Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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hineinblicken – es war eine richtige Höhle. Boris glitt hinein, und auch für Aurel war noch genügend Platz darin.

      „Hier kann uns niemand entdecken“, flüsterte Boris, als lauschten und lauerten überall unsichtbare Feinde.

      „Aber wie soll denn jemand herkommen, ohne Boot?“ fragte Aurel verwundert.

      „Die Indianer können doch schwimmen“, versicherte Boris und spähte unruhig durch eine Spalte über den See. Aber nirgends war etwas Verdächtiges zu entdecken. „Und dies ist mein Speer“, fuhr er fort und griff nach einer langen, geraden, vorn zugespitzten Erbsenstange, „und du mußt heute auch einen bekommen!“

      „Und was machen wir mit dem Speer?“ fragte Aurel benommen.

      „Wir kämpfen“, erklärte Boris.

      „Gegen wen?“

      „Gegen den Feind!“

      „Und wer ist der Feind?“

      „Das wirst du schon sehen!“

      Boris nahm den Speer, und beide kletterten wieder aus der Höhle heraus. Und als Aurel vom Gärtner auch eine solche Waffe erhalten hatte, begaben sich die Jungen auf den Kriegspfad. Lange schlichen sie hinter dem Stall, beim Teich, an der Gartenmauer herum, aber nirgends war ein Feind zu entdecken. Da plötzlich stürzte Boris mit wildem Geschrei, den Speer schwingend, in einen Cyrenenbusch, und gleich darauf schoß ein rostbrauner Hahn mit gesträubten, zerzausten Federn schrill krächzend über den Rasen. Das war eine aufregende, grausame Jagd. Manchmal setzte sich sogar der gereizte Gockel mit aufgeplusterten Flügeln zur Wehr. Nur dieser abgehetzte, cholerische, wütende Hahn war der Feind – die anderen Hähne und Hühner wurden niemals gejagt.

      Und dann gab es noch ein paar Bauernjungen, mit denen Krieg geführt wurde. Sie waren in großer Überzahl, auch sicher stärker, trotzdem ergriffen sie nach kurzem Kampf immer die Flucht: sie wagten es nicht, die beiden „Jungherren“ richtig anzupacken. Selbst wenn Boris ihnen wütend befahl: „Ihr müßt ordentlich schlagen!“, knufften sie bloß widerwillig, nur aus Höflichkeit, und grinsten verlegen.

      Auch hier war die Glaswand, die unübersteigbare Mauer, die beide Welten trennte. Ja, hier – das fühlte Aurel – war diese Mauer noch höher, noch dicker als zu Hause in Blumbergshof. Hier lag die eine Welt nicht neben, sondern tief unter der anderen. Gesindestube, Küche, alle Leuteräume befanden sich im Souterrain, nur durch eine Treppe mit der oberen Welt verbunden. Und die Speisen schnurrten sogar ganz allein in einem Aufzug aus der Küche direkt in den Speisesaal; der dicke, behäbige Karel oder der magere Jekab, die beiden Diener, brauchten nur von oben hinunterzurufen, an einer Schnur zu ziehen, und schon kam die dampfende Bratenschüssel heraufgerasselt.

      Unten aber, in der unsichtbaren Tiefe, herrschte Koch Linde, lärmte, kreischte, schwatzte und rannte aufgeregt durcheinander ein ganzes Heer von Küchenmädchen, Hausmägden, Waschweibern, Plättfrauen und Näherinnen, und zum Essen kamen noch viele Leute vom Hof: Garten- und Kutscherjungen, der Viehpfleger, der Vorarbeiter, die Knechte – an zwei langen Tischen wurde gegessen. Nein, hier konnte man sich nicht dazusetzen wie in der Gesindestube in Blumbergshof, hier bekam man kein Stück Schwarzbrot mit Quark darauf – hier ging man fremd, wie ein Wesen anderer Art, an den vielen fremden Gesichtern vorbei, und der schlanke, dunkle Boris sah wie ein kleiner Prinz aus, wenn er die vielen untertänigen Grüße mit einem leichten Kopfnicken erwiderte oder mit einer kurzen Handbewegung irgendeinen Befehl aus der Oberwelt ausrichtete.

      Und Aurel gehörte zu seinem Freund, zu Boris, zur hellen, unbeschwerten, immer heiteren Welt da oben, die durch einen dünnen, aber undurchsichtigen Parkettboden von der Unterwelt getrennt war.

      Hier oben war es immer, als schiene die Sonne, selbst wenn es draußen regnete: so weiß waren die Fenstergardinen, so hell blitzten die Kristalle der Kronleuchter, die silbernen Scheiben der Wandspiegel, so blank schimmerte das immer frisch gebohnerte Parkett. Und auch am Abend war die endlose Flucht der Räume in helles, warmes Licht gebadet: überall leuchteten die weißen Kuppeln der Petroleumlampen, flackerten Kerzen, warfen die Spiegel einander die vielen Lichter zu, so daß alle Dunkelheit der frühen Herbstnächte machtlos draußen blieb hinter den Fenstervorhängen.

      Aber das wunderbarste war, daß diese helle, warme Welt hier oben von einer immerwährenden Musik erfüllt war: Tante Madeleine brauchte gar nicht auf dem Flügel zu spielen und zu singen, auch wenn sie schwieg, fühlte Aurel diese stumme Musik: in Tante Madeleines Gang, in der raschen Bewegung ihrer lebendigen Hände, im Vorbeifliegen und Lachen der Cousinen, in der etwas zur Seite geneigten Haltung von Boris, ja sogar in der belegten Stimme, im festen, elastischen Schritt von Onkel Nicolas.

      Wie plump, wie ungeschickt kam Aurel sich selbst vor; immer fiel es ihm schwer, nach dem Gutenachtsagen allein quer durch den großen Saal und die vielen Zimmer zu gehen: er fühlte, wie die Blicke sich ihm auf den Rücken hefteten, wie die Cousinen sich über sein eckiges, ruckweises Gehen lustig machten – und dadurch wurde sein Gang noch befangener, noch ungelenker. Wenn er doch so werden könnte wie Boris – aber dazu war er wohl zu schwerfällig, zu unbeholfen.

      Und wie war es erst, wenn Tante Madeleine sich an den Flügel setzte, die Ringe abstreifte und ihre lebendigen Hände auf den schwarzen und weißen Tasten hin- und herglitten. Manchmal sang sie sogar in einer fremden, überirdischen Sprache – ob das wohl die Himmelssprache war, von der die Mutter einmal erzählt hatte? Aber das tat sie selten, und jedesmal, wenn sie gesungen hatte, stand Onkel Nicolas von seinem Sessel auf, ging auf sie zu und küßte ihre Hand. Er hob dabei ihren Arm hoch hinauf und neigte nur ein wenig den Kopf.

      Tante Madeleine war einmal – das erfuhr Aurel – eine berühmte Sängerin gewesen, sie hatte in Mailand, Paris und London gesungen, auf Onkel Nicolas’ Schreibtisch stand eine große Photographie von ihr, in einem seltsamen Kostüm mit weißer, hoher Frisur und komisch breitem Rock – aber dann hatte sie allen Ruhm, sogar ihre Muttersprache aufgegeben und Onkel Nicolas geheiratet. Denn sie war Italienerin, und singen konnte sie nur italienisch. Auch beim Sprechen kamen ihr manchmal merkwürdige Worte, die man aber doch gleich verstand, weil nicht nur ihr Mund, sondern auch ihre lebendigen Augen, ihr schmales, bewegtes Gesicht, die immer rasch durch die Luft hüpfenden Hände mitsprachen. So sagte Tante Madeleine, wenn zum Beispiel die Jungen an einem Regentag durchaus zur Insel rudern wollten:

      „Maché, da werdet ihr ja ganz naß!“

      Und wenn Boris dann erklärte, auf der Insel wäre es wirklich sehr trokken:

      „Altroché – glaubst du, daß es auf der Insel nicht regnet?“

      Oder wenn Jekab eine Tasse auf dem Parkett zerschmetterte, lachte Tante Madeleine:

      „Das ist kein Granché.“

      „Was ist ein Granché?“ fragte Aurel.

      „Das ist eine große Sache“, erklärte Tante Madeleine.

      „Und was ist eine große Sache?“ forschte Aurel.

      „Eine große Sache?“ Tante Madeleine überlegte, dann sagte sie: „Zum Beispiel, wenn das Haus abbrennt oder jemand stirbt. Das ist ein Granché!“

      Alles andere, sogar das Singen, war für Tante Madeleine kein Granché – jedenfalls machte sie keine große Sache daraus, auch wenn dem weißhaarigen Pastor Nötkens, der sie auf dem Flügel begleitete, zum Schluß die Tränen über die Backen kullerten.

      Pastor Nötkens, ein mächtiger Mann mit schneeweißem Haar, dunklen Augenbrauen und glattrasiertem, rosigem Gesicht, kam jede Woche, spielte mit Onkel Nicolas Schach und musizierte am Abend mit Tante Madeleine. Wenn es spät wurde, mußten die Jungen ins Bett. Aber dann schlichen sie im Nachthemd heimlich die Treppe hinunter, versteckten sich im Flur hinter den Garderobeständern, den vielen Mänteln und Pelzen – ja einmal wagten sie sich sogar in den Blauen Salon und verkrochen sich unter dem Sofa.

      Es war ein wenig hart und kalt, mit den nackten Füßen und dem dünnen Nachthemd auf dem blanken Parkett – aber der Gesang war so schön wie noch nie, und als er zu Ende war, wurde es ganz still, alles schwieg; nur Pastor Nötkens schneuzte sich, und dann knackte das Parkett: Onkel Nicolas