Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Nein, das Pinkazimmer war nirgends zu entdecken, aber alle Räume sahen auch so merkwürdig genug aus: im Saal hingen die Tapeten in großen Fetzen von den Wänden. Ein paar zerschlissene Polsterstühle – das war die ganze Einrichtung. Im Speisezimmer zog sich ein schwarzer Riß quer über die Decke, neben der Küchentür war der Mörtel abgebröckelt, so daß das Holzgeflecht hervorschaute. Die morschen Stufen der schmalen Gartenveranda hatten tiefe Löcher, das verfaulte Geländer hing wackelnd in der Luft.
„Warum ist hier alles kaputt?“ fragte am Abend Aurel die Mutter.
„Weil Onkel Oscha fast nie zu Hause ist“, sagte die Mutter.
„Und warum ist er nie zu Hause?“ forschte Aurel.
„Weil er so allein ist, keine Frau und Kinder hat“, meinte die Mutter.
„Und warum hat er nicht geheiratet?“
Die Mutter schwieg. Dann sagte sie nachdenklich:
„Weil die Tante, die er haben wollte, einen anderen Onkel geheiratet hat! Und so hat er kein richtiges Zuhause!“
Kein richtiges Zuhause. Aurel lag lange wach und grübelte. Wie furchtbar muß das sein: kein richtiges Zuhause und immer allein. Der arme Onkel. Vielleicht ist er in Wirklichkeit gar nicht so lustig. Vielleicht macht er so viel Spaß, nur damit man nicht merkt, wie traurig er ist. Das muß eine scheußliche Tante gewesen sein, die ihn nicht genommen hat. Aber die Welt ist voller Tanten – warum hat er denn nicht eine andere geheiratet?
Nach dem Mittagessen ging Onkel Oscha immer „russisch lesen“ – dann durften die Kinder nicht im Hause herumrennen. „Russisch lesen ist nicht so einfach“, sagte der Onkel, „das kann man nur, wenn alles still ist! Aber um drei – dann könnt ihr mich holen!“
„Aber Onkel Oscha, du hast ja gar nicht russisch gelesen, du hast geschlafen!“ schrien die Kinder, als sie in sein Schreibzimmer stürmten, wo der Onkel auf dem alten Ledersofa lag.
„Geschlafen? Ihr seid wohl verrückt? Wer wird denn am Tage schlafen, wo es so viele russische Bücher gibt!“ Onkel Oscha rieb sich das Gesicht, strich die beiden weißen Vollbartspitzen nach rechts und nach links: „Seht, wie müde meine Augen sind vom vielen Lesen! Russische Bücher sind besonders anstrengend!“
„ Zeig das Buch, zeig das Buch“, schrie Aurel.
„Komm mal her, dann werde ich es dir schon zeigen! Oder willst du die Engel im Himmel pfeifen hören?“
Onkel Oscha richtete sich auf – kreischend jagten die Kinder hinaus.
Aber am schönsten war es, wenn Onkel Oscha auf seinem alten Ledersofa saß und sang. Er sang nur ein Lied, und das hatte nur wenige Worte, aber er mußte es immer wieder vorsingen – so schön war es:
„Die Seele schwingt sich in die Höh’ – juchhe!“
(Onkel Oscha hob beide Arme in die Luft – es war, als flöge er wirklich mit dem weißen Vollbart zur Decke hinauf.)
„Der Leib allein bleibt auf dem Kanapee!“
(Und Onkel Oscha sank wie tot auf das Sofa zurück. Die goldene Uhrkette mit der roten Koralle blitzte auf seinem Bauch.)
Aber dann saß er wieder und strich sich seine Bartspitzen:
„Ich will nur solange leben, bis der letzte Russe hinter Kamtschatka ersäuft!“
„Aber deine Goldkette wird nicht so lange halten!“ meinte Aurel und zupfte an der Bärenkralle. „Hier ist sie schon ganz durchgerieben!“
„Fünfzig Jahre hält sie noch“, erklärte Onkel Oscha, „und dann kaufe ich mir eine neue!“
„Komm doch mit!“ bestürmten die Kinder den Onkel, als die Kalesche vorfuhr, „komm doch mit!“
Aber Onkel Oscha blieb – da half kein „Mundspitzen“.
Noch lange stand er da vor dem grauen Holzhaus, der weiße Rock und der weiße Bart leuchteten in der Sonne.
In großen Biegungen schlängelte sich der breite, sandige Weg zwischen den vergrasten Gräben durch das wellige Land. Immer war der Geruch von reifem Korn, von Kamillen, von süßem Klee, immer der Lärm von Lerchen, das Knirschen der Räder, der dicke, heiße Staub in der Luft.
„Jetzt kommt das Tantenbassin“, sagte der Vater, „aber ich steige beim alten Igelströhm in Torma aus, Marz bringt euch nach Orrisfer, und morgen nachmittag holt er mich ab. Länger als eine Stunde halte ich es im Tantenbassin nicht aus!“
Mein Gott, wie dick der Igelströhm war – man mußte zum Tee dort bleiben. Noch nie hatte Aurel einen so dicken Menschen gesehen. Wenn er ging, dann schaukelte der Bauch hin und her, und wenn er saß, quoll er weit über den Lehnstuhl. Und die Hände waren so fett und so schwer, daß er sie kaum bewegen konnte. Immer lagen sie irgendwo auf dem Bauch, wie aufgequollene Kröten. Aber der Vater blieb doch lieber hier – wie schrecklich mußte es dann bei den Orrisferschen Tanten sein!
„Tante Josephine, Tante Constance, Tante Luschen – alle drei sind sehr, sehr lieb, aber etwas eigen“, seufzte die Mutter. „Daß ihr nur keine Dummheiten macht!“
Ja, etwas eigen waren diese Tanten schon, und das ganze Haus roch so sonderbar nach Tanten, war voll Tantengeraschel und Tantengeflüster. Immer wisperte es irgendwo, immer galoppierte Emma, das alte Mädchen, mit einem Staublappen hin und her und wischte die Türklinken ab.
„Hast du dir auch schon die Hände gewaschen?“ fragte Tante Constance immer wieder, und immer wieder mußte Aurel sie einseifen. „Draußen sind so viel Bazillen“, erklärte sie streng, während sie mit klirrendem Armband eine Patience legte, „und viele Menschen sind schon an Bazillen gestorben!“
„Was sind Bazillen?“ fragte Aurel.
„Das wirst du später einmal erfahren, wenn du größer bist!“ sagte Tante Constance und tupfte mit dem Finger über die Karten. Immer sagte Tante Constance: „Wenn du größer bist“, und immer legte sie Patience. Geduldig war sie noch nicht geworden.
Tante Josephine saß am Fenster im Lehnstuhl und stickte auf Kanevas schöne bunte Wandsprüche. Über jedem Bett hing ein solcher Spruch. Aurel buchstabierte:
„Hoffnung ist mein Wanderstab
und Geduld mein Reisekleid,
womit ich durch Zeit und Grab
wandre in die Ewigkeit!“
Aurel sah ganz deutlich die Hoffnung: einen dicken Spazierstock mit einem runden Griff. Und die Geduld war ein Staubmantel wie der von Mama, nur viel grauer, weil man ja mit ihm durch das Grab wandern mußte.
Über einem andern Bett las Aurel den Vers:
„Einst stehst du vor dem Hügel,
und ist er noch so klein,
da kommst du nicht hinüber –
da legt man dich hinein!“
Es klang so, als wenn sich Tante Josephine extra darüber freute, daß man über diesen kleinen Hügel nicht hinüber konnte: ätsch – da legt man dich hinein!
Viel angenehmer war dagegen ein Spruch, der im Speisezimmer hing:
„Des Leibes warten und ihn nähren,
das ist, o Schöpfer, meine Pflicht!
Mutwillig meinen Leib zerstören
verbietet mir dein Angesicht!“
Nein, die Tanten zerstörten nicht mutwillig ihren Leib – das konnte man nicht behaupten. Und auch Aurel nahm sich diesen Spruch zu Herzen – besonders, wenn es Pfannkuchen mit Preiselbeeren gab. Ihn störte dabei nur der Gedanke, daß Jesus als Gast