Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Der volle Mond stand schon hoch am blassen Himmel, als sie heimkehrten. Und er ging gerade auf, als die Kalesche am nächsten Abend in die Ahornallee von Altschwanensee einbog.
Und dann stand hinter dem weiten Rasenplatz mit den dunklen Bosketten das große steinerne Haus im weißen Mondlicht da. Alle Fenster waren erleuchtet, und über der Anfahrt fiel ein helles Licht auf die breiten Stufen der Freitreppe.
Altschwanensee
Wie von selbst war alles gekommen. War Aurel froh? War er traurig? Er wußte es nicht. Vielleicht war er beides zugleich: froh, daß er hier bei Tante Madeleine, bei Boris, bei den vielen Cousinen bleiben durfte, und traurig, sehr traurig, daß er nicht mitfahren konnte, als die große Kalesche mit der Mutter, dem Vater, mit Adda, den Brüdern und mit Marz wieder fortfuhr. Aber hierbleiben und mitfahren – beides zugleich kann man nicht. Man muß sich entscheiden. Und er selbst hatte sich entschieden.
An einem Morgen war die Mutter mit ihm in den Park gegangen, hatte sich bei der großen Eiche auf die Bank gesetzt und ihn gefragt:
„Willst du hierbleiben, bei Boris?“
Natürlich wollte er hierbleiben, bei Boris, seinem ersten richtigen Freunde, mit dem er ganz anders spielen konnte als mit Adda, die ja nur ein Mädchen und für ihn viel zu klein war. Vom ersten Augenblick an, als sich die beiden Jungen sahen, war diese Freundschaft dagewesen – von Aurels Seite wohl noch leidenschaftlicher, schwärmerischer, aber auch Boris war glücklich, endlich einen Bruder zu haben. „Weißt du, Mädchen sind nichts“, hatte er ihm gleich am ersten Tag anvertraut. „Und große Brüder sind auch nichts“, hatte Aurel ihm seine Erfahrungen mitgeteilt.
Jetzt waren Bal und Rei außerdem noch konfirmiert und trugen lange Hosen – sie waren also eigentlich schon erwachsen. Nein, der Abschied von den großen Brüdern fiel ihm nicht schwer. Aber die Mutter, der Vater, Adda? Und Karlomchen?
„Soll ich gar nicht mehr nach Blumbergshof kommen?“ hatte Aurel gefragt.
„Natürlich bist du in den Ferien immer bei uns“, versicherte die Mutter und zog seinen Kopf an ihre Schulter, „aber jetzt mußt du doch richtig lernen, und Herr Tiedebök und Fömarie haben zu wenig Zeit für dich. Ich glaube, hier mit Boris zusammen wirst du es besser haben!“
Ja, das sah Aurel ein. Und wenn er in den Ferien nach Hause konnte, war die Trennung ja nicht so lang und der Abschied nicht so schlimm. Trotzdem mußte er sich fest in die Finger kneifen und die Zähne zusammenpressen, als die große Kalesche davonfuhr, und die winkenden weißen Taschentücher sah er nur wie hinter einem flimmernden Schleier. Nun war er ganz allein hier. Zum ersten Male war er von der Mutter, dem Vater, von den Geschwistern, von Blumbergshof getrennt – denn die große Kalesche mit Marz war ja auch ein Stück Blumbergshof. Nun war das alles fort. Nur eine kleine Staubwolke stand noch in der Allee. Und dann war auch die verschwunden.
Aber Tante Madeleine beugte sich zu ihm und küßte ihn auf die Stirn: „Jetzt bin ich deine Mama“, sagte sie, „und du bist mein zweiter Sohn!“ Dann lief er mit Boris in den Park zum kleinen Bach, wo sie eine Brücke bauten.
Wie anders war hier alles als in Blumbergshof: keine bunten Dielenläufer, kein weißer Bretterboden – überall blankes, glattes Parkett, weiche, dikke Teppiche. Und die vielen Zimmer hatten gar kein Ende: der Blaue Salon, das Musikzimmer, der „Petitsalon“, der „Grandsalon“, das Rauchzimmer, das Lesezimmer, die Bibliothek, Onkel Nicolas’ Schreibzimmer – alle diese Räume lagen in einer langen Reihe hintereinander, alle Flügeltüren waren immer offen, so daß man zwischen den vielen zur Seite gerafften Portieren von einem Ende bis ans andere durchsehen konnte. Und rechts vom Musikzimmer kam man in den richtigen Saal und von dort in das endlose Speisezimmer. Vom Flur mit den unzähligen Garderobenständern, den Truhen, Spiegeln und Elchgeweihen schwang sich eine breit ausladende Treppe zum ersten Stock hinauf, wo die Korridore und Schlafzimmer überhaupt kein Ende nahmen. Und vor dem Flur, in einem besonderen Anbau, war der Wintergarten mit Palmen, mächtigen Blattpflanzen und rätselhaften Gewächsen. Hier war es immer feucht und warm, und ein kleiner Springbrunnen plätscherte.
Aurel schlief zusammen mit Boris in einem großen Zimmer im ersten Stock, und nebenan sollte der Hauslehrer wohnen, aber der war noch nicht da. Dafür gab es eine Gouvernante, Fräulein Kleeberg, mit einer braunen Warze auf dem Kinn, eine Mademoiselle und Miß Mabel, bei denen man Französisch und Englisch lerne sollte. Und dann war da Lim, die wie Karlomchen beständig umherlief, mit glattem, spärlichem Haar über dem länglichen, immer sorgenvollen Pferdegesicht. Und endlich die drei Cousinen: Isa, Maurissa und Warinka. Alle drei waren älter als Aurel – Warinka allerdings nur um ein Jahr –, und alle drei waren am Anfang etwas unheimlich: sie lachten, wenn man gar nicht wußte warum, sprachen plötzlich französisch oder englisch, rümpften die Nasen und sagten so von oben herab: „Das versteht ihr doch nicht!“
Ja, Boris hatte recht: Mädchen sind nichts, und doch mußte Aurel immer wieder zu ihnen hinüberschauen, wenn sie bei Tisch saßen. Isa trug schon aufgestecktes Haar, Maurissa und Warinka dicke lange Zöpfe mit Ponyschnitt in der Stirn. Welches Glück, daß man kein Mädchen war, mit Zöpfen und Röcken! Und daß man jetzt einen Freund hatte, einen Kameraden, mit dem man alles teilen, alles besprechen konnte.
Gleich am ersten Abend, nach der Abfahrt der Eltern – Tante Madeleine hatte mit den Jungen gebetet, das Licht gelöscht, nun lagen beide allein im Dunkeln – flüsterte Boris: „Wenn wir wirklich Freunde sind, dürfen wir keine Geheimnisse voreinander haben!“
„Ja, keine Geheimnisse!“ bestätigte Aurel eifrig.
„Aber ich habe ein Geheimnis“, fuhr Boris fort, „und das muß ich dir jetzt sagen. Aber du darfst es niemanden verraten!“
„Niemandem!“ beteuerte Aurel feierlich.
Boris war ans Fußende heruntergerutscht – die beiden Betten standen hintereinander an der Wand –, jetzt beugte er sich über Aurels Kopfkissen: „Dann mußt du es schwören!“
Aurel hockte sich hin und hob die Hand: „Ich schwöre!“
Boris rückte noch näher an sein Ohr und flüsterte:
„Ich weiß eine Höhle, die niemand weiß, auf der Insel, und dort habe ich etwas versteckt. Morgen zeige ich es Dir.“
„Eine Höhle?“ Aurels Herz klopfte.
„Ja, eine richtige Höhle!“ versicherte Boris. „Und du – hast du kein Geheimnis?“
Aurel grübelte lange angestrengt: nein, er kannte keine Höhle, und das Tschulanchen und der Heuboden waren eigentlich keine Geheimnisse. Ein richtiges Geheimnis ist nur das, was niemand weiß. Wie schrecklich, daß er keins hatte. Er schämte sich sehr. Aber da fiel ihm ein, daß er einmal in Blumbergshof unter der Gartenveranda heimlich einen toten Maulwurf begraben hatte. Dies Geheimnis konnte sich zwar nicht mit der Höhle messen, aber ein besseres wußte er nicht. Und so vertraute er Boris den toten Maulwurf an. Und auch Boris schwor, ihn niemandem zu verraten.
Am nächsten Morgen liefen die Jungen zum See, der gleich hinter dem Park lag, ketteten das kleine grüne Boot vom Steg los und ruderten zur Waldinsel hinüber, die sich mitten auf dem spiegelblanken Wasser dunkel und geheimnisvoll erhob.
Boris ruderte. Aurel saß hinten am Steuer. Noch nie war er so auf dem Wasser gefahren, es war ihm etwas unheimlich zumute, aber er ließ sich nichts anmerken. Wie tief wohl der See war? Jedenfalls viel tiefer als der kleine Teich in Blumbergshof. Und wenn man umkippte, dann mußte man wohl ertrinken. Das Boot schaukelte, das Wasser schlug gluckernd an die bauchige Holzwand; dann und wann spritzte es vom auftauchenden Ruder. Endlich stieß der Kiel zwischen rauschendem Schilf an das moorige Ufer. Boris schlich sich, immer nach allen Seiten spähend, durch Laubgestrüpp zur Anhöhe hinauf, auf der ein paar Fichten und Birken standen. Etwas abseits erhob sich ein verwitterter Eichenrumpf, der wohl einmal vom Blitz getroffen war. Als