Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
„Mon Dieu – un chien!“ schrie Mademoiselle und sprang entsetzt auf.
Miß Mabel bückte sich, spähte unter das Sofa und brach in lautes Gelächter aus. Und dann waren mit einem Male lauter Beine, lauter lachende Gesichter da – die Cousinen, Tante Madeleine, Fräulein Kleeberg, Lim, sogar Onkel Nicolas und Pastor Nötkens – wie zwei aufgescheuchte Hasen sprangen die Jungen aus ihrem Versteck und rasten mit fliegenden Nachthemden die Treppe hinauf. Zum Glück war auch dies für Tante Madeleine kein „Granché“. Nur mußten die Jungen von jetzt an versprechen, wirklich schlafen zu gehen, und das taten sie auch. Aber dafür ließen sie die Türen offen, so daß sie den Gesang bis in ihre Betten hören konnten.
Und dann, an einem Abend, kam Herr Bjelinski, der Hauslehrer, ein Mann mit kohlschwarzen Augen und kohlschwarzen, krausen Barthaaren, die wie Fransen um sein bleiches, mageres Gesicht hingen. Er sagte zu Onkel Nicolas „Du“ – sie hatten zusammen in Dorpat studiert. Aber Tante Madeleine küßte er niemals die Hand. Und nie aß er Fleisch.
„Wie kann man Leichen essen“, sagte er und nahm einen Teller Buchweizengrütze.
„Auch Hühner sind eine Gabe Gottes“, meinte Pastor Nötkens, der die Serviette vor die Brust gesteckt hatte und mit Behagen an einem knusprigen Hühnerbein knabberte.
„Du sollst nicht töten!“ erwiderte Bjelinski finster.
„Ich töte kein Tier“, erklärte der Pastor und sog das Mark aus den Knochen.
„Aber Sie essen es“, entgegnete Herr Bjelinski mit Abscheu.
„Warum soll ich es nicht tun, wenn sonst ein anderer es täte?“ lachte der Pastor und wischte sich die fettigen Finger an der Serviette ab.
„Mit diesem bequemen Grundsatz ist alles erlaubt“, stieß Herr Bjelinski heftig hervor. „Warum soll ich nicht in den Krieg gehen und Menschen töten, wenn sonst ein anderer es täte?“
„Hühner und Menschen sind nicht dasselbe“, meinte der Pastor und griff nach dem Weinglas.
„Öfter als man glaubt“, versetzte Herr Bjelinski boshaft. „Es gibt nur eine Moral: du sollst dem Übel nicht widerstehen, du sollst …“
„Aber ich widerstehe ja gar nicht dem Übel!“ fiel ihm der Pastor lachend ins Wort. „Übrigens, dieser verrückte Tolstoi wäscht sich die Hände mit Eau de Cologne …“
„Bitte, nur nicht wieder Tolstoi!“ schnitt Tante Madeleine lächelnd die Diskussion ab und hob die Tafel auf.
Aber während des Unterrichts erzählte Herr Bjelinski viel von diesem merkwürdigen russischen Grafen, den er oft besucht hatte und der für ihn der einzige wahrhafte Christ war. Und was er sagte, machte tiefen Eindruck auf Aurel. Da war ein reicher, mächtiger Graf, viel reicher als der Vater, der all sein Land den Bauern geschenkt hatte und selbst wie ein Bauer lebte. Und wenn Herr Bjelinski von ihm erzählte, leuchteten seine kohlschwarzen Augen, und sein bleiches, vom dunklen Bart umkränztes Gesicht bekam einen elfenbeinernen Glanz.
Aber furchtbar waren seine Augen, als er einmal Boris und Aurel zu sich ins Zimmer rief.
„Was habt ihr getan?“ fragte er, und seine Stimme bebte.
„Den alten Gockel gejagt“, antwortete Boris.
„Und warum habt ihr das getan?“
Weil wir Krieg spielten“, sagte Boris unbekümmert.
„Ist das ein ritterlicher Kampf: ein armes, wehrloses Tier zu jagen?“ Die schwarzen Augen loderten so, daß die Jungen den Blick zu Boden schlagen mußten. Dann hörten sie eine tonlose, eindringliche Stimme:
„Ich strafe nie. Euer Gewissen wird euch selbst strafen. Denkt mit aller Kraft an die grausamen Qualen, die ihr dem unglücklichen Tier zugefügt habt, und betet zu Gott, daß er euch verzeiht!“
Der Gockel wurde nie mehr gejagt und die Speere nur noch selten aus der Eichenhöhle hervorgeholt. Dann legte sich eine dünne Eisdecke auf den See, und das Boot wanderte ins Bootshaus. Mit dem Indianerkrieg war es aus. Statt dessen zimmerten die Jungen unter Herrn Bjelinskis Anleitung mächtige bunte Drachen und ließen sie im Oktobersturm hoch in den Himmel steigen.
Die gelbroten Ahornblätter liegen dürr wie Papier in der kahlen Allee, an manchen Stellen hat der Wind sie zu hohen Haufen zusammengefegt. Auch die Bäume im Park stehen leer und nackt wie Skelette, so daß man vom Schulzimmerfenster bis zum Kapellenberg am See und unten am Bach bis zum Alten Haus durchblicken kann.
Aurel hebt manchmal den Kopf von der lateinischen Grammatik, die er nicht leiden kann, und auch Boris stöhnt leise vor sich hin, wenn sie ihre Aufgaben machen sollen, statt draußen zu spielen. Beide Jungen sitzen da, bohren die Ellbogen in den Tisch, den Kopf in die Fäuste, die Daumen in die Ohren, aber die Augen lassen sich nicht von der Deklination festhalten, sie wandern zuerst vorsichtig auf die Tischplatte, betrachten aufmerksam eine Rille, einen Tintenfleck, der beinahe wie ein Hundekopf aussieht, man müßte nur noch das eine Ohr verlängern – und schon tastet die Hand zum Federstiel, und als der Hundekopf fertig ist, fängt die Feder ganz von selbst an, auf dem Löschpapier einen gewöhnlichen Klecks in eine sonderbare Fratze zu verwandeln. Und dann ist da ein Radiergummi, den man unbedingt befühlen und beriechen muß, ein abgebrochenes winziges Kreidestück, das so angenehm kühl ist, wenn man sich damit die Finger einreibt, und der Korken vom Tintenfaß, von dem man sicher noch einen Brocken mit dem Nagel abknibbern kann. Alles Dinge, die viel interessanter sind als die Ausnahmen der zweiten oder dritten Konjugation.
Wenn aber die Augen erst bis zum Fenster gewandert sind, dann kehren sie nicht so bald zurück, und auch wenn Herr Bjelinski die Vorhänge schließt und die Petroleumlampe anzündet, treiben sich die Augen noch lange draußen hinter den Fensterscheiben herum: am See, auf der Insel, auf dem Kapellenberg, im Alten Haus bei Großtante Ernestine.
Jeden Sonntag nachmittag machen Aurel und Boris einen Besuch im Alten Haus. Dann wäscht Lim ihre Hände mit heißem Wasser ab, Fräulein Kleeberg feuchtet die Haare an, zieht einen Scheitel und striegelt sie so lange, bis man die beiden Jungen kaum wiedererkennen kann.
Bei Großtante Ernestine und Tante Leocadie gibt es immer Schokolade mit Schmantschaum und frische Apfelkuchen. Aber auch sonst gefällt es Aurel dort sehr gut: die weiß gescheuerten Fußböden, die bunten Dielenläufer, die Strohblumen auf den Moospolstern zwischen den Doppelfenstern – alles erinnert ein wenig an Blumbergshof. Großtante Ernestine sitzt immer im Rollstuhl am Fenster, ein dickes kariertes Plaid auf den Knien, eine schwarze Spitzenhaube über dem rosigen Gesicht mit den lebhaften, strahlenden Augen. Sie ist schon über neunzig, bald hundert Jahre alt, und wenn Aurel ihre durchsichtige weiße Hand küßt, wagt er sie kaum anzufassen, aus Furcht, sie könnte vielleicht zerbrechen.
„Also du bist Jennys Jüngster“, sagte sie ihm das erste Mal, „und deine Mama war Isabels Jüngste und war noch viel kleiner als du, wie sie mit Tante Leocadie zu mir kam, weil Großmama starb! Also eigentlich bin ich deine Großmama! Komm mal etwas näher und sieh mich an!“
Es war nicht leicht, dem forschenden Blick dieser brennenden Augen standzuhalten, die einem bis auf den Grund des Herzens sahen, aber Aurel öffnete sich ganz und ließ diesen prüfenden Blick tief in sich eindringen.
„Isabels Augen, wieder Isabels Augen“, sagte die Großtante Ernestine leise und sank in ihr Kissen zurück. Und als spräche sie zu sich selbst, fuhr sie nach einer Weile fort:
„Wie ist das wunderbar – dieselben Augen, die sich so jung für immer schlossen, kehren wieder auf die Erde zurück, als hätten sie nie genug vom Leben! Und da soll man nicht an Gott, an die Unsterblichkeit der Seele glauben – wenn schon die Augen unsterblich sind!“
Und dann erzählte Großtante Ernestine von der Großmutter, die so jung, bald nach der Geburt der Mutter, gestorben war und die so viele Kinder hinterlassen hatte: „Vier Jungen und drei Mädchen