dem einen Cover war ein Foto von dir. Die goldenen Hits der 70er oder so ähnlich. Als Kind habe ich, zusammen mit meinen Cousins, bei Familienfesten aus Langeweile immer die Plattensammlung durchgehört und mir die Cover angeschaut. Dein Gesicht war eins von denen, an die ich mich irgendwie erinnere. Du warst damals natürlich viel jünger und hattest auch keine langen Haare und keinen Bart. Darum war ich mir auch erst nicht sicher.«

      Jessy hatte Recht, nicht nur was das Alter anging. Äußerlich hatte ich mich seit den Siebzigern so verändert, dass ich dachte, kaum jemand könnte mich von alten Fotos wiedererkennen. Seit vielen Jahren ließ ich mein Haupt- und Barthaar wachsen, so dass ich aussehe, wie ein alter Einsiedler, ein Waldschrat. Ich habe frappierende Ähnlichkeit mit Lee Marvin, dem Lee Marvin aus dem Westernmusical Paint your waggon, der Wandrin’ Star sang.

      Ich setzte mich und wir redeten weiter. Jessy stellte mir im Laufe unseres Aufenthalts häufig Fragen, die eindeutig unter die Gürtellinie gingen. Sie benahm sich unmöglich. Sie sagte so Sachen wie: »Wenn ich ein Schlagerstar wäre, würde ich nichts anbrennen lassen und ordentlich durch die Gegend vögeln. Wie viele Groupies hast du denn so gebumst?« oder: »Du scheinst ja irgendwie ganz vernünftig zu sein. Wie bist du denn darauf gekommen, Schlager zu machen?«

      Auf die letzte Frage antwortete ich ihr: »Ich musste von irgendetwas leben und zu allem anderen besaß ich kein Talent.«

      Ich fand meine Antwort ziemlich gut, aber sie schien nicht zufrieden zu sein.

      »Ich glaub nicht an so was wie Talent«, sagte sie. »Wenn man etwas häufig genug gemacht hat, dann kann man das irgendwann richtig gut. Ich zum Beispiel hab ein paar Songs geschrieben, die wirklich Scheiße sind, aber ich weiß, wenn ich genau da weitermache, werde ich immer besser.«

      »Ich wusste nicht, dass es beim Punk darum geht, möglichst gut zu sein«, meinte ich, um sie zu ärgern.

      »Was weißt du denn bitte schön von Punk?«

      Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung davon. Ich wollte mir aber vor ihr keine Blöße geben, also packte ich ein paar rudimentäre Kenntnisse aus.

      »Mein liebes Kind, 1979, im Hochjahr von Punk, war ich 34 Jahre alt und du noch nicht mal geboren. Ich weiß sehr gut, was Punk ist. Und die Sache mit dem Talent. Na ja. Irgendwas muss da auf jeden Fall dran sein. Ich geb’ dir ein Beispiel. Du kennst doch bestimmt Tolstoi? Dann weißt du vielleicht auch, dass er in seinen späten Jahren versucht hat, ein einfaches Leben auf dem Land zu führen und seine Hausangestellten als gleichberechtigt behandelt hat, was damals im zaristischen Russland ungefähr so obszön war, wie heute, Tierpornos zu drehen. Auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit begann er Schuhe zu machen. Aber er machte es so schlecht, weil er sein ganzes Leben lang nie körperlich oder handwerklich gearbeitet hatte, dass sein Hauspersonal und seine Familie alle nur aus Höflichkeit die Schuhe trugen, die er für sie gemacht hatte. Der vielleicht größte Romancier der Weltliteratur war also gleichzeitig der schlechteste Schuhmacher weit und breit. Was ich meine ist nur, manche Leute sollten einfach bei dem bleiben, was sie richtig gut können und wofür sie Talent haben.«

      Man kann sich an dieser Stelle fragen, woher ein Schlagersänger das alles weiß? Na ja, nur weil ich mit Schnulzen ein Vermögen verdient habe, bedeutet das nicht, dass ich ungebildet bin! Aber in diesem Fall hatte mir Kurt diese Anekdote kurz vorher erzählt.

      Nach diesem Gespräch herrschte eine Weile Stille zwischen uns. Als ich sie ein paar Tage später traf, sprach sie mich auf diese »Tolstoi-Sache« noch einmal an und meinte: »Wenn er lange genug geübt hätte, wäre er sicher ein super Schuhmacher geworden. Es war für ihn nur leider ein bisschen zu spät.« Sie ist so stur!

      An meinem letzten Tag im Lerchenhof hatte ich keine Termine. Das Abschlussgespräch mit Frau Dr. Müller-Bach hatte am vorigen Tag stattgefunden. Sie ist ungefähr zehn Jahre jünger als ich, mit einem strengen Zug um den Mund, halblangen, ergrauten Haaren und einem stechenden Chefärztinnenblick. Bei unserer letzten Sitzung war sie jedoch sehr herzlich zu mir und verabschiedete sich vielleicht ein wenig zu überschwänglich, dafür, dass sie meine Therapeutin war. Frau Dr. Müller-Bach hat ihren Doppelnamen von ihren beiden geschiedenen Ehemännern. Sie sagte mir, sie habe immer noch Kontakt zu beiden und sie seien immer noch sehr nett. Das nenne ich mal Treue bis in den Tod. Bleibt abzuwarten, was sie von ihrem jetzigen Mann behalten wird. Ich dachte, dass ich das auf jeden Fall nicht mehr miterleben werde, denn gleich sollte ich durch das Tor des Lerchenhofs gehen und nie wiederkommen. Mein alter Mercedes war auf einem bewachten Parkplatz nicht weit weg geparkt. Ich wollte mit einem Taxi dorthin fahren und mich auf den Weg nach Trangast machen. So hieß die kleine Küstenstadt an der Nordsee, wo Kurts Haus stand. Ich wusste nichts über dieses Kaff, nur dass es dort dieses Haus gab, in dem ich dann meine Memoiren schreiben wollte. Jawohl,