Bangkok Oneway. Andreas Tietjen

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Название Bangkok Oneway
Автор произведения Andreas Tietjen
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783957770660



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stärker bemerkbar und der Fahrer erhörte ihr Hilfeersuchen und hielt auf freier Strecke am Straßenrand an.

      »Gibt’s hier Schlangen?«, fragte Dagmar noch ängstlich, bevor sie sich hinter einen Strauch hockte und dort Erleichterung fand. Kaum war sie jedoch eingestiegen und der Pick-up wieder bei normaler Geschwindigkeit angelangt, bog Khun Pravat in den betonierten Hof einer Raststätte ein, um seine obligatorische Mittagspause zu machen.

      »Das gibt es doch nicht!«, protestierte Dagmar. »Hätte er das nicht sagen können? Ich wäre da draußen in der Wildnis fast aufgefressen worden und fünf Minuten später halten wir vor einem modernen Restaurant mit gefliestem Badezimmer.«

      »Tja, das mit der Transferleistung ist so eine Sache bei unseren lieben Thailändern!«, kommentierte Ute mit einem Seitenblick auf Khun Pravat.

      Am späten Nachmittag erreichten sie Nakhon Kalok, ein bezauberndes Städtchen mit vielen kleinen Geschäften, einem schönen Markt und einem winzigen Bahnhof, an dem zweimal am Tag ein Zug hielt. Nur wenige Augenblicke später stoppte Pravat den Wagen am Rande der staubigen Landstraße. Aus einem einfachen Holzhaus steckten zunächst zwei, dann weitere vier und schließlich noch einmal zwei Kinder neugierig ihre Stupsnasen heraus.

      »Oh Gott! Acht Bälger!«

      Dagmar sah Ute entsetzt an. Pravat ging ohne zu klopfen hinein und rief etwas auf Thailändisch. Nach einer Weile kam er zurück und führte eine verstört dreinblickende Frau heraus, die sich ihre Hände an einer schmutzigen Schürze abwischte. Die Frau sagte nichts. Sie lächelte nicht, schaute die beiden Langnasen nur verschüchtert an. Der Fahrer redete unaufhörlich auf die arme Frau ein. Er wies auf das Motorrad, doch die Mutter ließ ihren Blick nicht von den Fremden. Weitere Frauen kamen aus der Hütte und drückten sich schüchtern an die Hauswand. Im Nu waren noch mehr Kinder und Erwachsene dazugestoßen und umringten die Fremden.

      »Ist das alles Familie der Witwe?«, fragte Dagmar.

      Ute gab die Frage thailändisch übersetzt an Khun Pravat weiter, der sich wiederum bei der Frau erkundigte. Es stellte sich heraus, dass die Witwe des Motorradfahrers selbst drei Kinder hatte, die anderen waren einfach Freunde und Nachbarn.

      »Thailänder fürchten nichts mehr als Einsamkeit«, erklärte Ute.

      Nun wurden Kokosnüsse gebracht, mit einer imposanten Machete aufgeschlagen und den beiden Frauen gereicht. Die Flüssigkeit aus dem Inneren der Nüsse war kühl und herrlich erfrischend. Die Witwe stand weiterhin wortlos vor ihnen und guckte angespannt zu, wie sich die beiden Frauen mit Kokosmilch bekleckerten. Dagmar und Ute hatten das große Bedürfnis, so schnell wie möglich weiterzufahren. Nun wurde das lädierte Moped abgeladen und von Jugendlichen begutachtet. Erst als die drei wieder im Pick-up saßen, wurde ein Päckchen mit Reiskuchen durch die offene Seitenscheibe gereicht und die Witwe ließ Pravat übersetzen, dass sie sich bedankte und Glück und Buddhas Segen für die beiden Frauen wünschte.

      Dagmar hatte sich nicht vorstellen können, dass ihre gut gemeinte Aktion in einer dermaßen befangenen und verklemmten Situation enden würde. Während sie schweigend durch das Wagenfenster auf die in der Abenddämmerung schimmernden Reisfelder blickte, kreisten ihre Gedanken um die thailändische Familie. Die ganze Szenerie hatte einen so trostlosen Eindruck auf sie gemacht, gleichwohl wirkten die Menschen genügsam und zufrieden in ihrem bescheidenen Dasein. Das Unglück über den Tod des Familienvaters und Ehemanns schien als schicksalsgegeben akzeptiert worden zu sein. Die Leute waren offensichtlich völlig mittellos, hatten jedoch sich selbst, viele Freunde und Nachbarn. Der Verlust eines Menschen wurde schnell durch eine Vielzahl anderer Menschen ausgeglichen. Bei mir sieht das ganz anders aus, dachte Dagmar. Was, wenn Heinz nicht mehr zurückkommen würde? Dagmar hatte niemanden, der diese Lücke ausfüllen könnte. Sie hatte eine Tochter, die mit Mann und Kindern weit weg von ihrem Zuhause lebte und mit sich selbst genug zu tun hatte, statt sich auch noch um sie zu kümmern. Zu den Nachbarn hatte sie eher oberflächliche Beziehungen und wirkliche Freunde besaß sie gar nicht. Der Bekanntenkreis bestand ausschließlich aus Heinz’ Seilschaften, ohne ihn würde dieser sich bald in Wohlgefallen auflösen. Je mehr Dagmar grübelte, desto klarer wurde ihr, dass sie wirklich allein stand auf der Welt.

      Ute hatte ein schönes Mittelklassehotel ausgewählt und dort zwei Einzelzimmer gebucht. Khun Pravat hatte den Damen noch das Gepäck bis vor die Rezeption getragen und dann den Heimweg angetreten. Nach einem erfrischenden Duschbad und dem Wechseln der Kleidung trafen sich die beiden Freundinnen in der Hotellobby. Ute organisierte ein Tuk-Tuk, ein dreirädriges Mini-Taxi auf Basis eines normalen chinesischen Motorrades und gleich darauf knatterten sie durch die laue Nacht in Richtung Innenstadt. Das Restaurant, das Ute ausgewählt hatte und das angeblich das einzige in der ganzen Stadt war, wo man halbwegs genießbares Essen bekam, war zu einer unbewohnten Ruine mutiert. Ratlos schlenderten sie die Straße entlang und landeten schließlich auf dem Nachtmarkt, wo sie sich an einen schmutzigen und mit kleinen Wasserpfützen bedeckten Blechtisch setzten. Das Essen war wirklich nicht berauschend, aber die Atmosphäre glich diesen Mangel aus. An vielen Tischen innerhalb und außerhalb der Markthalle saßen sowohl Thailänder als auch ausländische Touristen, die speisten, tranken und sich laut unterhielten.

      Die beiden Frauen blieben nach dem Essen noch eine Weile sitzen und löschten ihren Durst mit wässrigem Draftbeer.

      »Lass uns zurück ins Hotel fahren und uns dort noch einen Absacker genehmigen«, schlug Ute vor. »Es war ein anstrengender Tag und morgen habe ich mein Vorstellungsgespräch.«

      Sie schlenderten den Nachtmarkt entlang in Richtung Hauptstraße, von wo aus sie eine Rikscha zurück zum Hotel nehmen wollten. An unzähligen Ständen wurden Souvenirs für Touristen, aber auch Kleidung und Gebrauchsgegenstände für die Einheimischen angeboten.

      »Schau mal dort. Das sind doch wunderschöne Handtaschen.«

      Dagmar nahm eine der ledernen Taschen prüfend in die Hand. Sie drehte und wendete sie, begutachtete die Aufteilung der Fächer im Inneren, schnupperte an dem Material. Unschlüssig warf sie einen Blick in Utes Richtung.

      »Kannst du kaufen, nur musst du dich bald entscheiden«, kommentierte die. Als Dagmar nochmals daran roch und die Nase leicht rümpfte, ergänzte sie: »Feinstes Dackelleder, mundgegerbt von Reisbauern aus dem Norden!«

      Dagmar sah sie entgeistert an.

      »Dackelleder?!«

      »Ja, in Thailand isst man Hunde, wusstest du das nicht? Pekinese mit sieben Köstlichkeiten, Pudel flambé, Wok Chow-Chow oder Pitbull stinksauer. Nur vier Beispiele.«

      »Madame, eighthundred Baht only for you!«, schaltete sich die junge Verkäuferin ein.

      Dagmar hängte das gute Stück verunsichert zurück an den Verkaufsständer und ging weiter.

      »Achthundert Baht!«, murmelte sie. »Die spinnt ja wohl!«

      »Das sind höchstens zwanzig Euro.« Ute schüttelte den Kopf. »Außerdem musst du natürlich handeln. Die hättest du bestimmt für vierhundert bekommen; zu Hause zahlst du dafür ein kleines Vermögen. Das war schließlich echtes Leder und die Verarbeitung war auch tadellos.«

      »Ja, Hundeleder! Nein danke!«

      »Das war doch nur ein Witz! Nun mach doch nicht so ein Gesicht, wir sind hier im Urlaub! Zumindest heute und morgen.«

      Dagmar hatte sehr unruhig geschlafen. Seit dem Verschwinden ihres Mannes verursachten ihr unbekannte Hotelzimmer ein Gefühl von Beklemmung. Sie hatte das Licht im Badezimmer brennen und die Tür einen guten Spaltbreit offen stehen gelassen. Später frühstückte sie alleine im Restaurant des Nam Yom Resort und wartete darauf, dass Ute von ihrem Termin zurückkam. Gegen Mittag brachen die beiden Damen zu einer ausgiebigen Besichtigungstour des berühmten Sukhothai Historical Park auf. Ute hatte keine Lust darauf, sich in einen der engen und klapprigen Busse zu zwängen, die zudem um diese Zeit mit Hunderten von in blauweißen Uniformen gekleideten Schülern überquollen. Stattdessen winkte sie ein merkwürdiges dreirädriges Kabinengefährt herbei, das sich ebenfalls Tuk-Tuk nannte und auf dessen Bank hinter dem Fahrersitz sie Platz nahmen. Das Vehikel fuhr knatternd und ruckelnd los; Dagmar fühlte sich darin