Schnulzenroman. Daniel Borgeldt

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Название Schnulzenroman
Автор произведения Daniel Borgeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756130



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ein dicker, alter Nazi, der auch noch Wagner hieß. Sein Spezialgebiet war Bach. Der Unterricht war zweigeteilt. Morgens besuchte man die musiktheoretischen Seminare und nachmittags übte man. Professor Wagner war ein Bekannter meiner Mutter, was noch einmal ein ganz anderes Licht auf meine Aufnahme warf. Er schien mich besonders freundlich und aufmerksam zu behandeln, sowohl im Seminar als auch in den Übungsstunden. Er sah über meine Fehler hinweg und ermunterte mich immer wieder in einem breiten Hessisch, mir beim Kontrapunkt mehr Mühe zu geben oder mich auch schon einmal an die Fuge zu wagen. »Es is noch kei Meiste vom Himmel gefalle, junge Mann. Aber übe, übe, übe. Des is des wischtischste.«

      Ich kann nicht sagen, dass ich ein besonders begabter Schüler war, aber ich war auch nicht der schlechteste. So sah mein Leben damals aus und ich fühlte mich, als hätte ich gerade meinen ersten Arbeitstag in einer Konservenfabrik begonnen und mir wäre klargeworden, dass ich mindestens die nächsten fünfzig Jahre nichts anderes tun würde als Tag für Tag Konserven herzustellen. Mit den meisten anderen Studenten verband mich wenig, bis auf eine Ausnahme, aber dazu komme ich gleich.

      Man hätte meinen können, dass ich auf meinen Vater angesprochen worden wäre, aber der Bekanntheitsgrad Georg Fraunhofers schwand ziemlich schnell und bald konnten sich nur noch die Älteren an ihn erinnern. Er war eben eine temporäre Erscheinung gewesen.

      Aus Langeweile begann ich, mich in den Jazzlokalen der Stadt umzusehen. Jazz war damals für die meisten Mozart- und Beethoven-Hörer immer noch nur »Neger-Musik«, künstlerisch-wertlos. Aber die Jugend hatte ihn schon lange für sich entdeckt und das bedeutet immer, dass der Erfolg vorgezeichnet ist. Ich betrank mich fast jeden Abend in einem der Jazz-Keller der Stadt.

      Im Konservatorium besuchte ich auch Veranstaltungen, die keine Verpflichtung nach sich zogen, also für meinen Abschluss keine Rolle spielten. Eine dieser Veranstaltungen war die des Privatdozenten Alfred Oppermann. Oppermann war Jude und 1960 aus den USA remigriert. Es hieß, er habe während des Krieges in Kalifornien bei Arnold Schönberg und Hanns Eisler studiert. Man sah ihn immer allein auf dem Gelände des Konservatoriums herumspazieren. Von den anderen Dozenten war er isoliert, wahrscheinlich weil er Jude war und eine wandelnde Erinnerung an die zwölf Jahre, die auch die Nazis inzwischen die »schlimme Zeit« nannten.

      Er war der erste Intellektuelle, den ich kennenlernte. Wenn er redete, schien es, als sei alles andere, was uns sonst so beigebracht wurde, bedeutungslos zu sein. Sein Spezialgebiet war die deutsche Romantik. Aber in seinen Seminaren ging es auch viel um Zwölftonmusik. Er war ein hochgewachsener, dünner Mann mit einem Hang zur Schlaksigkeit, meistens trug er einen Anzug mit Schlips und Kragen, einen schwarzen Mantel, im Sommer Jackett, mit einem weißen Schal und einem breitkrempigen Hut, der ein wenig an einen Schäfer erinnerte. Wenn man ihn auf der Straße traf und er einen erkannte, was im ersten Semester bei ihm grundsätzlich nicht vorkam, grüßte er kurz, indem er seine Hand an die Krempe des Hutes legte und irgendetwas Ulkig-Altmodisches sagte, wie: »Habe die Ehre« oder »Ihr Diener, mein Herr«. Er gab ein Seminar zum romantischen Kunstlied. Aber eigentlich redete er ebenso über alles andere. Er sprach über Schumanns Klavierstücke und wechselte plötzlich zum Bau der Sonate überhaupt, die er mit Beispielen von Clementi, Mozart und Haydn untermalte, welche er am Klavier vorspielte. Plötzlich dozierte er in der gleichen Sitzung über die Instrumentalwerke von Brahms und Bruckner, stellte Bezüge zu Beethoven her und zu Wagner und erklärte die Unerklärbarkeit des Tristan-Akkords, erläuterte, warum Mahler so wichtig für die Wiener Schule war und dass ohne ihn Schönberg die Zwölftontechnik gar nicht hätte entdecken können. Dies alles in einem rasanten Tempo, dem für einen Studiumsneuling schwer zu folgen war. Es waren häufig nur zehn oder zwölf Studenten in seinem Seminar. Einer davon war Amadeus Schneider.

      Am Anfang fiel er mir eigentlich nur dadurch auf, dass er meistens fünf Minuten zu spät kam, mit brennender Zigarette im Mundwinkel, was damals niemanden störte. Er setzte sich dann ganz hinten auf einen alleinstehenden Stuhl und blieb dort unbeweglich sitzen bis zum Ende des zweistündigen Seminars, das immer Freitagabends um 18 Uhr cum tempore anfing. Auf mich wirkte dieses Verhalten sehr arrogant, bis ich einmal im Vorbei gehen bei ihm eine stechende Alkoholfahne wahrnahm. Ich konnte es kaum glauben, dieser Student kam einfach besoffen zum Seminar, blieb dabei die ganze Zeit ruhig sitzen und beteiligte sich nicht. Wir anderen beteiligten uns übrigens auch nicht, weil das Seminar darin bestand, dass Oppermann redete und dabei Beispiele am Klavier vorführte. Nur einmal erinnere ich mich, dass ein Student, ein Erstsemester, sich während des Oppermannschen Vortrags meldete und eine Frage, ich glaube, zu einer Brahmsschen Sinfonie, stellte. Nach dem Seminar bedankte sich Oppermann für die »rege Diskussion diesmal«.

      Amadeus, dessen Namen ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, hatte also meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich stellte bald fest, dass er fast jedes Mal, wenn ich ihn im Seminar sah, eine Alkoholfahne hatte. Ich achtete verstärkt darauf und, sobald ich in seine Nähe kam, zog ich die Luft tief ein, um festzustellen, ob es diesmal wieder so sei und lernte dabei bald verschiedene Alkoholausdünstungen zu unterscheiden. Ich roch Whisky und Kirschwasser, Birnenbrand und Mirabelle, Bommerlunder und Korn. Dieser Student genehmigte sich kurz vor dem Seminar also noch schnell einen Drink. Den Kommilitonen schien nichts aufzufallen, jedenfalls bemerkte ich bei ihnen nichts, was darauf schließen ließ. Sie ignorierten ihn sowieso kollektiv. Sein Verhalten erregte bei mir keine Empörung, schließlich war ich ja auch häufig abends betrunken, wenn auch nicht im Seminar. Ich war eher neugierig. Im Laufe des Semesters rückte ich immer weiter nach hinten, da ich immer besessener davon wurde, zu erraten, was er diesmal getrunken hatte. Kurz vor den Weihnachtsferien fand ich mich, ohne dass ich es beabsichtigt hatte, auf dem Stuhl neben ihm wieder. Und dann geschah es. Er stieß mich mit seinem Fuß leicht ans Bein, fasste, als ich zu ihm sah, schnell in die Innentasche seines Jacketts und schob mir mit einem Grinsen heimlich einen Flachmann zu. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber da ich nicht unhöflich sein wollte, nahm ich einen schnellen Schluck, während Oppermann vorne erklärte, warum Beethoven die Sonatenform an ihr Ende geführt hatte. Ich konnte nicht genau unterscheiden was es war, aber ich tippte auf eine Art Obstbrand, unterdrückte ein Husten und gab ihm den Flachmann zurück.

      Als das Seminar aus war, umringten die anderen Studenten wie immer Oppermann und stellten ihm auf dem Weg nach draußen Fragen. Ich hielt mich abseits und entdeckte, als wir aus dem Konservatorium kamen, meinen trinkfesten Stuhlnachbarn, der vor mir den Raum verlassen hatte, an einer Ecke stehend und scheinbar auf mich wartend, denn er steuerte, als er mich sah, direkt auf mich zu.

      »Hallo. Amadeus. Amadeus Schneider«, stellte er sich vor.

      »Heinrich Fraunhofer.«

      »Aber nicht der Fraunhofer?«, fragte er.

      »Du meinst wahrscheinlich meinen Vater. Das wundert mich. Du bist der erste, den ich in Frankfurt treffe, dem dieser Name noch etwas sagt.«

      »Das liegt daran, dass ich so gebildet bin«, erwiderte er. »Was hältst du vom Seminar?«

      »Na ja. Es ist recht …«, ich suchte das richtige Wort, »… eigen.«

      Er lachte. »Das kann man wohl sagen.«

      Dann deutete er mit dem Kopf in Richtung des von Studenten umringten Oppermann, der gleich um eine Ecke verschwunden war.

      »Es heißt, die Nazis hätten seine ganze Familie umgebracht. Warum ist er wohl zurückgekommen?«

      Es wirkte nicht so, als hätte er diese Frage an mich gerichtet. Er schien jedenfalls keine Antwort zu erwarten. Ich hätte sowieso keine gehabt. Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, meinte er schließlich: »Komm, ich hab Durst. Gehen wir was trinken.«

      Ich wollte erst Nein sagen, aber dann fiel mir kein Grund ein, der dagegen sprach. Also ging ich mit. Wir nahmen den nächsten Bus und stiegen an der Alten Oper aus. Amadeus wollte in den Club Voltaire, den es damals noch nicht so lange gab. Ich kannte mich nicht aus, also ging ich einfach hinterher. Der Club war noch nicht das, was später aus ihm wurde. Aber man traf dort auch 1966 schon viele linke Studenten, die endlose politische Debatten führten und Gruppen gründeten, die dann wieder aufgelöst wurden, da sich manche Mitglieder abspalteten. Ich war während meiner Zeit in Frankfurt sehr häufig dort, habe aber selten einen wirklich prominenten Vertreter der späteren 68er getroffen. Ein Bekannter von mir