Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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erhob sich und lief heulend davon.

      „Und ist das nicht auch feige, mit jemand zu kämpfen, der sich nicht wehrt?“ fragte Herr Bjelinski, und seine Stimme bebte.

      „Aber warum wehrt er sich denn nicht?“ erwiderte Boris entrüstet. Schmal, mit geröteten Wangen stand er da, die braune Samtmütze schief auf dem Kopf.

      „Weil du der Herr bist, wagt er es nicht, dich anzufassen“, sagte Herr Bjelinski, und in seinen schwarzen Augen war wieder das Feuer, vor dem man den Blick senken mußte. „Und weil du der Herr bist, darfst du deine Macht nicht mißbrauchen!“

      „Dann dürfen wir also nicht mit den Jungen spielen?“ fragte Aurel bekümmert.

      „Spielen dürft ihr“, sagte Herr Bjelinski, „aber das ist kein Spiel, wenn ihr die Jungen, die sonst nichts anzuziehen haben, in den Schnee schmeißt und mit Schnee abreibt!“

      Wieder war diese unsichtbare Mauer da: man konnte nicht hinüber, man war abgesperrt von allem, was hinter der Glaswand lag. Und wenn man sie mal durchbrechen wollte, zerschnitt man sich nur die Finger. Da blieb man lieber drinnen und gewöhnte sich daran, wie die Pflanzen im Treibhaus unter schützendem Glas zu leben.

      Ja, es war warm und hell hinter den vielen erleuchteten Fenstern, auf dem spiegelnden Parkett, auch wenn es draußen dunkel wurde und der eisige Nordwind über den See und die endlosen Wälder fegte. Und immer waren frohe Stimmen, ein helles Lachen in der weiten Flucht der Zimmer, immer das leise Gebuller brennender Birkenscheite in den vielen Kachelöfen, das Getrappel von Kinderfüßen auf dem Parkett und den knackenden Treppen.

      Und immer gab es Besuch: vom Pastorat, vom Doktorat, von den vielen Nachbarn und Verwandten. Schon an den verschiedenen Schlittenglocken und am Schellengeklingel konnte man hören, wer gerade vorgefahren kam. Die Pastoratsglocke war ganz tief und dumpf, die vom Doktorat bimmelte grell und aufgeregt; die Laiskumschen hatten immer zwei Glocken: eine brummende und eine lustig klimpernde; „die brummende, das ist Sascha, und die klimpernde – Arnold“, meinte Onkel Nicolas. Der Tormasche Baron Igelströhm hatte ein ganzes Glockenspiel, es hieß, zum Andenken an seine vielen Frauen. Der Paykulsche Herr von Dunten, ein alter Junggeselle, hatte nur Schellen, und wenn er kam, drückte er dem Diener gleich sein Nachthemd in die Hand, damit es in der Ofenröhre gewärmt wurde. Tante Olla hatte ein Ungeheuer von Glocke, die man wersteweit hörte. „Wo hast du diese Kirchenglocke gestohlen?“ fragte Onkel Nicolas sie. Nur der alte Mojahnsche fuhr immer ohne Geläut: „Ich kann dies Gebimmel nicht ausstehen“, erklärte er, „ich bin doch keine Kuh mit einer Glocke um den Hals!“

      Aber richtig voll wurde erst das Haus, als die zwei italienischen Nichten von Tante Madeleine aus Mailand kamen: Laura und Nena.

      Beide waren unheimlich schwarz, Laura ein wenig rundlich, Nena ganz schmal, und beide hatten nur Unsinn und Streiche im Kopf. Unglaublich, was sie zusammen mit Isa, Maurissa und Warinka alles anstellten; Mademoiselle und Miß Mabel waren natürlich auch mit ihnen im Bunde. Besonders hatten sie es auf den armen Herrn von Dunten abgesehen: Die Ärmel seines in der Ofenröhre gewärmten Nachthemdes wurde zugenäht. Zum Frühstück bekam er Zucker ins Salzfaß. Unter sein Laken wurden Pferdestriegel gelegt – die scharfen Kanten nach oben.

      Auch Herr Bjelinski wurde nicht verschont. Um ihn an Hühnerfleisch zu gewöhnen, sperrten die Cousinen zwei Gockel in seinen Schrank, die ihn dann am Morgen mit lautem Gekrähe weckten. Als er, noch ganz verschlafen, entsetzt die Schranktür aufriß, schossen die Hähne ihm fast ins Gesicht und flatterten kreischend durchs Zimmer.

      Jetzt nahm der Krieg immer größeren Umfang an, denn Herr Bjelinski machte mit den Jungen einen Gegenangriff: Es wurden Flaschen mit getrockneten Erbsen und Wasser gefüllt und mit offenen Hälsen gut versteckt auf Schränken und hinter Kommoden in den Schlafzimmern der Cousinen aufgestellt. Langsam quollen die Erbsen, stiegen durch den Flaschenhals hinauf und kullerten, immer in kleinen Pausen, mit lautem Gepolter auf den Fußboden. Die Rache der Cousinen war noch fürchterlicher: Unter Herrn Bjelinskis Bett wurde eine große Kuhglocke angebunden, die an einer Schnur gezogen werden sollte. Aber Herr Bjelinski entdeckte die Schnur, und in der nächsten Nacht bimmelte die Glocke am Fensterladen der Cousinen.

      Bei dieser Gelegenheit kam es sogar zu einem richtigen Handgemenge. Boris und Aurel waren im Nachthemd durch den dunklen Korridor bis vor die Tür der Cousinen geschlichen, um sich das Glockengeläute besser anzuhören. Plötzlich öffnete sich die Tür, etwas Helles schimmerte in der Finsternis, schrie auf, gleich darauf stürzte die weibliche Übermacht auf sie los. Es kam zu einer erbitterten Wasserschlacht im Dunkeln: Von beiden Seiten wurden immer neu gefüllte Gläser herangeschleppt und gegen den Feind gespritzt. Aurel geriet ins Handgemenge. Zwei erhitzte Gesichter stießen keuchend gegeneinander. Aber in diesem Augenblick tauchte am Ende des Korridors Lims erschrockener Pferdekopf hinter einer Petroleumlampe auf – da liefen die kämpfenden Nachthemden auseinander.

      Am nächsten Tag hatten Aurels Stirn und Nenas Kinn eine kleine Beule.

      Aber auch völlig Unbeteiligte wurden in diesen aufregenden Krieg hineingezogen. So zum Beispiel Tante Sascha und die alte Pastorin Nötkens. Die Cousinen hatten die Teller der beiden Damen mit Siegellack an einem dünnen weißen Faden befestigt, der unter das Tischtuch gezogen und von der anderen Seite gezupft wurde; jedesmal, wenn Tante Sascha einen Bissen vom Kotelett auf die Gabel stecken wollte, hüpfte der Teller davon – fassungslos, mit weit aufgerissenen Augen, starrte sie auf dies Phänomen. Die alte Pastorin hielt ganz rot vor Erregung den hüpfenden Teller mit beiden Händen fest, aber sobald sie nach der Gabel griff, fing das Kotelett wieder an zu tanzen.

      Onkel Arnold bekam Zuckerwasser in die Schnapsflasche und Himbeerlimonade ins Rotweinglas. Um sich vom Schreck zu erholen, stürzte er gleich zwei Allaschkümmel hinunter.

      „Aber Arnold“, seufzte Tante Sascha.

      „Willst du auch einen?“ Höflich füllte er ein drittes Glas, und als sie den Kopf schüttelte, spülte er es selbst in die Gurgel.

      Nach dem Essen wurde getanzt: Pas de Quatre, Pas de Patineur, Papillon, Lancier und Française. Tante Madeleine und Pastor Nötkens spielten abwechselnd auf dem Flügel; die Teppiche wurden aufgerollt, die Tische zur Seite geschoben. Aber immer waren zu wenig Herren da, so daß der dicke Baron Igelströhm, der kurzsichtige und ängstliche Herr von Dunten und der lange Onkel Arnold mit dem Ziegenbart und dem „Schwips“ um so eifriger tanzen mußten.

      Herr Bjelinski tanzte nie. Er spielte mit Onkel Nicolas oder mit Pastor Nötkens im Petit-Salon Schach, oder er saß irgendwo finster in einer Ecke und zupfte an seinem schwarzen Fransenbart.

      „Ich bin doch kein Narr“, sagte er, „so sinnlos in der Runde zu hüpfen!“

      „Und das Schachspiel“, fragte Tante Madeleine, „hat das etwa einen Sinn?“

      „Das stärkt den Intellekt“, erklärte Herr Bjelinski, „das ist geistige Gymnastik!“

      „Und warum soll der Körper nicht auch Gymnastik treiben?“ lächelte Tante Madeleine.

      „Das soll er auch“, versetzte Herr Bjelinski, „aber Tanz ist keine Gymnastik. Tanz erregt nur die niedrigsten Sinne und schwächt den Intellekt.“

      „Und die Sinne sind eine Erfindung des Teufels?“ lachte Tante Madeleine.

      „Ja“, erwiderte Herr Bjelinski ingrimmig. „Die Teufel tanzen! – Aber die Engel singen!“ fügte er mit einem aufleuchtenden Blick hinzu.

      „Tolstoi hat auch getanzt und sogar sehr viel getanzt!“ polterte Pastor Nötkens, der die letzten Worte gehört hatte. „Erst als er nicht mehr tanzen konnte …“

      „Um Gottes Willen – nur nicht Tolstoi!“ unterbrach ihn Tante Madeleine. „Aber Sie, lieber Pastor, können noch tanzen!“

      Dann spielte die Pastorin einen alten Ländler, und Tante Madeleine und Pastor Nötkens drehten sich langsam im Kreise, und alle sahen zu. Der Pastor setzte so feierlich die Füße, er hielt den Kopf mit dem silberweißen Haar ein wenig zur Seite, und sein rosiges, bartloses Gesicht bekam einen kindlich-glücklichen Ausdruck. Und wie tanzte Tante