Schnulzenroman. Daniel Borgeldt

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Название Schnulzenroman
Автор произведения Daniel Borgeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756130



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an meinen Vater. Der ist, wenn wir in Urlaub gefahren sind und im Stau standen, auch immer ausgerastet.«

      Ich sagte, dass das nicht meine Absicht gewesen sei und um von meinem Ausbruch abzulenken, fragte ich sie noch einmal, wie sie denn nun eigentlich in den Lerchenhof gekommen war.

      Es entstand eine kurze Pause, während der Jessy aus dem Fenster schaute. Ich dachte schon, sie würde nichts mehr sagen, da meinte sie plötzlich:

      »Okay, na gut. Ich seh’ ja ein, dass ich auch mal mehr von mir erzählen muss. Weißt du, was du eben über deine Eltern gesagt hast, kenne ich irgendwie. Zumindest, was die Erwartungen angeht. Als ich nach Berlin ging, war meine Mutter enttäuscht und mein Vater sah es als persönliche Beleidigung an. Sie glaubten wirklich, dass ich in Ludwigshafen bleiben und so ein Leben wie sie führen würde. Um sie zu beruhigen, schrieb ich mich für dieses Studium ein und sagte ihnen, ich wolle Lehrerin werden.«

      An dieser Stelle unterbrach ich sie mit hysterischem Gelächter.

      »Haben sie dir das geglaubt?«, fragte ich.

      »Ich denke, sie wollten es glauben. War mir im Grunde aber scheißegal. Ich wollte einfach nur weg; weg von ihnen und weg aus Ludwigshafen. Ich meine, als Kind war ich immer auf den Gartenpartys von Hannelore Kohl. Die hat solche Kinderfeste organisiert, wahrscheinlich, weil sie so alleine war und man so was als Kanzlergattin wohl macht. Traurig, aber total durch! Egal. Ich ging also nach Berlin, fand über Freunde, die dort wohnten, eine günstige Einzimmerwohnung in einem Hinterhaus in Friedrichshain und suchte mir einen Job in einer Bar, wo auch Konzerte stattfanden. Ich stieg bei verschiedenen Bands ein und gründete dann meine eigene. Ich weiß nicht, ob ich es schon mal erwähnt hab, aber ich mache schon seit ich fünfzehn bin Musik und schreibe selber Songs. Damals in Berlin, das war eine gute Zeit. Ich meine, ich war frei, ging viel feiern, trank ziemlich viel Alkohol und«, sie zögerte kurz, »nahm andere Substanzen.«

      »Du brauchst mich gar nicht so schräg anzugucken«, meinte ich. »Ich war zwar Schlagersänger, aber wenn du wüsstest, was ich in den Siebzigern alles so getrieben habe … Also, erzähl einfach weiter.«

      »Eines Abends war ich auf dieser Party in Kreuzberg. Da sah ich ihn. Er stand am Fenster, rauchte einen Joint und unterhielt sich. Je länger ich ihn heimlich beobachtete, desto besser gefiel er mir. Ich war allerdings auch schon ziemlich druff. Na ja, also, ich drängte mich ins Gespräch, eins kam zum anderen und morgens gingen wir zusammen nach Hause. Natürlich vögelten wir. Ich kann mich aber kaum dran erinnern. Anscheinend hatten wir nicht verhütet, jedenfalls blieb einige Zeit später meine Regel aus und ich machte einen Schwangerschaftstest, der positiv war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Stundenlang saß ich einfach nur da. Ich mochte mein Leben, ich mochte meinen Job als Barkeeperin, meine Band. Ich mochte Berlin, den Dreck und die Drogen. Ein Kind passte da einfach nicht rein.«

      »Und warum hast du nicht abgetrieben?«, fragte ich Jessy.

      »Weiß ich selber nicht genau. Ich wollte kein Kind, aber ich wollte auch nicht abtreiben. Ich hatte noch so viele Dinge vor. Habe ich immer noch. Ich betrank mich sinnlos und hoffte, dass das Kind von alleine weggehen würde. Was es natürlich nicht tat. Ich war total fertig und dann sah ich irgendwann plötzlich dieses Messer und dachte, dass das die beste Lösung sei. Mein Kind hätte keine Mutter, die es nicht wollte, und mir würde ich auch den ganzen Scheiß ersparen. Aber dann, noch während das Blut aus der Wunde lief, wählte ich die Nummer vom Notarzt, der mich verband und dann in die Klapse einwies. Du siehst also, ich hab es nicht ernst genug gemeint. Schon als ich den Notruf wählte, war mir vollkommen klar, dass das, was ich getan hatte, richtig mies und scheiße gewesen war. Und, ich weiß auch nicht wie, aber plötzlich wollte ich dieses Kind. Mehr als alles andere auf der Welt.

      In der Klapse durfte man keinen Besuch bekommen. Aber nachdem ich in den Lerchenhof kam, besuchten mich meine Eltern einmal. Ich hatte das Gefühl, sie schämten sich vor den Pflegern und den Ärzten dafür, dass ihre Tochter so etwas getan hatte. So was Beknacktes! Sie fragten mich nach dem Vater. Ich sagte ihnen, sein Name sei König Drosselbart und sie sollten mich in Ruhe lassen. Mein Vater sprach die ganze Zeit fast kein Wort. Er ließ nur durchblicken, dass er den Platz im Lerchenhof für mich organisiert hatte und bezahlte. Wahrscheinlich wollte er sich nicht nachsagen lassen, seiner Tochter nicht das Beste vom Besten bieten zu können. Oder was weiß ich. Und das ist alles, was ich dazu sagen kann.«

      Nach dieser Beichte schwiegen wir eine Weile. Ich sah auf die verstopfte Autobahn. In einem Wagen vor uns stritten sich zwei Kinder. Man sah nur zwei schemenhafte Gestalten, die wild mit den Händen fuchtelten, wie in einem Schattentheater.

      »Und hast du mit König Drosselbart mal drüber gesprochen?«

      »Nein. Aber das ist auch nicht nötig. Ich werde das Kind alleine aufziehen. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass Drosselbart kein Interesse daran hätte.«

      »Eine Frage noch: Warum nennst du ihn König Drosselbart?«

      »Als ich noch klein war, hat meine Mutter mir immer dieses Märchen vorgelesen. Es geht da ja um eine Prinzessin, die verheiratet werden soll, aber sich über alle Männer lustig macht. Ihr Vater gibt sie dafür zur Strafe einem Bettler zur Frau, der sie die schwersten Arbeiten machen lässt. Am Ende stellt sich heraus, dass dieser Bettler König Drosselbart ist. Er hatte sich verkleidet, um sich dafür zu rächen, dass sich die Prinzessin über sein Aussehen lustig gemacht hatte. Sie sieht ihren Fehler ein und die beiden heiraten und werden glücklich und so weiter. Meine Mutter meinte immer, die Moral von der Geschichte sei, dass man die Leute so nehmen soll, wie sie sind. Und das wollte ich ihnen damit auch sagen. Wenigstens meine Mutter hätte das verstehen können. Von meinem Vater erwarte ich so was gar nicht. Aber sie hat’s auch nicht kapiert oder nicht kapieren wollen. Das ist das eine. Aber ich sag dir, warum ich dieses Märchen, trotz der patriarchalen Scheiße, die da abläuft, noch gerne mag.«

      »Ich bin ganz Ohr.«

      »Es will uns sagen, dass die Menschen häufig vorgeben zu sein, was sie gar nicht sind, dass wir alle Verstecken spielen und etwas zu verheimlichen haben, wie König Drosselbart, um sich zu rächen oder aus welchen Gründen auch immer.«

      Ich fragte mich gerade, wie oft ich in meinem Leben Verstecken gespielt hatte, da meinte Jessy:

      »Aber erzähl mal weiter. Du hast zum Beispiel noch nichts über Amadeus’ Eltern erzählt.«

      Amadeus kam aus einer Industriellenfamilie. Sein Vater hatte sich unter den Nazis ein Firmenimperium errichtet und dabei natürlich Anteile von Juden für einen Spottpreis aufgekauft. Am Anfang sprachen wir häufiger über unsere Eltern. Er sagte so Sachen wie: »Diese ganze Generation gehört eigentlich weggesperrt.« Oder: »Ich habe beschlossen, meine Eltern auf meine Art und Weise zu bestrafen, da es ja sonst niemand tut. Ich werde Künstler und sie sollen für mich zahlen.«

      Sein Vater war ein großer Mozart-Fan und er hatte sich gegen Amadeus Mutter bei der Namensgebung durchgesetzt (Amadeus: »Allein dafür gehört er schon bestraft!«).

      Weihnachten kam. Ich besuchte meine Mutter. Sie wollte mit mir ins Weihnachtsoratorium, also tat ich ihr den Gefallen – nicht, dass es eine Alternative gegeben hätte. Sie duldete keinen Widerspruch und zahlte mir die Miete.

      Halb Mainz schien zu der Aufführung gekommen zu sein. Im Publikum entdeckte ich Dr. Rickert, den Arzt von der Krebsstation aus dem Krankenhaus. Ich grüßte ihn und er nickte freundlich zurück. In der Pause unterhielt ich mich ein wenig mit ihm. Er machte auf mich einen guten Eindruck, schien seine Opiataffinität abgelegt zu haben. Was mir allerdings auffiel, war, dass er während der Pause ziemlich viel Alkohol trank. Meine Mutter kam dazu, ich stellte die beiden einander vor und wir plauderten eine Zeit lang zu dritt über Belanglosigkeiten.

      Als die Aufführung weiterlief, beobachtete ich meine Mutter aus dem Augenwinkel und musste an Amadeus’ Worte denken. Ich versuchte, sie mir in einem Gefängnis vorzustellen, in Sträflingskleidung. Es war unmöglich. Sie würde versuchen, die anderen Gefangenen für sich arbeiten und sich bedienen zu lassen. Ich konnte sie mir einfach nicht ohne Anna, ihr Hausmädchen, vorstellen, die immer noch bei ihr war und sie wahrscheinlich bis zu ihrem Tod begleiten würde. Meine Mutter saß da, in ihrem Pelz und mit