Bangkok Oneway. Andreas Tietjen

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Название Bangkok Oneway
Автор произведения Andreas Tietjen
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783957770660



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sagte sie zu sich selbst. In diesem Moment hörte sie ein Krachen und Scheppern hinter sich. Als sie sich erschrocken umdrehte, sah sie ein Motorrad auf dem Gehsteig liegen und einen weißen Toyota Kleinbus schräg auf der Kreuzung stehen. Für einen Moment verharrte alles in dieser Situation, dann fuhr der Wagen mit hoher Geschwindigkeit davon. Ein paar Passanten liefen zusammen und scharrten sich um den am Boden liegenden Motorradfahrer. Viele Menschen gafften neugierig, aber niemand bemühte sich um den Verletzten. Nachdem Dagmar sich von dem Schreck erholt und die Situation einigermaßen begriffen hatte, eilte sie dem Mann zur Hilfe. Sie sprach ihn auf Englisch an und drehte ihn instinktiv in eine stabile Lage. Der Motorradfahrer stöhnte leise. Blut sickerte in sein linkes Hosenbein; eine schmale Blutspur rann ihm am unteren Helmrand heraus. Hilfe suchend sah sich Dagmar um, aber die Umstehenden schauten ihr nur neugierig bei ihrem Tun zu. An der Kreuzung lief der Verkehr in rasender Geschwindigkeit weiter, so als wäre nichts geschehen.

      »Anybody please call for an ambulance and for the police«, rief sie in die Menge. Niemand reagierte. »Police, please!«, wiederholte sie. Schließlich nahm sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die internationale Notrufnummer 112. Sie hörte eine automatische Ansage in thailändischer Sprache. Dagmar wandte sich flehend dem am nächsten stehenden Mann zu, zog ihn am Hosenbein und schrie ihn an: »Please call a doctor!«

      Der Mann wirkte, als ob er aus einer Trance erwachte. Er griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer. Dann sprach er mit jemandem – schnell, hektisch, mit bebender Stimme. Nach endlos erscheinenden Minuten kam ein Pick-up mit hoher Geschwindigkeit und schrill jaulender Sirene angebraust. Auf der Ladefläche befand sich ein seitlich mit mattierten Glasscheiben versehener Aufbau. Zwei Männer und eine Frau in leichter Freizeitkleidung, aber mit gelben Signalwesten bekleidet, sprangen aus dem Fahrzeug und bemühten sich um den Motorradfahrer. Einer der Helfer war ein Europäer. Er sprach Dagmar auf Englisch an; sie erkannte an seinem Akzent, dass er Deutscher war. Er fragte sie, ob sie den Unfall beobachtet hatte, doch sie verneinte. Die beiden Thailänder hievten den verletzten Mann in die hintere Kabine des Pick-ups. Bevor der Deutsche ebenfalls in das Fahrzeug sprang und sich mit einem Stethoskop an dem Verletzten zu schaffen machte, überreichte er Dagmar seine Visitenkarte und bat sie, ihn später anzurufen. Dann raste der Pick-up davon und der Menschenauflauf löste sich rasch auf.

      Dagmar stand noch eine Weile da, die Visitenkarte des Deutschen in der Hand, und beobachtete beiläufig, wie das zerbeulte Motorrad auf einen Polizeiabschleppwagen gehievt wurde. Als sie Ute endlich am Telefon hatte, versagte ihr für einen Moment die Stimme. Unter Tränen krächzte sie ein paar Laute in ihr Handy.

      Ute wusste sofort, wer sie angerufen hatte.

      »Dagmar? Was ist mit dir? Wo steckst du? Ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen!«

      Dagmar bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie schilderte ihren Tagesablauf in Kurzform und bat Ute, sich mit ihr zu treffen. Schon ein paar Minuten später saßen die beiden Damen zusammen in einem Taxi und fuhren zum Flussufer des Menam Chao Phraya. Auf der Terrasse des Royal Orchid Sheraton bestellte Ute zwei Wassermelonen-Shakes und ein paar Snacks. Sie war hier durch ihre Firma bekannt und bekam großzügige Rabatte.

      »Was wird mit dem armen Motorradfahrer geschehen?«, fragte Dagmar nachdenklich. »Wenn du gesehen hättest, wie die Leute da untätig herumgestanden sind. Genauso könnte es Heinz ergangen sein. Vielleicht liegt er irgendwo hilflos und niemand kümmert sich um ihn!«

      »Da müsste er schon sehr tief in einen Klong gefallen sein!«, hielt Ute dagegen.

      Dagmar sah Ute fragend an.

      »Klong nennt man die Kanäle hier in Bangkok.«

      Dagmar schüttelte stumm den Kopf. Es konnte doch nicht sein, dass sich der Mann, der den größten Teil ihres Lebens maßgeblich mitbestimmt hatte, in Luft aufgelöst hatte. Dass er so ganz ohne Vorwarnung von einer Minute auf die andere verschwunden war. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.

      »Wir müssen ihn suchen«, schluchzte sie. »Die Polizei tut doch gar nichts! Die interessieren sich überhaupt nicht für meinen Mann!«

      Ute sah sie lange an. Sie kannte diese Stadt und dieses Land seit vielen Jahren. Sie war vertraut mit der Mentalität und der Denkweise der Menschen hier und sie wusste, dass die Realität in diesem tropischen Land eine andere war, als sich die Europäer im Entferntesten vorstellen konnten.

      »Hier leben fünfzehn Millionen Menschen hinter heruntergelassenen Rollläden ihrer Shop-houses, in luxuriösen Penthäusern, auf den Rücksitzen ihrer Tuk-Tuks, in Hütten und Häusern«, sagte sie ruhig, aber eindringlich. »Wo willst du da anfangen zu suchen? Die Thailänder haben eine ganz andere Wahrnehmung als wir Europäer. Die sind als Zeugen so gut wie gar nicht zu gebrauchen. Was denkst du, warum die eine so dermaßen miese Aufklärungsquote bei ihren Verbrechen haben? Aus deren Sicht sind Schicksalszusammenhänge logischer als forensische Fakten. Die Polizei ermittelt nicht, um ein Verbrechen aufzuklären, sondern weil sie das Ermitteln an sich so spannend und aufregend findet. Was sollen da zwei problembehaftete Langnasen in reiferem Alter schon groß ausrichten können? Ich fürchte, dass du damit beginnen solltest, dich damit abzufinden, so schwer es dir auch fällt!«

      Ute sah nachdenklich auf den breiten Fluss hinaus, auf dem schwer beladene Schuten an langen Seilen von kleinen, bunt bemalten Schleppern gezogen wurden. Expressfähren und zahnstocherdünne Boote mit ausladenden Schrauben-Quirlen an lärmenden Motoren brachten das dunkelbraune Flusswasser zum Kochen.

      »Was für ein Mensch ist dein Mann?«, fragte sie nachdenklich. »Meinst du, er würde alleine in einem fremden Land zurechtkommen?«

      Dagmar, die gerade in ein Papiertaschentuch geschnäuzt hatte, sah sie verwundert an.

      »Na, ein ganz normaler Mensch. Er war Unternehmer, wir hatten einen mittelständischen Betrieb mit hundertzwanzig Beschäftigten – na ja, als es alles noch lief.«

      Sie machte eine Pause, als ob sie sich selbst über ihre Gedanken und Gefühle klar werden müsste.

      »Wir hatten uns auseinandergelebt. In letzter Zeit ging es wieder etwas besser, aber das lag auch mit daran, dass jeder mehr oder weniger seine eigenen Wege ging und er fast nie zu Hause war. Diese Reise sollte uns irgendwie auf den bevorstehenden Ruhestand einstimmen. Wir sind ja aufeinander angewiesen, jetzt, wo unsere Tochter endgültig aus dem Haus ist.«

      Ute hatte während ihrer langjährigen Laufbahn in der Reisebranche schon so manche Überraschung mit scheinbar ganz normalen Menschen erlebt. Je unauffälliger ihre Reisenden wirkten, desto tiefer waren die Abgründe, die sich bei ihnen manchmal auftaten.

      »Sei mir nicht böse, aber ich habe so eine Ahnung, dass dich dein Heinz irgendwie hinters Licht führt!«, sagte sie wie zu sich selbst. Dagmar blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

      »Ich weiß nicht, wieso mir ein Gefühl sagt, dass mit deinem Heinz irgendetwas nicht stimmt!«

      »Na hör mal, du kennst ihn doch gar nicht!«, protestierte Dagmar.

      Ute wechselte das Thema und machte ein paar Vorschläge, wie Dagmar die nächsten Tage in Bangkok verbringen könnte. Auf einen Block schrieb sie genau auf, wie und wann Dagmar zu den verschiedenen Besichtigungspunkten gelangen würde. Den Königspalast mit dem prunkvollen Wat Phrakaeo, den Wat Po mit dem bedeutenden liegenden Buddha, Wat Arun auf der anderen Flussseite und Wat Saket auf dem Golden Mountain mit seiner beeindruckenden Aussicht über die Altstadt. Sie schlug vor, dass sie sich einmal zu Fuß durch Chinatown schlagen und mit dem Expressboot zum Stadtteil Dusit fahren sollte. Dort stand das Vimanmek Mansion, der hölzerne Palast des verehrten früheren Königs Chulalongkorn.

      »Hörst du mir überhaupt zu?«

      Ute hatte Dagmars glasigen Blick bemerkt. Eine Träne lief über ihre Wange – sie suchte ein Papiertaschentuch in ihrer Handtasche. Ute nahm Dagmars Hand und tröstete sie:

      »Ich kann mir gut vorstellen, wie es dir im Augenblick geht. Du musst dich aber beschäftigen und etwas ablenken, sonst drehst du noch durch. Im Moment können wir doch nur warten.«

      Dagmar nickte stumm und schnäuzte sich.

      »Du