Der Kessel der Götter. Jan Fries

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Название Der Kessel der Götter
Автор произведения Jan Fries
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783944180328



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für eine Plattform im zweiten Stock und einer massive Steintreppe, die hinaufführte, dürfen wir uns die Steine in lebhaften Farben bemalt vorstellen. Heute kann man sie nicht mehr mit blossem Auge wahrnehmen, aber wenn man die Fluoreszenzmethode verwendet, sieht man Pferde, eine Schlange, ein Pferd mit einem Fischschwanz und eine große Anzahl geometrischer Symbole.

      Diese Bilder werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten; die grüne Farbe beispielsweise war ein Importartikel aus Verona in Norditalien. Das gleiche gilt für die Bilder: Das Pferd mit dem Fischschwanz ist weder Teil der keltischen noch der griechischen Ikonographie, es taucht hauptsächlich bei den Etruskern auf. Das wirft die Frage auf, ob Roquepertuse überhaupt ein typisch keltischer Tempel war. Bemerkenswert wenige rein keltische Gegenstände wurden an dem Ort gefunden. Das Material weist nicht nur auf umfangreiche Importe aus Norditalien hin. Wir müssen uns auch fragen, ob die Leute von Roquepertuse vielleicht einer der Keltenstämme waren, der sich im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit in Norditalien niedergelassen hatte und seither unter dem Einfluss seiner etruskischen und ligurischen Nachbarn starke kulturelle Veränderungen erfahren hatte. Ach ja, und was die Schädel in den Nischen angeht, stellt sich jetzt heraus, dass sie ins Innere des Sakralgebäudes gewandt waren. Darüber könnte man einmal nachdenken. Bei Schädeln über der Eingangstür oder an der Aussenseite einer Mauer kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass sie eine apotropäische Funktion hatten und benutzt wurden, um Feinde und böse Geister abzuschrecken. Man könnte auch annehmen, dass die Schädel nicht unbedingt von freundlichen oder verehrten Personen stammten. In Roquepertuse konnte man die Schädel innen im Tempel sehen, sie wurden durch ein Dach geschützt und aller Wahrscheinlichkeit nach geschätzt und respektiert. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Verehrung von Schädeln in der keltischen Welt alle möglichen Formen annehmen konnte. Die Siedlung und das Heiligtum von Roquepertuse wurden um 200 vor unserer Zeit herum von unbekannten Personen zerstört – ein guter Hinweis darauf, dass das Leben im keltischen Gallien nicht so friedlich war, wie manche es gern hätten.

      Um es noch einmal zusammenzufassen, würde ich vorschlagen, dass es sich bei den Kultorten der La Tène-Zeit-Kelten nicht einfach um Orte gehandelt hat, sondern um Orte des Übergangs, Passagen in andere Reiche und Realitäten. So, wie sich der geschlachtete Stier in einen Schwarm summender, krabbelnder Fliegen und Würmer verwandelte und nur die nackten Knochen zurückließ. Waren Aasfresser wie Krähen, Raben, Wölfe, Hunde, Schweine, Fliegen, Insekten und so weiter den Kelten heilig?

       Karte der Ausgrabung von Ribemont

      nach Brunaux. Ribemont-sur-Ancre.

      Viele von ihnen tauchen in keltischen Mythen auf. Und da wir gerade von Aas sprechen, kannst Du Dir vorstellen, was für ein gesundheitliches Risiko diese heiligen Schanzen darstellten? Jemand kümmerte sich ja um diese Plätze. Jemand stellte die Leichen auf, und säuberte die Grube, nachdem der Stier verwest war. Waren es Druiden oder eine uns unbekannte Priesterschaft? Und wie gingen sie mit Infektionen, Leichengift und einer hohen Sterblichkeitsrate um? War das der Preis, den man für die Fähigkeit zahlte, die Bevölkerung einzuschüchtern, die Adligen zu beherrschen und die Herrscher in Schach zu halten? Denk mal darüber nach. Wenn die Druiden Galliens so große Macht ten, wie sicherten sie sich dann ihre Macht in einer aus streitlustigen Hitzköpfen bestehenden Gesellschaft? War es der Zweck von Ribemont und Gournay, die Bevölkerung zu Tode zu erschrecken?

      Und was hat es mit der Viereckform der Anlage auf sich? Ist es nicht verführerisch, sie mit der viereckigen Gralsburg in Verbindung zu bringen, mit der viereckigen, rotierenden Burg der Anderswelt oder mit dem menschlichen Körper mit seinen vier Hauptpunkten (zwei Schultern, zwei Hüftknochen) der mittelalterlichen, bardischen Lehre? Was macht eine quadratische oder leicht rechteckige Form heilig? Und warum gibt es keine einzige exakt quadratische Viereckanlage? Was ist an Trapezformen so Besonderes? Vielleicht möchtest Du eine Weile darüber meditieren. Man sollte meinen, dass ein quadratischer oder rechteckiger Grundriss bereits bekannt war, ebenso wie Wälle, Gräben und Palisaden, und zwar von Verteidigungsanlagen her. Doch das ist nicht der Fall. Die Kelten bauten Verteidigungsanlagen und Ringwälle auf Berg- oder Hügelkuppen. Manchmal halfen sie der Natur ein wenig nach und machten Abhänge etwas steiler oder flachten sie oben etwas ab. Trotzdem passten sie ihre Verteidigungsanlagen dem natürlichen Terrain an. Keltische Festungen haben meist unregelmäßige Formen und abgerundete Ecken. Es waren die Römer, die rechteckige Forts einführen und bewiesen, dass sie allen Erdwallfestungen der Frühzeit überlegen waren.

      Den militärischen Hintergrund können wir also vergessen. Was könnte den Kelten noch Modell gestanden haben für ihre Tempel? Denk mal darüber nach, wo man quadratische Formen in der Natur findet. Du wirst schnell feststellen, dass sie selten sind. Was als Grundriss für von Menschen bewohnte Gebäude, Siedlungen und Straßen so außerordentlich nützlich ist, stellt sich in der Natur als verblüffend rar heraus. Wo finden wir also den Prototyp der Viereckanlage? Wurde die Form gewählt, gerade weil sie so „un-natürlich” ist? Oder sollten wir die Antwort suchen, während wir den Himmel betrachten? Um der kreativen Spekulation willen möchte ich Deine Aufmerksamkeit auf die Konstellation Ursa minor am nördlichen Himmel lenken. Ich möchte Anad danken für diese bemerkenswerte Idee. Hier finden wir eine moderate Viereckschanze vor, obgleich ich vielleicht hinzufügen sollte, dass zwei der vier Sterne, die sie zu einem Viereck machen, an unserem modernen verschmutzten Nachthimmel schwer zu erkennen sind. Ursa minor, der kleine Bär, ist wichtig, weil er so nah an der Nordachse liegt, wo frühere Kulturen den Ort vermuteten, an dem der Himmelspfeiler den Himmel stützt. Heutzutage befindet sich Norden fast exakt am Polarstern, der selbst Teil des Schwanzes von Ursa minor ist.

      Der Nordpunkt, der vom Winkel der Erdachse definiert wird, bewegt sich. In der La Tène-Zeit lag er näher an der „Viereck-” oder „Rechteck”-Schanze Ursa minor als und Polarstern. Man könnte die Konstellation spekulativ als viereckige, rotierende, sich um sich selbst drehende Burg bezeichnen und sie mit Taliesins Lied „den Herrscher will ich preisen”, Bo T 30 (s. im Kapitel „der ewig hungrige Kessel”) vergleichen, oder mit Cu Rois Burg in den irischen Mythen und dem Plan heiliger kelto-germanischer Spiele wie Gwyddbwll, Tawlbwrdd, Tablud, Tafl, Fithcheall, Brandubh oder mit den verzauberten viereckigen Burgen, die in der frühen Gralsliteratur so reichlich vorkommen.

      Sei es, wie es sei, es ist wahrscheinlich nützlich, sich keltische Kultorte als Plätze des Übergangs, der Transzendenz und der Umwandlung vorzustellen. Was ihnen heilig war, war immer auch ein Tor zu einem anderen Bewusstsein. Heilige Haine, Tempelanlagen, Brunnen, Sümpfe, Seen, Felsspitzen, Höhlen und so weiter ergeben einen Sinn, wenn man sie sich nicht einfach als Plätze vorstellt, sondern als Orte des Übergangs. Heiligkeit beinhaltet die Erfahrung des Numinosen, und was heilig ist, ist nicht notwendigerweise ein Ding oder ein Ort, sondern eine bestimmte Qualität der Erfahrung. Das gilt für von Menschenhand erbaute Gebäude ebenso wie für geweihte Wälder oder heilige Flüsse. Halte nach den Toren Ausschau!

       Schatten im Labyrinth

      Es ist einfach Pech, dass wir so wenig über die Götter der keltischen Vorzeit wissen. Dass es viele Götter gab und dass Dutzende von Religionen existierten, ist halbwegs sicher, aber worum genau es sich dabei handelte, ist eine Frage, die nur das sprudelnde Wasser, die Flammen des Lagerfeuers, die heulenden Winde und der sternfunkelnde Himmel beantworten können. Wie auch immer die frühkeltische Religion ausgesehen hat, können wir nicht wissen. Diese Situation bessert sich ein bisschen, wenn wir zu den letzten Phasen der La Tène-Zeit kommen, als griechische und römische Autoren begannen, die eine oder andere Kuriosität über den Glauben der Kelten Galliens aufzuzeichnen. Nun ist Gallien nach allem, was wir wissen, nicht repräsentativ für die vielen Kulturen der sogenannten keltischen Welt. Dennoch sind diese kleinen Bruchstücke, so zweifelhaft sie auch sein mögen, das Einzige, was wir in der Hand haben. Wie sahen die keltischen Gottheiten aus?

      Im Hinblick auf die meisten hat fast nichts überlebt. Sehen wir uns einige wenige von ihnen mal an. Nehmen wir dazu die berühmte Passage von Lukan (Bellum Civile/ Pharsalia). Lukan berichtet seinen Lesern, die drei höheren Götter Galliens seien Teutates,