Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

Читать онлайн.
Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



Скачать книгу

sie, wie verzweifelt er gewesen war, wie er diesen Schmerz nie überwinden konnte. Er lebte nur noch in Erinnerungen, in Gedanken an seine tote Frau. Damals legte er den großen Park um den Kapellenberg an, ließ den ganzen See ausgraben – früher war das alles nur ein Moor gewesen –, und mit der ausgegrabenen Erde die drei Inseln aufschütten, jede in der Form eines Buchstabens: I S A, so daß der Name der Toten für alle Zeiten in den See geschrieben steht. Aber auch das genügte ihm nicht. An seinem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag verließ er das Schloß und siedelte auf den Kapellenberg über, wo er neben der Kapelle in einer einfachen Kammer als Einsiedler hauste und bald darauf auch starb.

      Aurel hörte aufmerksam zu. Dieser unglückliche Großvater beschäftigte ihn viel. Wenn er den ganzen See und die drei Inseln nur aus Kummer über den Tod von Großmama ausgraben ließ, dann mußte er wirklich sehr traurig gewesen sein. Und auch er hatte dann schließlich wie dieser merkwürdige russische Graf alles verlassen und war als Einsiedler auf dem Kapellenberg gestorben.

      Wenn dann Großtante Ernestine vom Erzählen müde wurde, brachte Tante Leocadie, die immer lautlos durch die Zimmer ging oder noch lautloser dasaß und an einer Gabelschnur arbeitete, eine große Schachtel mit uralten hölzernen Spielsoldaten, die Aurel und Boris auf dem Fußboden aufstellten. Diese Soldaten hatte Großonkel Barclay de Tolly, als er Napoleon mit den Verbündeten gefangen hatte, aus Paris nach Hause gebracht. Es waren also ganz echte gefangene und eroberte französische Soldaten von Napoleon, bald hundert Jahre alt, mit denen man natürlich ganz anders spielen konnte als mit den gewöhnlichen aus Zinn, die bei Vierecke in Riga gekauft wurden.

      Aber noch schöner war es, wenn Tante Leocadie ein längliches Holzkästchen auf den Tisch stellte, an einer Schraube drehte, und wenn dann eine dünne, seltsame Musik wie von lauter winzigen Silberglöckchen durch die Dämmerung summte. Es war immer dieselbe Melodie, eine zärtliche, schmerzliche und doch heitere Melodie, die einen gleichzeitig sehr traurig und auch sehr glücklich machte.

      „Diese Spieldose“, erzählte Großtante Ernestine – jetzt in der Dämmerung konnte man nur ihre Stimme hören –, „hat deine Großmutter als Kind bekommen, und sie liebte sie so, daß sie sich nie von ihr trennte. Wenn ich sterbe, soll deine Mutter sie haben!“

      Dann zündete Tante Leocadie die Petroleumlampe an, und die Jungen packten die Soldaten wieder in die Schachtel.

      „Was wollt ihr eigentlich werden?“ fragte Großtante Ernestine beim Abschied, und wieder brannte ihr forschender Blick bis auf den Grund der Seele.

      „Soldat!“ rief Boris.

      „Und warum Soldat?“ fragten die Augen belustigt.

      „Weil Krieg das schönste ist!“ erklärte Boris.

      Die Augen wurden ernst und bekümmert, aber sie lächelten noch immer: „Ist das so schön – Menschen zu töten?“

      Aber Boris ließ sich nicht abschrecken:

      „Kämpfen ist schön“, meinte er, „und das kann man nur, wenn man Soldat ist!“

      Da sagte die Großtante – ihre Stimme war leise, aber sie drang bis in das Innerste und blieb dort haften:

      „Man kann auch ohne Waffen kämpfen – für Gott!“

      Dann fragte sie Aurel, was er werden wolle.

      „Ich will Musik machen“, sagte Aurel; und erst jetzt, als diese Augen ihn fragten, war er sich dessen bewußt geworden. Noch nie hatte er darüber nachgedacht.

      „Musik“, wiederholte Großtante Ernestine, „das ist schön. Damit kannst du viele Menschen glücklich machen!“

      Aber wie sollte er Musik machen? Nicht einmal auf der Weidenflöte und der Mundharmonika konnte er spielen! Und singen schon gar nicht. Während der Morgenandacht im Saal, wenn alle aus dem Gesangbuch den Choral sangen, brummte er nur leise mit. Und auch das tat er nur, wenn niemand es hörte. Als er einmal mit Warinka in ein Gesangbuch sehen mußte, bewegte er nur die Lippen.

      „Aber du singst ja gar nicht mit!“ hatte sie ihn nachher geneckt. „Warum bewegst du dann den Mund?“

      Seitdem hielt er auch die Lippen geschlossen.

      Wenn man so singen und so spielen könnte wie Tante Madeleine! Oder wenigstens wie die Spieldose! Manchmal, wenn Aurel allein war, hörte er eine Musik. Aber er hörte sie nur ganz tief in sich drinnen, wie ein feines Summen, und wie sollte er dieses Summen aus sich herausholen, so daß auch andere es hören konnten?

      Als die Jungen ins Große Haus heimkehrten, brannten Lichter in allen Fenstern. Und als sie die Steinstufen hinaufstiegen und aus der Kälte und Dunkelheit in den Flur traten, schlugen ihnen wohlige Wärme und blendende Helligkeit entgegen.

      Und durch die offenen Flügeltüren tönten Musik und Gesang.

       Der Kapellenberg

      Es wurde Winter. Der Schneepflug zog knirschend um den verschneiten Platz, dicke Schneemauern türmten sich zu beiden Seiten der Anfahrt. An den Fensterscheiben im Schulzimmer wuchsen Frostblumen. Auf dem See war ein Stück vom Schnee frei gefegt worden, die Jungen und Mädchen, Mademoiselle, Miß Mabel, ja sogar Tante Madeleine liefen hier am Nachmittag Schlittschuh.

      Herr Bjelinski stapfte in hohen Galoschen im Schnee. Nein, auf das Glatteis ging er nicht. Hat das einen Sinn, immer in der Runde zu laufen?

      „Aber das ist doch so gesund“, rief Tante Madeleine, „und so schön!“

      „Immer in der Runde, ist das so schön?“ spottete Herr Bjelinski. „Man muß doch auch vorwärts kommen!“

      Und er stapfte weiter. In seinem schwarzen Stadtmantel, mit der schwarzen Karakulmütze und dem schwarzen Fransenbart sah er im weißen Schnee wie ein Gespenst aus.

      Auch Boris und Aurel fanden das Schlittschuhlaufen ein wenig langweilig, besonders, weil die Mädchen immer dabei waren. Und dann mußte man mit Mademoiselle und Miß Mabel laufen, französisch und englisch sprechen, immer „n’est-ce pas“ und „isn’t it“ sagen – „oui, mademoiselle, la journée est magnifique!“ Oder „how lovely!“ – lauter Quatsch und dazu immer in der Runde laufen!

      Viel schöner war es, wenn die Jungen die alte Jurka vor die Ragge anspannen und mit ihr spazierenfahren durften. Sie saßen im niedrigen, flachen Schlitten auf einem Strohsack, die Beine in dicke Schaffelle eingewikkelt, und kutschierten abwechselnd. Sie fuhren auf der Landstraße, bogen dann in den verschneiten Wald ein, durch dichte junge Schonungen zur Fasanenfutterstelle. Manchmal sahen sie den großen Vogel mit dem langen rostroten Schweif über die Schneise streichen. Oder sie kutschierten zur kleinen Bude beim Kruge und fragten den zappligen, rundlichen Mann, der hinter seinem Ladentisch immer so tiefe Bücklinge machte, nach den unmöglichsten Dingen, nur um seine unerschütterlich immer gleiche Versicherung zu hören:

      „Solche is nich, kommt nächste Woche!“

      Aber einmal kauften sie sich doch etwas: zwei kurze Tonpfeifen mit silbernem Deckel. In der alten Scheune sammelten sie dann Klee- und Heustaub, der zwischen den Balken lag, stopften damit die Pfeifenköpfe und schmauchten nun ganz so wie die Bauern, behaglich ausgestreckt auf der gleitenden Ragge. Das eine Bein baumelte über den Schlittenrand, um ein plötzliches Umkippen zu verhindern. Der Kleetabak brannte gut, stank aber und kratzte schrecklich im Halse. Keiner wollte es dem andern gestehen. Ein wenig grün im Gesicht kamen die Jungen zu Hause an. Die Pfeifen wurden sorgfältig hinter den Schulbüchern versteckt.

      Als es taute, errichteten Aurel und Boris mitten auf dem Platz vor dem Hause eine gewaltige Schneeburg mit dicken Mauern und hohen Türmen. Dann krochen sie hinein, und Krischjan und Dirick, die Söhne vom Viehpfleger, mußten die Burg beschießen. Aber sie wagten gar nicht, richtig scharfe Schneebälle zu werfen, und sobald Boris und Aurel einen Ausfall machten, rannten sie kreischend davon. Einmal erwischte Boris den langen Krischjan, riß ihn in den Schnee und wusch sein Gesicht ab.

      Da stapfte gerade Herr Bjelinski um die Hausecke:

      „Schämst