Bangkok Oneway. Andreas Tietjen

Читать онлайн.
Название Bangkok Oneway
Автор произведения Andreas Tietjen
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783957770660



Скачать книгу

Urin bernsteinfarben, zähflüssig und riecht konzentriert, dachte sie und musste schmunzeln. Komisch, auf was für Gedanken man kommt, wenn man alleine in solch einer fremden Stadt herumläuft.

      Dagmar blieb noch eine Weile in dem Café sitzen und grübelte. So kann es nicht weitergehen, sagte sie sich, sonst werde ich noch verrückt. Ich muss irgendetwas tun, um mich abzulenken. Sie kratzte den Schaum ihres Getränkes mit einem langen Löffel aus dem Glas. Als sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche nahm, um zu bezahlen, fiel ihr die Visitenkarte des Rettungsassistenten in die Hand. Er hatte sie nach dem Motorradunfall gebeten, sich zu melden. Kurzerhand nahm Dagmar ihr Handy und wählte die angegebene Nummer. Der Mediziner war sehr erfreut über den Anruf und erläuterte die Arbeit seiner Organisation. Als Dagmar auf den Motorradunfall zu sprechen kam, fragte der Sanitäter, ob sie den Hergang schildern könnte und bereit wäre, als Zeugin aufzutreten. Der Unfallverursacher sei bisher nicht gefunden worden und die Polizei war im Begriff, die ganze Angelegenheit zu den Akten zu legen, wenn nicht noch sachdienliche Hinweise oder Zeugenaussagen kämen.

      »Wird er denn wieder gesund werden?«, fragte Dagmar besorgt.

      »Wer?«

      »Na, der Motorradfahrer.«

      »Oh nein, der ist gleich nach der Einlieferung ins Hospital verstorben. Er hatte wohl zu schwere Kopfverletzungen.«

      Dagmar war erschüttert.

      »Dann ist ja seine Familie jetzt noch ärmer dran als vorher.«

      »Ja, davon kann man ausgehen, da nun wahrscheinlich der einzige Ernährer wegfällt.«

      Dagmar überlegte. Sie stellte sich in Gedanken eine ältere, verhärmte Frau in verschlissener Kleidung vor, die umringt war von einer ganzen Schar ausgehungerter, weinender Kinder.

      »Hatte er Familie?«, wollte sie wissen. Der Mann am Telefon konnte diese Frage nicht beantworten, da er dafür Unterlagen einsehen musste, die sich in einem anderen Raum befanden.

      »Wenn Sie Zeit und Lust haben, dann besuchen Sie mich doch einfach in unserem Office«, schlug er vor.

      »Ich könnte Ihnen bis dahin weitere Informationen beschaffen und Sie würden mir die Möglichkeit geben, ein bisschen Werbung für unsere kleine private Hilfsorganisation zu machen.«

      So kam es, dass Dagmar schon kurze Zeit später in einem hell getünchten Raum im Stadtteil Klong Toey in einer kunstlederbezogenen Sitzecke saß und sich angeregt mit dem Rettungsassistenten Elmar Trepkau unterhielt. Elmar hatte sein Medizinstudium unterbrochen, um sich für eine kleine Organisation zu engagieren, die sich bemühte, eine dramatische Lücke im Rettungssystem der Hauptstadt zu füllen. Sie nannten sich Seelensammler. Da sich die thailändischen Krankenhäuser selbst finanzieren mussten und kaum ein Thailänder eine Krankenversicherung vorweisen konnte, rückten Rettungswagen in der Regel erst nach Klärung der Kostenübernahme zu Unfällen aus. Die Organisation finanzierte sich aus Spenden. Sie hatten einfache Rettungsfahrzeuge, mit denen sie schnell zur Stelle waren und Erste Hilfe leisteten. Anschließend verbürgten sich die Seelensammler, die offiziell Medical Emergency Volunteers hießen, für die Bezahlung von notwendigen medizinischen Behandlungen und regelten die Versorgung durch Angehörige oder durch eigene Mitarbeiter.

      »Na, dann wollen wir mal schauen«, murmelte Elmar und schlug einen Aktenordner auf. Er las Dagmar daraus vor:

      »So ... Bamrung Artmak, geboren am 15.8.2515, also 1972 nach christlicher Zeitrechnung, am Soundsovielten bei einem Motorradunfall mit Beteiligung des unbekannt flüchtigen Fahrers eines Toyota City Ace mit schweren Kopfverletzungen sowie Fraktur der Wirbelsäule ... und so weiter ... eingeliefert im Sathorn Hospital ... den Folgen seiner Verletzungen erlag. Ich erinnere mich, dass es ziemlich lange gedauert hat, bis wir ihn einliefern konnten. Wir haben seinen Angehörigen in einem Dorf in der Nähe von Sawankhalok – das ist nicht weit von Sukhothai entfernt – Bescheid gegeben. Bamrung ist verheiratet und hat wohl auch Kinder. Die Verwandten sind leider finanziell nicht in der Lage, den Leichnam in ihr Dorf überführen und dort bestatten zu lassen.«

      Dagmar schluckte betroffen.

      »Und was passiert dann mit der Leiche?«

      »Moment, hier steht etwas ...« Elmar blätterte in den Dokumenten.

      »Hier: Die Leiche wurde verbrannt und anonym beigesetzt.«

      »Es fand also nicht einmal irgendeine Zeremonie statt? Und die Familie konnte auch nicht nach Bangkok kommen?«

      Elmar schüttelte bedauernd den Kopf. Dagmar schwieg bestürzt. Wieder malte sie sich die Situation dieser armen Familie irgendwo in der thailändischen Provinz aus.

      »Und was ist mit dem Motorrad passiert?«

      Elmar deutete aus dem Fenster.

      »Das hat uns die Polizei hier auf den Hof gestellt. Es sieht gar nicht einmal so übel aus. Die Plastikverkleidung ist gebrochen. Der Blinker und der Spiegel fehlen, aber sonst ... Wahrscheinlich springt die Mühle sogar sofort an.«

      »Bekommt dann die Familie wenigstens das Moped?«, fragte Dagmar.

      »Wenn sie es abholt. Wir können so etwas nicht leisten. Für solche Dinge reichen unsere Mittel und unsere Kapazitäten nicht aus. Wir versuchen, Menschenleben zu retten, alles andere sprengt einfach unsere Möglichkeiten.«

      Dagmar war erschüttert.

      »Ich hätte nie gedacht, dass die Menschen in diesem Land so gleichgültig miteinander umgehen!«

      »Nein, so dürfen Sie das nicht sehen«, widersprach Elmar vehement. »Dieses Land hat sich erst vor wenigen Jahren von einem Entwicklungsland zu einem modernen Staat mit internationalem Niveau gemausert. Das geht in solch kurzer Zeit nicht ohne Defizite. Früher gab es eine kleine superreiche Oberschicht und eine riesige Masse an gleichmäßig armen Menschen. Heute haben wir eine große und wirtschaftlich bedeutende Mittelschicht, wenige Superreiche und kaum noch Menschen, die so arm sind, dass ihnen die Grundlagen für ein normales Leben fehlen. Das wird natürlich mit einem gewissen Maß an Egoismus und Rücksichtslosigkeit bezahlt, jedoch keineswegs schlimmer, als wir es in unserer eigenen Heimat haben. Durch die teilweise noch lückenhafte Infrastruktur fällt das nur leider stärker ins Gewicht als bei uns. Nehmen wir mal als Beispiel den Motorradunfall von Herrn Bamrung Artmak. Das thailändische Rechtssystem hinkt entwicklungsmäßig noch viele Jahre europäischem Recht hinterher. Hier herrschen noch viel stärker überbrachte Vorstellungen von Schicksalseinflüssen. Ob an diesem Unfall nun der geflüchtete Autofahrer oder Herr Bamrung Schuld hatte, ist gar nicht entscheidend. Wahrscheinlich hätte der Autofahrer aufgrund seiner mutmaßlich besseren wirtschaftlichen Situation die alleinige Schuld zugesprochen bekommen. Da Motorradunfälle häufig tödlich enden, würde dem Unfallgegner vermutlich eine sehr hohe Geldstrafe auferlegt werden, möglicherweise sogar zusätzlich eine Haftstrafe. Diese Strafe würde nicht deshalb verhängt, weil er gegen irgendwelche Regeln der Straßenverkehrsordnung verstoßen hatte, sondern alleine deswegen, weil er durch seine Anwesenheit am Unfallort mitursächlich für den Tod des Unfallopfers war. Das ist für unser Rechtsempfinden absurd, aber hier in Thailand denkt man nun mal so. So ist es doch klar, dass sich nach einem Unfall jeder Beteiligte so schnell wie möglich aus dem Staub macht. Kein Mensch kümmert sich um die Versorgung der Opfer – es könnte ja dazu führen, dass man in die Schuldfrage hineingezogen würde!«

      Dagmar hörte sich Elmars Ausführungen interessiert an. Ihre Gedanken kreisten um ihren Mann. Ob dieses schwer nachvollziehbare Verhalten der Thailänder eine Erklärung dafür war, dass ihr Heinz so völlig ohne jede geringste Spur verschwunden war? Sie erzählte dem jungen Mediziner von ihrem Mann, doch auch Elmar hatte keine Idee, in welcher Richtung Dagmar ermitteln sollte.

      »Wo würden Sie denn in Bangkok nach einem Vermissten suchen?«

      Elmar überlegte.

      »Na ja, das Naheliegendste wäre doch, dass ihm etwas zugestoßen ist und dass er jetzt in irgendeinem Krankenhaus liegt.«

      »Wie viele Krankenhäuser gibt es denn in Bangkok?«

      Elmar holte tief Luft und machte eine ausholende Armbewegung.