Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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Aurel in die Tasche: der ist für Adda.

      Es ist Sommer, immerfort Sommer, und es ist Tag, immerfort Tag. Die Sonne bückt sich nur ein wenig hinter dem Wald und fliegt dann gleich wieder auf wie ein Gummiball, der nur die Erde berührt, um wieder in die Luft zu hüpfen. Zwischen Abend und Morgen ist keine Nacht, nur eine hellgrüne Dämmerung, mit einem roten schmalen Rand über den schwarzen Wäldern. Das Knarren der Schnarrwachteln und das Dengeln der Sensen hört nicht auf, und von den feuchten Heuschlägen weht durch die offenen Fenster ein betäubender Duft von frischgemähtem Gras, Klee und Nachtviolen.

      Und dann, an einem frühen Morgen, spannt der alte Marz den Viererzug und die beiden Schimmel vor die große Familiendroschke: an der Spitze Scheck und Schalk, dann Brauni, Iipsi, Mascha und Mazurka. Und alles, was Beine hat, klettert in den mächtigen Wagen, der breit und wippend wie ein Doppelbett ist, mit zwei hohen Türmen: dem Kutscherbock vorn und dem Dienersitz hinten.

      Die Mutter, der Vater, Karlomchen, Fömarie, Herr Tiedebök, Marja Petrowna, die russische Gouvernante, Doktor Martinell, die Pastorin – alles hat rechts und links auf dem Doppelbett Platz, und in der Mitte ist noch so viel Raum, daß Aurel und Adda zwischen den beiden Rückenmauern liegen können. Bal sitzt natürlich vorn auf dem Bock neben dem Kutscher, und Rei und Tof sind hinten auf den Dienersitz hinaufgeklettert. Janz und Karlin sind mit allen Vorräten in einer Fuhre vorausgefahren.

      Marz klatscht mit der langen Peitsche, und das rollende Haus setzt sich in Bewegung. Es rollt auf der alten Landstraße, an dicken Weidenstümpfen, an Korn- und Kleefeldern, an endlosen Heuschlägen vorbei, bollert dumpf über eine Bohlenbrücke, schaukelt durch kühlen, schattigen Fichtenwald. Sechzehn Werst sind es bis zu den Aa-Heuschlägen, wo die Knechte und Mägde seit einer Woche beim Mähen sind.

      Aurel liegt auf dem Rücken: zwischen den dunklen Tannenmauern ist ein blauer Himmelweg, auf dem weiße Lämmerwolken ziehen. Manchmal hat die Mauer ein Loch, und dann wird der blaue Weg plötzlich breiter. Endlich hören die grünen Wände auf, Land und Himmel öffnen sich weit und rund. Die Räder knirschen im tiefen Sand, eine dicke Staubwolke zieht neben dem Wagen her. Manchmal, wenn es aufwärts geht, muß man aussteigen.

      Herr Tiedebök geht wippend voran, reißt hier und dort eine Blume ab und fragt, wie sie auf lateinisch heißt und wie viele Staubfäden sie hat.

      Doktor Martinell geht neben der Mutter und ist begeistert: vom Wetter, vom Weg, vom Leben. Auch der Tod kann ihm nichts anhaben:

      „Wenn er früher nach Meran gekommen wäre“, sagt er und tupft mit dem Taschentuch die rote Stirn, „aber es war zu spät, viel zu spät. Oder gewissermaßen auch zu früh: in zehn Jahren wird es in zivilisierten Ländern keine Tuberkeln geben. Wie es heute keine Pest gibt. Der Fortschritt der Wissenschaften …“

      Marja Petrowna zeigt auf die Pferde und sagt: „Loschadji!“ Und Aurel soll es auch sagen. Aber warum soll er das tun? Die Pferde verstehen bestimmt kein Russisch. Er läuft zum Vater hinüber und geht hinter ihm her. Manchmal bleibt der Vater stehen und schnauft. Dann bleibt Aurel auch stehen. Aber der Vater sieht sich nicht um.

      Fömarie sagt: „Es staubt!“ Und stelzt mit hochgezogenen Röcken am Grabenrande.

      Die Pastorin geht auf der anderen Seite neben dem Roggenfeld und pflückt Kornblumen. Sie trägt ein blaues Sommerkleid, und rund und blau sieht sie selbst wie eine Kornblume aus.

      Dann steigt alles wieder ein, und das fahrende Haus rollt weiter.

      Endlich ist man angekommen, auf einem weiten Heuschlag mit alten, einzeln dastehenden Eichen. Zwischen gelben, glatten Sandbänken windet sich die Aa, das Wasser glänzt und flimmert wie Silberpapier in der Sonne. Noch nie hat Aurel einen so großen Fluß gesehen und so viel Sand. Er darf mit Adda Schuhe und Strümpfe ausziehen und mit nackten Füßen auf dem heißen Sand herumlaufen.

      „Aber nicht ins Wasser!“ ruft Fömarie. „Nicht ins Wasser!“

      Die großen Brüder gehen mit Herrn Tiedebök hinter den Ellernbüschen baden. Doktor Martinell krempelt sich die Hosen bis zu den Knien auf und watet im flachen Wasser.

      „Herrlich!“ ruft er und fuchtelt begeistert mit dem Taschentuch in der Luft. „Herrlich!“ Aber dann rutscht er aus und liegt – patsch – im Fluß. Hinter den Ellern trocknet er sich in der Sonne, seine weiß karierte Hose hängt an einem Ast.

      Aurel und Adda haben hinter einem Schilfdickicht einen kleinen Bach entdeckt und patschen im kühlen Wasser. Hier kann Fömarie sie nicht sehen. Dann helfen sie den Knechten und Mägden beim Heuen, schleppen eifrig Heubündel hin und her, kratzen mit einem Rechen, wälzen sich auf den Haufen. Heuschrecken zirpen und hüpfen in der flimmernden Luft, Aurel fängt ein fettes grünes Tier: was für große Augen und spitze Beine es hat – er will es Adda zeigen, aber dann macht es einen gewaltigen Satz und ist verschwunden.

      Karlomchen ruft zum Essen. Am Ufer, unter einer schattigen Eiche, ist ein weißes Tischtuch auf dem Grase ausgebreitet. Es gibt kalte Hühnerbeine zum Knabbern, dicke Milch mit jungen Kartoffeln und kalten Reispudding mit Pflaumen und Äpfeln. Und nachher Kaffee und Kuchen.

      „Ist es nicht herrlich“, sagt Doktor Martinell und beschreibt mit den Armen einen weiten Bogen, als wenn er das alles – Sonne, Wiese und Fluß – selbst eingerichtet hätte, „nirgends ist der Sommer schöner als bei uns, da kann mir dieser ganze Süden mit seinen Palmen gestohlen werden!“

      „Der Sommer“, sagt die Mutter, „aber der Sommer ist kurz!“

      Der Vater ist aufgestanden und geht langsam am Ufer entlang. Aurel folgt ihm. Hier ist das Ufer steil und ausgewaschen und drüben flach und sandig. Eine Eiche ist umgestürzt und liegt mit ihrem dicken Stamm halb im Wasser; eine andere klammert sich noch ans Erdreich, aber ihre ausgespülten Wurzeln hängen unten schon in der Luft.

      Der Vater bleibt nachdenklich stehen, und auch Aurel steht.

      „Im nächsten Frühling wird die Aa auch diese Eiche holen“, sagt der Vater und klopft mit dem Stock an den Stamm, „und jedes Jahr geht ein Stück von unserem Heuschlag mit!“

      „Warum?“ fragt Aurel verwundert.

      „Weil unser Ufer das hohe ist“, sagt der Vater, „das Wasser nimmt immer den Sand vom hohen Ufer und schwemmt ihn an das flache an: das hohe wird immer kleiner und das flache immer größer.“

      „Und drüben das flache gehört nicht uns?“ erkundigt sich Aurel.

      „Nein, das gehört den Esten. Die Aa ist die Grenze“, sagt der Vater.

      „Und kann man nichts dagegen tun?“

      „Nichts“, sagt der Vater und geht weiter.

      Und wie er so, ein wenig vornübergebeugt, am Rande des hohen, Stück für Stück abbröckelnden Ufers geht, hier und dort stehenbleibt und mit dem Stock in der Erde herumstochert, sieht der Vater plötzlich alt aus – so alt hat ihn Aurel noch nie gesehen. Und warum muß gerade unser Ufer mit dem fetten Gras und den hohen Eichen jedes Jahr immer kleiner und drüben das flache mit dem vielen Sand, auf dem nichts wächst, immer größer werden? Nein, das begreift er nicht. Der flimmernde Fluß, der sich wie eine Schlange zwischen den gelben Bänken schlängelt, erscheint ihm mit einem Mal heimtückisch und das Ufer auf der andern Seite, mit den Esten, die dort wohnen, böse und feindlich. Zum ersten Mal fühlt Aurel dunkel, daß es etwas gibt, was noch mächtiger ist als der Vater.

      Dann lag Aurel wieder ausgestreckt auf dem wippenden Polster der Familiendroschke; die Hufe klapperten, die Räder rasselten, hin und wieder zischte die lange Peitschenschnur mit einem kurzen Knall durch die Luft. Halb schlief er, halb lag er wach. Dunkle Äste, schwarze Baumkronen schaukelten im blaßgrünen Himmel vorüber. Als der Wagen in die Allee einbog, wehte es schwül von den Zweigen, die noch die Mittagswärme aufbewahrten.

      Es war Sommer, immerfort Sommer, und jeder Tag hatte seine besonderen Freuden. Es braucht ja nicht gerade eine Flöte zu sein oder ein Haus, das man baut, oder eine Fahrt zu den Aa-Heuschlägen, es gibt so viele kleine, ganz winzige Dinge, die Aurel glücklich machen: ein glatter gelber Stein, den er im Grandhaufen findet und der so merkwürdig