Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Aber man braucht nicht einmal etwas mit den Händen oder mit den Füßen zu befühlen, manchmal genügt es schon, wenn man nur schnuppert.
Da sind die Weichselholzpfeifen des Vaters; die stehen im Schreibzimmer in der Ecke am Fenster, aufgereiht auf dem runden Pfeifenständer. Und wenn der Vater nicht zu Hause und die Tür offen ist, beriecht Aurel manchmal heimlich die süßlich duftenden Rohre, die gelben Bernsteinmundstükke, die einen kalten, bitteren Tabakgeruch ausströmen. Oder er zerreibt ein Blatt vom Buchsbeerstrauch: wie das duftet! Das ist der schönste Geruch, den er kennt. Oder er sucht auf dem Heuschlag am Waldrande die weißen Kerzen der Nachtviolen, die am Abend so betäubend duften, daß man sie auf die Veranda hinausstellen muß.
Aber auch ganz gewöhnliche Geräusche können Aurel sehr glücklich machen: das Knarren vom Ziehbrunnen, das Wäscheklopfen unten beim Waschhaus und mittags und abends das Geklapper mit dem Klöppel auf dem in der Luft baumelnden Brett, wenn die Knechte zum Essen kommen sollen. Die klagenden Rufe des Viehhüters: „Maja, maja, maja!“ – das Blöken der heimkehrenden Herde.
Und dann kam der Abend, die Nacht, in der die Stimmen und Klänge überhaupt nicht verstummten, die bis in den Morgen vom Gesang der Leute und vom Gebrumm der Ziehharmonika erfüllt war. Bei Indrik, dem Gärtner, fing es an: dort versammelten sich die Knechte, Mägde und Weiber. Singend – ein schwermütiger, eintöniger Gesang – kamen sie auf den Hof gezogen, auf den Rasenplatz vor die Veranda. Das Lied hatte unzählige Verse, aber immer dieselbe Melodie, dieselbe klagende Anrufung des heidnischen Sonnengottes: „Ligoa, Ligoa, Ligoa!“
Alle Mägde und Knechte tragen Blumen-, Laub- und Beerenkränze auf den Köpfen, oft viele Kränze aufeinander, die sich tief in die Gesichter drükken, so daß es von der Veranda aussieht, als stände und sänge dort ein Wald von mächtigen Gras- und Blätterkränzen.
Karlin und die schwarze Tina laufen die Stufen herauf und hinunter. Sie schenken Bier und süße Himbeerlimonade aus und tragen gewaltige Schüsseln umher mit Kuchen und gelbem Johanniskäse. Karlomchen füllt immer wieder die Krüge und Karaffen. Und dann fliegen die Kränze auf die Veranda, die Mutter bricht fast unter der Last, die sich auf ihrem Kopf türmt, zusammen. Auch Aurel steht da mit einem schweren Blumen- und Blätterturban, der sich tief über seine Augen senkt, so daß er nur noch zwischen herunterhängenden Grashalmen und Laubgewirr sehen kann, wie die Knechte und Mägde auf dem Rasenplatz tanzen, während Mickel auf der Ziehharmonika spielt. Endlich wandern die Leute singend durch die Allee zum Krug; immer weiter entfernt sich der Gesang, aber er verstummt nicht, und die windstille Luft trägt die Stimmen noch lange von der Landstraße her in die weiß dämmernde Sommernacht.
Und oben auf der höchsten Birke beim Eiskeller lodert eine Teertonne, und überall hinter den weiten Heuschlägen und dunklen Wäldern flammen rote Feuergarben auf in den blaßgrünen Himmel.
Aurel darf länger aufbleiben. Es geht mit der Mutter in die Allee, und dort, am Stamm einer alten Linde, setzen sie sich auf eine Bank.
„Hörst du?“ fragt die Mutter.
Und er hört: aus dem Kleefelde tönt ein heller Vogelruf: „Ki–zoi–witt, ki–wi–witt, ki–wi–witt!“
Dann ist es wieder still.
„Das ist die Schlagwachtel“, sagt die Mutter, „und immer schlägt sie dreibis fünfmal, nie mehr und nie weniger!“
Und immer zählt Aurel: drei Schläge, vier Schläge, fünf Schläge, dann verstummt der Vogel. Und nur die Schnarrwachtel knarrt unermüdlich und ohne Pause.
„Nie mehr und nie weniger“, wiederholt die Mutter seufzend. „Drei Monate, dann ist der Sommer zu Ende, und fünf Monate, dann ist es wieder Winter. Aber jetzt mußt du ins Bett!“
Aurel nimmt die vielen Kränze mit und hängt sie am Bettpfosten über dem Kopfkissen auf. Wie die Wiesenblumen und Gräser duften! Ein Kranz ist voll überreifer Walderdbeeren, die süß auf der Zunge zergehen.
Aber noch lange liegt Aurel wach.
Durch das offene Fenster wehen vom Krug Gesang und Harmonikagedudel, quarren die Frösche im Teich, meckert weit auf dem Heuschlag eine Bekassine, bellt ein schreckender Rehbock im Wald. Die weiße Johannisnacht singt mit all ihren Stimmen das Lied vom kurzen Sommer.
Die große Kalesche
Die große Kalesche mit dem Viererzug steht vor der Veranda; Marz sitzt in seinem blauen Kutscherrock mit den Silberknöpfen und dem enggeschnürten Gürtel dick und steif auf dem Bock; Janz und die schwarze Tina binden hinten unter dem zurückgeklappten Verdeck den großen Reisekoffer auf; Karlin rennt aufgeregt mit einer Hutschachtel, Handtaschen und Plaids hin und her; Karlomchen hält den Speisepaudel in der Hand.
Tof sitzt schon neben Marz auf dem Bock. Dann steigen die Mutter und der Vater ein, in weißen Staubmänteln, zuletzt klettern Adda und Aurel auf das blau gepolsterte Bänkchen, das auf der Rückseite des Bockes vor den Füßen der Eltern aufgeklappt ist.
Schon ziehen die Pferde an, da ruft die Mutter: „Der Schirm! Der Schirm!“ und Marz muß noch einmal halten. „Der Schirm!“ ruft die schwarze Tina. „Der Schirm!“ Fömarie. Alles ruft: „Der Schirm!“ Aber da kommt schon Karlomchen mit dem Schirm angerannt, die Kalesche rollt um den runden Rasenplatz, alles winkt von der Veranda, und dann biegt der Wagen in die Allee.
Diesmal ist es eine weite Reise, eine „Wurstpartie“, sagt der Vater: „Wo die eine Wurst aufhört, da fängt die andre an!“ Und die Würste, das sind die vielen Onkel und Tanten.
Balthasar und Reinhard werden nämlich in Altschwanensee konfirmiert, und da kann man auf dem Wege dorthin die vielen Verwandten abgrasen.
Zuerst kommen die Mojahnschen an die Reihe. Onkel Leopold hat noch immer Haarbüschel in den Ohren und Nasenlöchern und den Gummistock mit dem Elfenbeingriff. Und Tante Melanie häkelt an einem neuen Wunderknaul. In Mojahn sind alle gelben Rouleaus heruntergelassen, damit es kühl bleibt und die Sonne nicht blendet. Auf dem Fensterbrett stehen überall Teller mit lila Fliegenpapier, auf denen es von toten und halbtoten Fliegen wimmelt. Onkel Leopold kämpft einen erbitterten Kampf gegen alles, was er „Biester“ nennt, und Fliegen und Russen sind „Biester“.
„Ich begreife nicht“, sagt er und stelzt, auf den Stock gestützt, mit einer Fliegenklappe von einer Wand zur andern, „ich begreife nicht, warum der liebe Gott diese Biester geschaffen hat!“
Und jedesmal wenn die Klappe klatscht, erklärt er feierlich: „Iwan, du bist tot!“
Dann führt er Aurel und Christof in sein Schlafzimmer.
„Für jede Fliege“, sagt er, „die ihr hier fangt, schenke ich euch ein silbernes Zehnkopekenstück!“
Darauf schloß er die Tür, und Aurel und Tof blieben allein im unheimlich dunklen, von blauen Gardinen verhängten Raum. Irgendwo hoch oben am Fenster summte eine Fliege. Tof kletterte aufs Fensterbrett, konnte sie aber nicht fangen.
„Das machen wir einfacher“, sagte er, sprang herunter, öffnete leise die Tür und kam bald mit zwei gefangenen Fliegen zurück.
„Aber die hast du nicht hier gefangen!“ meinte Aurel.
„Doch“, versicherte Tof eifrig, „ich werde sie hier fangen!“ Damit ließ er die Fliegen los und brachte gleich neue. Dann fing er sie an der Fensterscheibe und zerquetschte sie mit dem Daumen.
„Du kannst auch eine zerquetschen“, sagte er großmütig.
Aurel hielt eine Fliege zwischen den Fingern, als er aber sah, daß er ihr den Flügel ausgerissen hatte, ließ er sie los und lief entsetzt fort.
Am Nachmittag ging Onkel Leopold mit dem Vater und Aurel über den Hof. Die Knechtskinder