Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Und der Kopf ist für den Hals viel zu schwer geworden: er neigt sich nach rechts, nach links – wenn er nur nicht von den Schultern herunterrollt. Am besten, man kriecht wieder ins Bett. Karlomchen bringt kühles Apfelmus, und mit einem feinen säuerlichen Geschmack im Munde schläft man wieder ein.
Fast jeden Tag kommt Doktor Martinell. Einmal fragt er:
„Und wie ist der Stuhlgang?“
Aurel sieht ihn verwundert an: Stuhlgang? Kann denn ein Stuhl gehen?
Karlomchen übersetzt den medizinischen Ausdruck in die Kindersprache. Als der Doktor gegangen ist, wiederholen Aurel und Adda immer wieder dieses komische Wort. Nach dem Abendgebet muß Adda plötzlich kichern. Aurel weiß ganz genau, was sie denkt. Dann flüstern beide so leise, daß Karlomchen es nicht hören kann: „Stuhlgang!“ und sind sehr glücklich über dieses neue und seltsame Wort.
Und dann, an einem hellen Märzmorgen – der ganze Saal ist voll Sonnengeflimmer, gesprenkelter Oleanderschatten und Hyazinthenduft –, wandern beide Kinder ins Badezimmer, das neben der Backstube liegt. Hier werden sie in einem gewaltigen Holzbottich mit grüner Seife abgewaschen, und damit ist der Scharlach beendet. Die Kerze unter dem dunklen Weihnachtsbaum hat diesmal gesiegt: die schwarzen Schatten sind fortgezogen.
Aber ein flackerndes Licht nahmen sie mit.
Es war noch ganz früh, als Aurel, in seine Decke dick eingepackt, von Janz die Treppe hinuntergetragen wurde. Im Flur stand Herr Ackermann, in Vaters schwarzem Bärenpelz sah er so jämmerlich aus, als hätte ihn der Bär verschluckt. Unter der schwarzen Karakulmütze war sein Gesicht weiß wie ein Handtuch. Er hustete, und in der Hand hielt er ein Näpfchen, über das er sich dann beugte.
„Ich fahre dorthin, wo die Sonne noch wärmer ist“, sagte er keuchend und strich über Aurels Scheitel, „aber deine Sonne nehme ich mit!“
Vom Spielzimmerfenster sah dann Aurel, wie die Kibitke um den Platz fuhr. Der alte Marz kutschierte, und Doktor Martinell, der Herrn Ackermann bis zur Stadt begleitete, beugte sich winkend heraus.
Die Schellen läuteten, die Kufen knirschten auf dem gefrorenen Schnee, der nackte Ahorn schimmerte rosig in der Morgensonne.
Dann bog der schwarze Schlittenkasten in die kahle Allee und verschwand schwankend zwischen den dunklen Bäumen.
Der Wasserkringel
In den Gräben gluckert es, die Weidenkätzchen sind schon ganz silbern, im Kleinen Walde blühen bläuliche Anemonen und weiße Sternblumen; und Fömarie legt ihre Pelzpelerine in die Mottenkiste.
Dann klappert es auf dem Storchnest, Schwalben zucken durch die Luft – und mit einem Mal ist es Sommer. Immer wieder muß Janz die Trittleiter holen und mit einem Besen die Schwalbennester in der Veranda herunterkratzen. Das ist ein furchtbarer Anblick, aber die weißen Spritzer auf dem Ecksofa kann man nicht dulden. Die Mutter seufzt. Der Vater lacht: „Die Biester können doch auch woanders ihren Dreck machen!“
Einmal am Abend sitzt Janz auf dem runden Mühlstein, der als Tisch vor Mutters Lieblingsbank steht, bei der roten Klete. Seine nackten Füße baumeln in der Luft, er schnitzt mit seinem krummen Gartenmesser runde Löcher in einen Weidenast, und Aurel sieht ihm gespannt zu.
Es ist ein fingerdickes, ganz gerades Aststück mit graugrüner Rinde.
Janz legte es auf den Mühlstein zwischen seine Beine und beklopfte es mit dem schweren Messergriff.
„Warum tust du das?“ fragt Aurel.
„Damit sich die Rinde löst“, sagt Janz und lacht, „wie soll ich sonst eine Flöte machen?“
Und wirklich: langsam löst sich das weiße glatte Holz, kriecht ein Stückchen aus der Rinde hervor – Janz klopft und klopft –, und dann zieht er das ganze nackte Aststück aus der grünen Röhre.
„Man muß nur lange klopfen“, sagt er, „sonst geht die Rinde kaputt!“ Dann schnitzt er ein Mundstück, setzt am anderen Ende einen Holzpfropfen hinein – und die Flöte ist fertig. Sie klingt ein wenig schrill, und sie hat eigentlich nur zwei Töne, aber man kann auf ihr blasen, und Aurel ist sehr glücklich.
Und glücklich ist er überall, am Teich, wenn er mit dem grünen Wasserschöpfer Feuersalamander fängt und wieder losläßt, wenn er im Treppenhaus auf dem glatten Geländer herunterrutscht, im „Tschulanchen“ herumstöbert oder auf dem Spielplatz im Garten aus Lehm und Steinen ein richtiges Haus baut. Den Lehm gräbt er sich selbst aus der Erde, und die Steine schleppt er mit Adda in einer „Tatschke“, einem Schubkarren, vom Grandhaufen hin. Der Lehm wird in einer Holzkiste richtig mit Wasser verrührt, bis er ganz klebrig ist, und dann wird er mit den Händen zwischen die Steine geknetet.
Auf dem Spielplatz steht auch eine alte Schaukelbank, und wenn Fömarie darauf sitzt und liest und man ordentlich wippt, kann man sie schön prellen. Und dann ist da ein uralter Apfelbaum, der nicht nach oben, sondern auf die Seite gewachsen ist, über den Weg hinüber in ein dichtes Cyrenengestrüpp. Auf diesem Apfelbaum kann man weit herumklettern, bis zum vermoosten Bretterzaun und auf dem Zaun bis zur schwarzen Klete. Hier, ganz versteckt in der Ecke, wuchern wilde Himbeeren und mächtige Kletten, so daß man die Beeren gleich auf den breiten Klettenblättern sammeln kann. Aber Fömarie bekommt nur die mit den Würmern. Wenn sie dann einen entdeckt, läßt sie alle stehen, und man ißt sie selbst. Aurel hat einmal sogar einen Wurm heruntergeschluckt, nur um Fömarie zu ärgern.
„Mein Gott“, schreit Fömarie, „jetzt hast du Würmer im Magen!“
„Janit ißt sogar Regenwürmer“, erzählt Aurel unbekümmert. „Er hält den Regenwurm in den Händen und zieht ihn so lange, bis er in der Mitte zerreißt. Dann schluckt er beide Stücke herunter!“
Fömarie schreit, wendet den Kopf und hält sich die Ohren zu. Und dann kann man ihr von hinten vorsichtig ein paar Kletten in die Frisur stopfen.
Hinter der Schaukelbank, von dichten Haselnußstauden halb versteckt, steht das alte Magazin, ein gelber Lehmbau mit schwarzen Fensterlöchern. Manchmal halten dort Bauernfuhren, Kornsäcke werden aufgeladen, man hört Pferde stampfen und prusten, den Verwalter schimpfen. Aber das alles hört und sieht man nur durch den Bretterzaun, wie hinter einem Gitter, und wenn ein zerlumptes Knechtskind dort vorbeigeht, neugierig stehenbleibt und zwischen den Latten hereinschaut, dann starren sich die Kinderaugen fremd und verwundert an. Hier ist keine Pforte, und kein Weg führt aus der einen Welt in die andere.
Und neben der schwarzen Klete ist auch ein Zaun, und dahinter stehen zwei Schafe: ein schwarzes und ein weißes. Das schwarze gehört Aurel und hat ein blaues Halsband, und das weiße mit dem roten Band gehört Adda. Wenn die Kinder in den Kleinen Wald spazierengehen, trappeln die Schafe blökend hinter ihnen her. Aber in den Garten dürfen sie nicht. Dafür raufen Aurel und Adda fettes blaues Gras und roten Klee am Grabenrande und streuen es in die Krippe.
Das weiße Schaf senkt manchmal den Kopf und macht einen Luftsprung. Es bekommt schon kleine Knollen zwischen den Ohren. Einmal stieß es sogar Adda um. Jetzt führt Aurel das weiße an der Leine und versucht, auf ihm zu reiten: der breite wollige Rücken schaukelt hin und her, aber dann macht das Schaf einen Hops, und Aurel rutscht herunter.
Die Sonne brütet auf dem sandigen Spielplatz. Das Lehmhaus ist bald fertig. Aurel klopft mit einem Holzbrett die Mauer glatt, schmiert noch etwas klintschigen Lehm an die Ecke. Adda hat schon die Puppe Franz in das Haus gesetzt, aber vorläufig sind noch keine Möbel drin, und so muß Franz auf dem Erdboden sitzen. Denn Bretter gibt es auch noch nicht, keine Fensterscheiben, keine Vorhänge, kein Dach.
„Ich glaube, es zieht“, sagt Adda besorgt und nimmt Franz wieder heraus.