Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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und ihr schmales Gesicht, das jetzt in den grellen Lichtkreis des Spielplatzes tritt, ist nachdenklich und so merkwürdig ernst. Die Mutter kommt selten hierher, sie hat das Lehmhaus noch gar nicht gesehen. Aurel erklärt ihr eifrig, wo die Veranda hinkommt und wie er das Dach bauen möchte, aber die Mutter ist gar nicht so überwältigt, wie er erwartet hatte, sie nickt nur mit dem Kopf, und Aurel ist ein wenig enttäuscht.

      Dann nimmt sie die Kinder mit sanftem, aber festem Griff an den Handgelenken – mein Gott, wie diese Finger wieder mit Lehm verschmiert sind –, und alle drei setzen sich auf die Schaukelbank. Aurel hat ein schlechtes Gewissen; worüber wird sich Fömarie wieder beklagt haben: über den Himbeerwurm oder über die Kletten in der Frisur? Aber dann sagt die Mutter:

      „Ich muß euch etwas sehr, sehr Trauriges erzählen: Herr Ackermann kommt nie wieder, er ist beim Schwesterchen im Himmel!“

      „Tot?“ fragt Adda.

      „Ja, für uns ist er tot“, sagt die Mutter, „aber im Himmel lebt er, und wenn wir selbst einmal hinkommen, werden wir ihn wiedersehen!“

      „Und warum ist er nicht bei uns geblieben?“ fragt Aurel nach einer Pause.

      „Weil der liebe Gott ihn gerufen hat“, sagt die Mutter, „und weil es ihm hier auf der Erde wohl zu kalt war.“

      Sie sitzt noch eine Weile mit den Kindern auf der Schaukelbank, die ganz stillsteht. Man könnte sie leicht ein wenig wippen, nur ein wenig, wenn man das Bein ausstrecken und mit dem Fuß einen kleinen Schubs geben würde – aber Aurel tut das nicht. Wenn Acka tot ist, dann soll die Bank auch nicht schaukeln. Dann will er auch nicht mehr bauen. Auch keine Beeren essen. Und nicht mehr klettern. Der ganze Spielplatz ist plötzlich so leer und so langweilig geworden. Als die Mutter gegangen ist, geht auch Aurel. Und Adda folgt ihm und schleift die Puppe Franz hinter sich her.

      Zum Mittag gibt es Stachelbeer-Kissél – Aurels Lieblingsspeise. Aber er ißt nur einen Teller davon und auch den nur nach langem innerem Kampf.

      „Warum willst du nicht mehr?“ fragt Fömarie verwundert.

      „Weil ich nicht will“, sagt Aurel und schiebt den Teller weit von sich.

      Aber Adda löffelt unbekümmert drauflos. Und auch sonst ist alles, als wäre nichts geschehen. Die großen Brüder und Herr Tiedebök, der neue Hauslehrer, der seit Ostern da ist, gehen nach dem Essen baden. Der Vater verschwindet mit seiner Pfeife im Lesezimmer. Die Mutter hat sich hingelegt. Auch Adda muß nach dem Mittag in ihrem Gitterbett liegen. Dies ist die Stunde, in der Aurel unter Fömaries Aufsicht etwas rechnen soll. Aber das kann er heute nicht. Und während sie Adda schlafen legt, rennt Aurel, die Mundharmonika in der Tasche, durch die Küchentür in den Garten, schleicht sich hinter dem Cyrenengestrüpp am Zaun entlang, an der Holzscheune, am Ziehbrunnen, an den Mistbeeten vorbei und klettert über den warmen Düngerhaufen durch die Luke in den Pferdestall.

      Hier ist es kühl und dunkel. Das gleichmäßig mahlende Geräusch der käuenden Pferdemäuler wird nur von Kettengeklirr und Hufgestampf unterbrochen. Aber auch hier fühlt Aurel sich nicht ganz sicher: der alte Marz könnte kommen, die schwarze Tina könnte ihn hier suchen. Vorsichtig tastet er sich zur Sprossenleiter und klettert zum Heuboden hinauf. Er muß nur sehr acht geben, denn er weiß, daß hier Löcher sind, durch die das Heu zu den Pferden hinuntergestoßen wird. Vorn, über der Tür zum Wagenhaus, ist eine große Luke: hier wird das Heu abgeladen. Jetzt ist sie geschlossen, aber durch einen Spalt kann Aurel den Hof bis zur Küchenseite des Wohnhauses übersehen. Eben schleppt Janz an einer Querstange auf den Schultern zwei Wassereimer vom Brunnen zur Küche. Liese steht auf den Stufen, ruft die Hühner und wirft ihnen etwas zu. Waldi liegt japsend, die steifen Beine von sich gestreckt, vor der Kellertür in der Sonne.

      Und wirklich: jetzt hört Aurel ganz deutlich von der Gartenveranda her Fömaries schrille Stimme. Aber er rührt sich nicht. Er legt sich im Heu hin, so daß er durch die Lukenspalte den Hof im Auge behält und bei drohender Gefahr sich tief im Heu vergraben kann. Dann zieht er die Mundharmonika aus der Tasche – dieselbe Mundharmonika, auf der ihm Acka zu Weihnachten vorgespielt hatte –, preßt das schon etwas gelb angelaufene Blech an die Lippen, bringt aber nur ein klägliches, hoffnungsloses Gewinsel hervor, das sich ihm spitz in das Herz bohrt und ihn dennoch tief beglückt. Vielleicht hört mich jetzt Acka, denkt er, vielleicht freut er sich, daß ich hier so allein sitze und so traurig bin, weil er gestorben ist. Nie mehr werde ich wirklich froh sein. Nie mehr auf dem Spielplatz spielen, nie mehr Stachelbeer-Kissél essen.

      Und ein tiefes Mitleid mit sich selbst kommt über ihn, weil er hier so allein ist, weil er ganz allein an Acka denkt, während die andern sich so gar nicht um ihn kümmern. Er möchte gern weinen, aber die Tränen wollen nicht kommen, er preßt den Kopf in das Heu – nein, es geht nicht. Er zwinkert mit den Lidern, bohrt die Finger in die Augenwinkel, untersucht sie genau: nicht eine Träne. Vielleicht ist er so traurig, daß er nicht weinen kann, und das macht ihn noch trauriger. Jetzt hat er niemand: Mila ist fort, Acka ist fort. Nie wieder wird er in „Afrika“ sitzen und Sonnen und Weihnachtsbäume malen.

      Nein, zu Herrn Tiedebök geht er nicht. Obgleich der ihm oft etwas Süßes schenkt: Schokoladenplätzchen oder ein Bonbon. Aber Herr Tiedebök lacht immer so laut, und wenn er geht, wippt er so mit den Beinen und schlenkert so mit den Armen, als wollte er extra zeigen, wie schön er gehen kann: immer Brust heraus und Bauch herein. Aber Aurel findet das gar nicht schön. Und er versteht nicht, warum er mit den Brüdern auch so marschieren muß, im Großen Korridor, und Herr Tiedebök klatscht dann immer laut mit den Händen und zählt: „Eins – zwei, eins – zwei, eins – zwei!“ Weiter kann er nicht. Er wollte es ihnen vormachen, wie man richtig springen muß. Als er glücklich oben auf dem schräg über den Weg geneigten Apfelbaum stand, wippte er lange mit den Knien, schlenkerte mit den Armen, aber dann kam es ihm doch ein wenig zu hoch vor, und kleinlaut kroch er wieder herunter. Damals lachte er nicht. Aber die großen Brüder lachten. Und Aurel schämte sich sehr. Wenn er ihn jetzt so stolz wippen und schlenkern sieht, muß er immer denken: aber vom Kletterbaum herunterspringen, das kannst du doch nicht!

      Aurel hört das Knirschen von Rädern. Durch die Lukenspalte sieht er, wie der alte Marz mit der kleinen Kalesche langsam im Schritt von der Veranda auf das Wagenhaus zufährt. Da fällt ihm ein: heute sollte die russische Gouvernante kommen, um den Brüder russische Nachhilfestunden zu geben. Gut, daß er nicht zu Hause ist. Er gruselt sich vor der unheimlichen Russin, möchte aber doch wissen, ob sie wie Grischa auch im Sommer einen Schafspelz und hohe Stiefel trägt? Der alte Marz spannt jetzt unten die Pferde ab und führt sie in den Stall. Die kleine Kalesche steht da, verstaubt, die leere Deichsel stößt in die Luft.

      Aber jetzt muß Aurel doch hinunterklettern, es zieht ihn zum Bock. Er weiß, dort unter dem Kutschersitz, im Bockkasten, neben dem Hafersack, liegt etwas für ihn, etwas, was Marz ihm jedesmal mitbringt, wenn er von der Station kommt. Und das lockt ihn so, daß er es nicht länger auf dem Heuboden aushält. Schließlich ist er ja auch lange genug hier oben gewesen, so ganz allein, und wenn Acka ihn sieht, wird er ihm nicht böse sein, wenn er jetzt hinunterklettert.

      Unten im Stall führt Marz gerade die Pferde in die Boxen. Dann streut er Häcksel und Hafer in die Krippen. Aurel steht dabei und sieht aufmerksam zu. Und als Marz zur Kalesche geht, folgt er ihm in stummer Erwartung. Er möchte nicht zeigen, daß er etwas erwartet, und deshalb bückt er sich und betrachtet ganz genau die staubigen Speichen des Rades, obgleich da eigentlich nichts zu sehen ist.

      Endlich hat Marz das Geschirr, die schwarzen Lederleinen und die lange Peitsche ins Wagenhaus getragen, und jetzt – ja, jetzt steigt er auf den Bock, klappt den Sitz auf und holt eine braune Tüte hervor. Und aus der Tüte nimmt er zwei Wasserkringel und gibt sie Aurel. Hinter dem buschigen Vollbart lacht sein braunes Gesicht unter der staubbedeckten Kutschermütze.

      Diese Wasserkringel sind uralt und steinhart, man kann nur mit großer Mühe ein kleines Stück abbeißen, und sie riechen nach Kutscherbock, nach Leder und Wagenschmiere und schmecken ein wenig nach Staub und Sand. Aber Aurel liebt sie, kaut langsam, andächtig und mit Behagen. Diese Kringel kommen weit her von der Station, dort, wo die Eisenbahn fährt, also beinahe aus der Stadt. Und wenn man sie kaut und den Reisestaub schmeckt, ist es fast, als wäre man selbst ganz weit, in einem fremden