Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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      Auch sonst standen die Tanten sehr gut mit dem lieben Gott: alles war eine „rechte Gabe Gottes“ – die Sonne, der Regen, das Essen – und immer dachte der liebe Gott an die Tanten.

      „Ja, wir dürfen ihn nie vergessen, der uns nicht vergißt“, sagte Tante Josephine, wenn sie die Serviette zusammengerollt hatte, und blickte zur Dekke hinauf.

      Aurel hob den Kopf, konnte aber außer ein paar Fliegen, die an der Hängelampe herumkrochen, nichts entdecken.

      „Nie vergessen“, fuhr Tante Josephine fort, „was er alles für uns getan hat und immer noch tut!“

      Es war fast so, als stände der liebe Gott, wie Emma und die Köchin, im Dienst der Tanten. Nur daß er nicht mit Geld, sondern mit Gebeten bezahlt wurde.

      Tante Luschen sagte selten etwas; sie lief immer lautlos hin und her, immer mit einer großen, stillen Freude im rosigen Gesicht.

      „Luschen, die Hühner sind wieder im Garten!“ – „Luschen, wieviel Grad werden es heute im Schatten sein?“ – „Luschen, sollte man nicht das Fliegenpapier erneuern?“ „Man“ war immer Tante Luschen, aber sie tat alles so leise, daß man es gar nicht merkte. Und immer hatte sie etwas für die Kinder: Geduldplätzchen, Kranzbeerlimonade oder ein Glas Mandelmilch.

      Zum Nachmittagskaffee kam Doktor Amende, ein dürrer, kleiner Herr mit einer großen roten Nase.

      „Nun, was gibt’s Neues, Doktorchen, was gibt’s Neues?“ bestürmten ihn Tante Josephine und Tante Constance.

      Und dann berichtete der Doktor, zwischen einem Schluck Kaffee und einem Stück Kuchen: von einem Erdbeben irgendwo in Japan, von einer Überschwemmung oder von irgendeinem Eisenbahnunglück.

      „Mein Gott“, stöhnte Tante Josephine, und die Grübchen in ihren Wangen zuckten vor Erregung, indem sie nach der Schmantkanne griff: „Was heute für schreckliche Dinge passieren; das kommt davon, weil die Welt so gottlos geworden ist! Und ist es wirklich wahr, daß der Tormasche schon wieder heiraten will?“

      Dann wurde Aurel fortgeschickt.

      Als aber der Vater kam, war Aurel dabei, wie die Tanten ihn ausfragten: wer sie sei, von wo und wie alt.

      „Gott sei Dank, wenigstens eine Geborene“, seufzte Tante Constance, „und keine Gewisse!“

      „Aber schon die dritte!“ Tante Josephine schüttelte mißbilligend den Kopf. „Und die zweite ist erst vor einem Jahr gestorben!“

      „Der Tormasche kann nicht mehr lange warten“, meinte der Vater lachend, „und wißt ihr, was er mir sagte?“

      Tante Josephine beugte sich vor, ihre Augen blitzten vor Neugierde, ihre Grübchen bebten: „Nun?“

      Der Vater trank die Tasse leer und setzte sie auf den Teller. Dann sagte er laut und mit Nachdruck:

      „Der Tormasche ist der Ansicht: wenn Gott nimmt – dann nehme ich auch!“

      Der Vater lachte dröhnend.

      Tante Josephine saß wie erstarrt da. Tante Constance verschüttete fast den Kaffee. Dann sagte der Vater:

      „Aber ich glaube, es ist Zeit! Aurel, laß Marz vorfahren!“

      Die Kalesche schaukelte, von den Heuschlägen wehte es feucht und kühl. Weiße Nebel hingen über dem moorigen Fluß, der sich zwischen Ellerngestrüpp durch die Wiesen schlängelte. Gelb und rund watete der Mond über den schwarzen Morast.

      Dann kamen die Laiskumschen Wälder, die endlose Laiskumsche Allee.

      „Die hat noch Großonkel Paul angelegt“, erzählte die Mutter, „er wollte die längste Allee haben. Aber dann pflanzte Großonkel Rembert in Katlekaln heimlich eine Eichenallee, die noch länger war, und lud Großonkel Paul ein. Aber der hat sich so darüber geärgert, daß er den Kutscher gleich umkehren ließ, und seitdem ist der Laiskumsche nie mehr nach Katlekaln gekommen!“

      „Wenn Onkel Arnold nur nicht wieder einen Schwips hat“, lachte der Vater, als sie vorfuhren.

      Was ist Schwips? grübelte Aurel neugierig, ich muß mal aufpassen.

      Da schmetterte schon eine ohrenbetäubende Blechmusik: Onkel Arnold hatte seine Hauskapelle auf der Veranda aufgestellt, jeder Knecht bearbeitete ein Instrument, Trompeten, Hörner und Trommeln. Er selbst war Kapellmeister und fuchtelte wild mit einem Stock in der Luft herum.

      Ja, Onkel Arnold komponierte sogar Jagdsignale und Märsche. Und er stellte nur Knechte an, die tüchtig blasen oder wenigstens trommeln konnten.

      Aber Aurel konnte nirgends den „Schwips“ entdecken. Der Onkel war nur immer sehr fidel. Er war fast so lang wie seine Allee und hatte einen spitzen Ziegenbart.

      Um so ernster war Tante Sascha. Diese Tante lachte nie. Ihre Wangen waren vielleicht zu glatt und zu hart, so daß sie einfach nicht lachen konnte. „Aber Arnold!“ sagte sie nur. Und wenn der Onkel sich noch ein Glas Wein eingoß, wurde sie noch ernster.

      Onkel Arnolds große Liebe waren Likörchen, die er nach besonderem Rezept herstellte, und den ganzen Tag mußte er sie probieren: Buchsbeeren, Himbeeren, Kirschen, Kranzbeeren, Pielbeeren – auf allen Fensterbrettern standen die dickbauchigen, rotschwarzen, bernsteingelben, rosigen und blutroten Flaschen. Aurel durfte einmal davon schmecken: es brannte wie süßes Feuer auf der Zunge.

      „Aber Arnold!“ sagte Tante Sascha.

      „Ein Likörchen kann niemals schaden!“ meinte der Onkel. „Man soll nur nicht übertreiben!“

      „Und wann übertreibt man?“ fragte die Mutter.

      „Wenn man nicht mehr eingießen kann!“ lachte Onkel Arnold und goß sich wieder ein Glas voll. „Prost!“

      Tante Sascha seufzte tief. Sie konnte nicht einmal lächeln. Ihr glattes Gesicht war wie aus Hartgummi.

      Nach dem Kaffee wurde die Brettdroschke angespannt, und Aurel durfte mitfahren. Die Mutter und die Tante blieben zu Hause.

      „Krebsen ist nichts für Damen“, hatte Onkel Arnold erklärt, als er schmunzelnd eine dicke Flasche im Korb verpackte.

      Runde Kescher, Stangen und ein Sack mit gehäuteten Fröschen lagen unten auf dem Fußbrett. Tof und Aurel hatten den ganzen Tag Frösche fangen müssen – es war eine aufregende Jagd gewesen. Dann hatte der Stalljunge immer einen Frosch nach dem andern aus dem Sack genommen, an den Hinterbeinen langgezogen und gegen die Mauer geklatscht. Als alle tot waren, wurden sie mit dem Messer gehäutet. Aber da war Aurel fortgelaufen. Und jetzt, auf der Brettdroschke, zog er immer die Beine hoch, wenn der unheimliche Froschsack zu ihm rutschte.

      Von der Buschwächterei mußten sie noch ein gutes Stück bis zum moorigen Wiesenfluß zu Fuß gehen. Es dunkelte schon, der sumpfige Grasboden quatschte und schwankte bei jedem Schritt, kalt und feucht standen dünne Nebelschwaden in der Luft. Auf einer Anhöhe am Flußufer wurde ein Feuer gemacht und ein Kessel mit Wasser daraufgesetzt. Dann wurden die Kescher mit den gehäuteten Fröschen an den Stangen im Wasser ausgelegt. Das Feuer lockte die Krebse, und jedesmal, wenn einer im Netz hochgehoben wurde, plumpste er in das kochende Wasser. Nur die kleinen kamen wieder in den kalten Fluß zurück, aber sie durften nie hineingeworfen, sondern immer nur vorsichtig am Ufer mit dem Schwanz ins Wasser hingelegt werden:

      „Sonst ertrinken sie vor Schreck“, erklärte Onkel Arnold, „nur wenn sie von selbst rückwärts hineinspazieren, bleiben sie leben!“

      Der Kessel füllte sich immer mehr mit kochenden Krebsen, die roten wurden herausgefischt und gleich verspeist: man riß ihnen die Schwänze ab, sog das salzige Dillwasser aus dem geöffneten Bauch, zerbrach die gepanzerten Scheren und Schwänze und holte das zarte, rosaweiße Fleisch hervor. Daß war keine leichte Arbeit, Onkel Arnold mußte sich immer wieder mit der Kümmelflasche stärken. Auch der Vater nahm dann und wann einen Schluck. Noch nie hatte Aurel ihn so vergnügt gesehen. Überhaupt war er auf der ganzen Reise wie verwandelt: machte immerfort Späße mit den Jungen, lachte, erzählte komische Geschichten. Es war, als