Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
„Seht euch diese Uhr an“, erklärte er feierlich und wies mit dem Stock auf das Zifferblatt. „Dies ist die letzte Uhr in Livland, die richtig nach altlivländischer Zeit geht! Die Petersburger Affen können machen, was sie wollen, aber die Sonne und die Uhr in Mojahn können sie doch nicht umstellen!“
„Mein Gott, es ist schon zehn“, sagte die Mutter, „wir müssen fahren!“
„Es ist zwanzig Minuten vor zehn“, polterte Onkel Leopold ingrimmig. „Ihr habt also noch Zeit!“
Nein, die Koiküllschen Cousinen wollte der Vater nicht besuchen.
„Aber das ist sehr unhöflich“, meinte die Mutter, „wenn sie es später erfahren …“
„Um so besser“, lachte der Vater, „dann lassen sie beim nächsten Weihnachtsbesuch selbst anspannen!“
Und so fuhr die Kalesche an Koiküll vorbei und hielt statt dessen am Krug von Trikaten, hier mußten die Pferde abgefüttert werden.
Auf dem Rasenhügel neben der Ruine lagerte man, der Speisepaudel wurde ausgepackt, Tof und Aurel durften in der Krugbude Pfefferkuchen kaufen, Pfefferkuchen, die so groß, so dick und so zäh wie alte Stiefelsohlen waren, mit einer Mandel in der Mitte, und die nach trockenem Sand schmeckten.
„Warum ist das Haus kaputt?“ fragte Aurel und zeigte auf die Ruine.
„Einmal war es ein Schloß“, sagte die Mutter, „und Ritter wohnten darin. Aber dann kamen die Russen und zerstörten die Burg.“
„Und die Ritter?“ erkundigte sich Aurel.
„Die sind im Kampf gefallen“, erklärte die Mutter.
„Alle?“
„Alle.“
Die Mutter schwieg. Verwittert und grau ragte die zerbröckelte Mauer in den sommerlichen Himmel. Im Grase zirpte es. Ein grauer Würger mit schwarzem Strich durch die Augen wippte schmatzend auf der Spitze eines Ellernbusches.
Es war schon Abend, als sie in Kangermois ankamen. Onkel Gottlieb, im grauen Schlafrock mit roten Aufschlägen, eine Petroleumlampe in der Hand, stand auf der Veranda, und um ihn herum wimmelten die Cousinen: Marliese, Agathe und Clementine. Alle hatten blau karierte Schürzen und rote Gesichter. Alle umarmten, küßten, lachten und rissen sich um die Kinder:
„Nein, der gehört mir!“ – „Nein, mir!“
Aurel und Adda wurden hin und her gezerrt. Endlich waren die Kinder verteilt: jede Cousine hatte eins. Und jede schleifte ihren Schützling mit sich herum: in den Hühnerstall, in den Viehstall, zu den Kälbern und Ferkeln.
Onkel Gottlieb ging immer im Schlafrock und Pantoffeln, zwei rote Troddeln auf dem Bauch. Jeden Morgen wanderte er so in den Viehstall, und jeden Abend saß er so auf der Veranda und sah zu, wie die Herde heimkehrte. Nur mittags zog er sich einen weißen Leinenrock an, kurze Reithosen und Wasserstiefel, obgleich er niemals ritt und nie spazierenging. Und die drei oberen Knöpfe der Weste waren immer offen, und auch ein Hosenknopf vorn war gewöhnlich aufgegangen.
„Aber Vater“, sagte Marliese und stieß ihn an.
„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb, denn er war harthörig.
„Der Knopf!“ stöhnte Marliese.
„Es belohnt sich nicht!“ brummte Onkel Gottlieb laut und knöpfte sich ungeniert die Hose zu.
„Wir sollten das Verandageländer in Ordnung bringen lassen“, seufzte Agathe.
„Und die Dachrinne soll verstopft sein!“ klagte Clementine.
„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb.
„Die Dachrinne ist verstopft!“ trompetete Clementine.
„Verstopft? Wer ist verstopft?“
„Die Dachrinne!“
„Das belohnt sich nicht!“ knurrte Onkel Gottlieb ärgerlich. „Irgendwo wird das Wasser schon abfließen!“
Nur die Kühe waren seine Leidenschaft, und auch der Vater und die Mutter mußten sie bewundern. Aurel ging mit.
„Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb, als sie vor dem Zuchtstier standen.
„Großartig!“ sagte der Vater anerkennend.
„Wa?“
„Großartig! Ein großartiger Stier!“ schrie der Vater verzweifelt.
„Das weiß ich, daß es keine Kuh ist!“ brummte Onkel Gottlieb und ging weiter.
Die Mutter stelzte unglücklich mit hochgehobenen Röcken zwischen den vielen Kuhschwänzen umher: „Mein Gott, Aurel, schnell zur Seite!“
„Kühe sehen doch immer wie Kühe aus“, meinte sie erschöpft, als sie ins Haus zurückgingen.
„Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb.
„Wunderbare Kühe!“ schrie die Mutter, so laut sie konnte.
„Gar kein Wunder“, knurrte Onkel Gottlieb verdrießlich, „wenn man sie richtig hält und füttert!“
Bei Tisch erzählte Onkel Gottlieb manchmal Geschichten, die Aurel nicht verstand, die aber komisch sein mußten, weil der Onkel dabei so lachte. Marliese, Agathe und Clementine wurden dann immer rot. Die Mutter sah verzweifelt auf ihren Teller.
„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb.
„Später!“ brüllte der Vater.
„Warum später?“ lachte Onkel Gottlieb dröhnend und schlug sich auf das Knie: „Das belohnt sich nicht!“
Wieder schaukelte die Kalesche auf der breiten, sandigen Landstraße, die Räder mahlten knirschend den tiefen Grand, eine dicke Staubwolke zog hinterher und schlug dann und wann zum Ersticken heiß und schwer in den Wagen. Das schwarze Schutzleder war schon ganz grau überzogen, mit dem Finger konnte man schön darauf zeichnen. Manchmal durfte Aurel auf den Bock, und dann hockte Tof tiefgekränkt auf dem Rücksitz.
Von oben sah alles ganz anders aus: die Landstraße, der Graben, das Roggenfeld, die endlosen Heuschläge, Moore und Wälder. Und mitten darin, ganz vorn, ganz nah, die vier immer gleichmäßig schaukelnden Hinterteile der trottenden Pferde. Das schwarze, silberbeschlagene Ledergeschirr tanzte und hüpfte hin und her auf den prallen, glatten Backen. Dann und wann hob sich ein Schwanz, und mitten im Lauf ließ ein Roß unbekümmert seine fettglänzenden Äpfel fallen.
Im Walde, an einem kleinen Bach, wurde gerastet. Die Pferde bekamen Hafer, und für die Menschen gab es hartgekochte Eier, Schinkenbrötchen und Speckkuchen mit Rosinen. Der Vater zerschnitt das ungeschälte Ei mitten durch, hob mit der Messerspitze das Innere aus der Schale und schluckte jede Hälfte mit einem Bissen herunter. Aber die Mutter kickste die Eier mit den Kindern, und wer das stärkste hatte, war König.
Dann durften die Kinder Schuhe und Strümpfe ausziehen und barfuß im Wasser plantschen. Es war ein flacher, schnellfließender Bach mit großen, glatten Kieselsteinen. An der Bohlenbrücke mit dem bemoosten Geländer stand eine alte Birke mit rissiger Rinde. Es war eigentlich nichts Besonderes an dieser Birke, auch nichts an der alten Brücke mit dem Bach und der Landstraße – aber plötzlich fühlte Aurel, daß er diese Stelle hier mitten im Walde immer wieder erkennen und nie vergessen würde.
Nach dem Essen ging der Vater mit den Jungen „Riezchen“ suchen. Jeder mußte allein hinter einen bestimmten Busch gehen – aber keiner fand einen Pilz.
„Sonderbar“, lachte der Vater, als er wieder herauskam, „und gerade hier wuchsen sonst immer so viele Riezchen!“
Dann fuhr man weiter.
Onkel Oscha stand auf dem Rasenplatz von dem einstöckigen grauen Holzhaus mit den weißen Fenstern und winkte schon von weitem.
Wieder wurden die Ohrläppchen befühlt und so lange gezupft, bis süße