Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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Wie Onkel Nicolas mit den Hacken in der Luft klackerte, mit welcher Kraft und Eleganz er über das Parkett hinflog, und wie leicht und zart Tante Madeleine neben ihm herschwebte und dann, wenn er sich ins Knie stürzte, im Kreise um ihn herumwirbelte! Nein, außer Onkel Nicolas konnte heute niemand mehr Mazurka tanzen.

      „Ich glaube“, sagte Tante Madeleine zu Herrn von Dunten, der sich verzweifelt mit ihr im Kreise drehte, „Sie sind auch mit den Beinen kurzsichtig!“

      Auch Boris und Aurel mußten tanzen. Boris konnte es schon ganz gut, aber Aurel bewegte sich, als hätte er Blei in den Füßen. Die vielen Cousinen, Mademoiselle und Miß Mabel mühten sich abwechselnd mit ihm ab. Am besten ging es noch mit der kleinen Nena. Aber gerade ihre so unwahrscheinlich schmalen Hüften wagte er gar nicht richtig anzufassen, als könnten sie leicht zerbrechen. Er hatte eine große Scheu vor der geringsten Berührung mit dem fremden Körper, und doch fühlte er ein seltsam beglückendes Geprickel, wenn Nena ihren Arm um seinen Nacken, ihre feste kleine Hand auf seine Schulter legte, wenn er ihren leisen, fremdartigen Seifengeruch spürte. Und immer versuchte er es so einzurichten, daß er mit ihr oder mit ihr als vis-à-vis den Lancier tanzte. Und wenn dann bei der dritten Tour der tiefe Knicks kam – das Klavier für ein paar Takte aussetzte –, stockte auch sein Herz, das sich in demütigem Glück fast bis zum Parkettboden vor Nena verneigte.

      Aber gerade beim Lancier fehlte immer ein Herr, so daß der lahme Theodor vom Doktorat jedesmal einspringen mußte. Wie eine aufgescheuchte Fledermaus flatterte er dann mit hilflos schlenkernden Armen über das glatte Parkett – „aber Theodor, nicht so schnell!“ – die Cousinen starben fast vor Lachen.

      Der kleine, rundliche Doktor Spalwing tanzte nur Polka. Aber die hüpfte er mit solcher Begeisterung, daß sein roter Kopf und sein harter Kragen nachher immer ganz aufgeweicht waren. Manchmal flog dabei auch eins seiner Röllchen zu Boden.

      „Polka – das ist ein richtiger Tanz“, erklärte er, indem er sich mit dem Taschentuch das nasse Gesicht abtupfte, „beim Lancier schläft man ein!“ Und dann stopfte er sich das Röllchen wieder unter den Rockärmel.

      Wenn aber der lahme Theodor nicht gekommen war, dann mußte Mischka mittanzen. Mischka war ein Vetter, der ein „Gesinde“, einen Bauernhof, bewirtschaftete und dort ganz allein als Sonderling in einem kleinen Hause wohnte. Es hieß, daß er nicht ganz richtig im Kopf sei – einmal war er schon im Irrenhaus gewesen. Aber jetzt ging es ihm wieder besser. Er war klein von Wuchs und hatte einen riesigen Kopf mit großen, traurigen Augen hinter runden Brillengläsern, so daß er wie eine Eule aussah. Auch wenn sein von vielen kleinen Falten zerknittertes Gesicht lachte, blieben die Augen unverändert: die Augen lachten nicht mit.

      Aber er tat alles, wenn Tante Madeleine, ja, wenn nur die Cousinen ihn um etwas baten. Er konnte mitten im Schachspiel, das er über alles liebte, aufstehen, wenn Isa ihn um einen Lancier anflehte. „Und wenn ich jemand morden soll, ich tu’s – du brauchst es mir nur zu befehlen!“ sagte er, und sein zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem lustigen Lachen. Und dann tanzte er mit seinem riesigen runden Kopf und den kurzen Beinen – es sah wirklich so aus, als wenn eine Eule hüpfte! Aber seine Augen hinter den Brillengläsern blieben traurig.

      Einmal, als Mischka lange nicht gekommen war, ließ Tante Madeleine die Schlitten anspannen, Kuchen und Gebäck einpacken, und alles fuhr nach Brjeschepur, ihn zu überraschen. Die beiden kleinen Zimmer hatten kaum Platz für so viel Besuch: Die Cousinen lagerten sich auf dem Bärenfell vor dem Kamin, Tante Madeleine mußte sich in den Schaukelstuhl setzen, und Mischka selbst hockte sich auf einen Schemel und blies mit dem Blasebalg ins Feuer. Male, seine alte Wirtschafterin, kochte Kaffee.

      „Was sollen wir nun tun?“ fragte Mischka und warf noch ein paar Birkenscheite in den Kamin. „In meinem armen Bauernhaus habe ich ja nichts für so viel jungen Damenbesuch!“

      „Spielen wir Blindekuh!“ schlug Warinka vor.

      „Und wer ist die Kuh?“ fragte Mischka.

      „Das bist du natürlich!“ riefen die Cousinen begeistert, und Isa band ihm ein Taschentuch vor die Augen.

      Alles kroch auf dem Fußboden herum, schlich auf Zehenspitzen an den Wänden entlang, versteckte sich hinter den Fenstergardinen. Und Mischka tastete mit weit ausgebreiteten Armen hierhin und dorthin. Endlich hatte er Isa gefangen, zog sie auf das Bärenfell und befühlte ihre Haare.

      „Das ist Isa“, sagte er, aber ohne daß er es merkte, hatte Laura mit Isa getauscht, und als er nun die Binde von den Augen nahm, stand Laura vor ihm. Und immer wieder mußte er Blindekuh sein. „Aber dein Taschentuch behalte ich als Pfand“, sagte er zum Schluß und steckte es sich ein.

      „Komm doch mit, Mischka, komm doch mit!“ baten alle Cousinen, als die Schlitten vorfuhren.

      Aber diesmal erfüllte er nicht ihre Bitte.

      „Eine schlimme Zeit ist wieder über mich gekommen“, sagte er zu Tante Madeleine, „und da ist es besser, wenn ich allein bin!“

      Und zu Boris und Aurel sagte er beim Abschied:

      „Ihr könnt mich mal besuchen!“

      Wie traurig er dastand in der offenen Tür, die Windlaterne in der Hand, wie traurig er ihnen nachwinkte!

      Bald darauf waren Boris und Aurel in ihrer Ragge zu ihm gefahren. Zuerst war es etwas unheimlich gewesen: Mischka saß in seinem Schaukelstuhl, rauchte eine halblange Pfeife und sprach kein Wort. Dann war er aufgestanden, hatte die Pfeife am Kamin ausgeklopft und war unruhig im Zimmer auf und ab gegangen. Plötzlich war er vor den Jungen stehengeblieben, hatte die Hände auf ihre Köpfe gelegt und sie mit leiser, verzweifelter Stimme gefragt:

      „Glaubt ihr an Gott?“

      Boris nickte stumm.

      „Ja“, murmelte Aurel.

      „Dann wollen wir zusammen beten!“ sagte Mischka und kniete sich auf das Bärenfell. Die Jungen knieten neben ihn hin. Alle drei falteten die Hände. Und dann sprach Mischka mit flehender, bebender Stimme das Vaterunser. Noch nie hatte Aurel dieses Gebet so gehört. Und die Worte: „Erlöse uns von dem Übel!“ schrie er fast und schlug mit dem Kopf auf den Boden.

      Aurel und Boris wußten nicht, was sie tun sollten. Aber dann beruhigte sich Mischka, stand auf und strich über die Haare der Jungen:

      „Euer Glaube hat mir geholfen!“

      Beim Abschied sagte er noch leise:

      „Betet für mich, ich bin sehr krank, und das wird mir helfen!“

      Boris und Aurel sprachen mit niemand davon, auch nicht untereinander. Aber jeden Abend beteten sie für den kranken Vetter. Und immer wieder mußte Aurel an ihn denken. Warum war er so unglücklich? Glaubte er nicht an Gott? Quälte ihn etwas? Oder war er wirklich nicht ganz richtig im Kopf und wurde vielleicht wieder verrückt? Es war fast unheimlich zuzusehen, wie er tanzte, wie der große, runde Kopf auf den kurzen Beinen hin und her schwankte, als könnte er jeden Augenblick herunterrollen.

      Nach dem Lancier kam die Française, die richtige Française mit den zwölf Touren. Und da niemand genau Bescheid wußte, mußte Tante Leocadie vom Alten Haus heraufkommen und allen vortanzen, wie sie vor dreißig Jahren im Schloß von Schönbrunn getanzt hatte: Sie hob ein wenig den Rock, avancierte, retirierte und knickste tief vor einem Stuhl. Aber heute verstand ja niemand mehr richtig zu tanzen – nicht einmal richtig knicksen konnten die Cousinen. Und auch die Jungen verstanden keine richtigen Bücklinge zu machen.

      „Mein Gott, nicht so steif, nicht so plump!“ rief Tante Leocadie verzweifelt. Und dann vollführte sie den Hofknicks, wie sie vor Kaiser Franz Joseph beim Empfang in der Hofburg geknickst hatte: der eine Fuß glitt weit nach hinten zurück, und die ganze zarte Gestalt sank hin auf dem Parkett und zerschmolz in Demut vor dem leeren Stuhl – der war der Kaiser Franz Joseph.

      Aber noch schöner und aufregender als alles dies war es, wenn Tante Madeleine plötzlich ausrief: „Kinder, heute müssen wir uns verkleiden!“

      „Verkleiden“ war Tante Madeleines große Leidenschaft – vielleicht hatte sie das noch von