Der Kessel der Götter. Jan Fries

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Название Der Kessel der Götter
Автор произведения Jan Fries
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783944180328



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Die Inhalte des innersten Grabens von Gournay

      nach Brunaux, 1986

      Es könnte sich lohnen, auf eine Phantasiereise zu gehen, um die von den Leuten von Gournay favorisierte Kosmologie kennenzulernen. Was Gournay angeht, sind unsere Rekonstruktionen hypothetisch und beschränken sich auf eine bestimmte Zeitspanne. Der Eingang lag ursprünglich im Ost-Nordosten, nicht auf einer Linie mit der Opfergrube oder dem ersten Gebäude. Im allgemeinen kann man im Osten die Richtung sehen, wo alle Himmelskörper - die Sonne, der Mond und die Sterne - aus der Unterwelt aufsteigen. Das Gegengewicht ist der Westen, wo sie alle in der Tiefe verschwinden, und damit in die Unterwelt. Die Schanze selbst enthielt nichts Ungewöhnliches, aber westlich der Grube befand sich der verborgene Bereich, direkt hinter dem rechteckigen Tempel. Und darüber hinaus gab es außerhalb der Schanze, westlich davon, den Hügel, der die Gefässe mit den Opfergaben enthielt, die alle in einer quadratischen Grube lagen und den Bewohnern der Unterwelt übergeben worden waren. Wir wissen nicht, ob die Priesterschaft des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeit wusste, was sich in dem vor zweihundert Jahren erbauten Hügel befand. Vielleicht hielten sie ihn für ein Grab aus früherer Zeit. Das wäre nicht ungewöhnlich; so manche Tempelanlage in Gallien oder Germanien lag in der Nähe älterer Grabhügel. Um Gournay zu betreten, musste man nach Westen gehen (d. h. in die Richtung des Verschwindens, des Todes und der Unterwelt), während man nach Osten ging, um die Schanze zu verlassen, in die Richtung der Geburt und des Wiederauftauchens. Im Süden der Schanze befand sich eine freie Fläche, die, wie Experten spekulieren, bei zeremoniellen Festmählern benutzt wurde.

      Solche Aktivitäten waren wichtige Rituale im zweiten und ersten Jahrhundert vor unserer Zeit. Ich frage mich, wie sie an einem solchen Ort einen gesunden Appetit entwickeln konnten. Außerhalb der Anlage und etwa 100 m südlich davon befand sich eine Befestigung, die während der frühen und späten La Tène-Zeit bewohnt war; man könnte überlegen, ob der Süden Versammlungen, Siedlungen oder menschliche Aktivitäten ganz allgemein symbolisierte. Was den Norden angeht, so enthält der nördliche Abschnitt der Anlage ein Rätsel. In dem fetten Lehmboden wurden Spuren von Ästen und Holzstücke entdeckt. Sie waren dort nicht einfach achtlos verstreut, sondern ebenfalls sorgfältig gesammelt und in besonderen Gruben begraben worden. Eine Hypothese bezüglich dieser Funde ist, dass sich vielleicht eine Koppel im Nordabschnitt befand, wo die Opfertiere vor dem Schlachten gehalten wurden. Das würde das Vorhandensein von Ästen erklären, aber nicht, weshalb die Äste so sorgfältig gesammelt und vergraben wurden. Eine andere Theorie, die ich überzeugender finde, ist, dass sich im Norden eine Gruppe heiliger Bäume befand, vielleicht ein winziger „Hain”, der jene heiligen Haine symbolisierte, die so oft mit keltisch-germanischen Riten in Verbindung gebracht werden. Wenn wir an heilige Bäume denken, können wir uns vorstellen, dass herabfallende Äste und Zweige nicht achtlos behandelt wurden wie Abfall, sondern sorgfältig vergraben wurden. Die Assoziation zwischen Bäumen und hoch aufragenden Pfählen im Norden ergibt ebenfalls einen Sinn, da der Norden üblicherweise mit dem Weltenbaum oder dem Himmelspfeiler in Verbindung gebracht wurde, eine Vorstellung, die in der eurasischen Kosmologie sehr verbreitet war.

      Das ist natürlich nicht alles, was Gournay ausmachte, da der heilige Bezirk über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich umgebaut und immer wieder neu gestaltet wurde und wesentliche Veränderungen der Religionsausübung mitgemacht hat. Genausowenig, wie wir wissen können, welche Glaubensinhalte die Priester von Gournay pflegten, können wir wissen, wer diese Priester eigentlich waren. Es mag in der späten La Tène-Zeit Druiden in Gournay gegeben haben, aber was die früheren Ritualisten angeht, kann man das nur herausfinden, indem man auf Zeitreise geht, und vorübergehend vorgefertigte Vorstellungen außer Acht lässt. Wenn Du gut in Trancereisen bist und Dich von der einen oder anderen Leiche nicht abschrecken lässt, dann begib Dich in das Zwischenreich der Tempelanlage, erfahre ihre Mysterien und lerne die verborgenen Bedeutungen zu verstehen, die sie für Dich bereithält. Du wirst dabei keine Fakten im historischen Sinn erfahren, aber Du könntest eine subjektive, magisch gültige Einweihung erleben.

      Unter die Oberfläche zu gehen kann ich nur Praktikern empfehlen, die eine Menge Erfahrung im Umgang mit halb vergessenen Gottheiten haben, und außerdem die Weisheit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was erwacht, sowie das Taktgefühl, das ruhen zu lassen, was in Ruhe gelassen werden will. Du könntest die Himmelsrichtungen Gournays und ihre Bedeutung den sechs Seiten eines Würfels zuordnen und ein darauf beruhendes neues System der Wahrsagung erfinden. Wenn vier Augen für die Erde stehen, drei für den Himmel und sechs für das Tor, könntest Du sogar ein numerologisches System entwickeln. Kein altkeltisches, sondern ein neues, das offen ist für neue Interpretationen. Versuche, jede Richtung durch ein paar Substantive, Adjektive und Verben zu definieren. Im Verlauf dieses Prozesses wird die ganze Kosmologie in Deinem Geist sehr viel lebendiger werden. Es handelt sich nicht um einen Akt der Rekonstruktion, sondern der kreativen Re-Interpretation. In diesem Sinn war Gournay nicht nur ein Brennpunkt für viele religiöse Weltanschauungen, er könnte es wieder werden, wenn auch in einer neuen Form, die Deiner Zeit und ihren Überzeugungen angemessen ist.

      Das Ende der streng genommen rein gallischen Periode kam 125 vor unserer Zeit, als die sakrale Schanze aus unbekannten Gründen systematisch abgebaut wurde. Die Opfergrube und die Gräben wurden aufgefüllt, die Palisade und die Gebäude wurden niedergebrannt, und der ganze Ort wurde sorgfältig gereinigt. Dann folgte eine Zeit der Inaktivität. Während des ersten Jahrhunderts unserer Zeit und unter römischer Herrschaft wurde ein neues Tempelgebäude genau an dem Ort errichtet, wo sich früher die Opfergrube befunden hatte (Phase 5). Statt einer Grube enthielt der „Tempel” einen Ort für Brandopfer. Um das Jahr 100 herum wurde der Ort erneut zerstört, im folgenden Jahrhundert aber wieder aufgebaut (Phase 6). Er diente bis ins 4. Jahrhundert hinein als gallorömischer Tempel, was zeigt, dass sich zwar Riten und Religion änderten, die heiligen Orte aber die gleichen blieben.

       Ein Trophäenhort

      Die Dinge werden noch extremer, wenn wir einen kurzen Blick auf die sakrale Anlage von Ribemont-sur-Ancre werfen, etwa 50 km nördlich von Gournay. Mitte der 90´er Jahre war nur ein Drittel von Ribemont freigelegt, aber was man dann fand, macht diesen Ort zu einem der wertvollsten und makabersten Kultplätze, die je gefunden wurden. Anders als Gournay ist Ribemont nicht sehr typisch für gallische Kultanlagen. Manche Experten halten sie nicht einmal für einen Tempel, sondern eine Art Kriegerdenkmal, mit dem eine Anzahl von Siegen des späten 3. Jahrhunderts vor unserer Zeit gefeiert wurde. Da Ribemont eine komplexe Geschichte hat und bis in die Zeiten der römischen Besatzung hinein in Gebrauch war, möchte ich mir nicht die Mühe machen, all seine Entwicklungsschritte aufzuzählen. Es genügt zu sagen, dass die Viereckschanze von Ribemont von einer Palisade umgeben war, die 3 m hoch aufragte und dass die offenen Gräben, die für Gournay so charakteristisch waren, hier fehlen. Allerdings ist Ribemont vielleicht der einzige Kultplatz, wo sich Teile der heiligen Gebäude außerhalb der Schanze befanden. Zwei dieser Gebäude wurden bisher erforscht. Eins ist das Portal über dem Eingang, wo die einzigen Schädel des Ortes aufbewahrt wurden. Das andere ist ein hohes Gebäude außerhalb der Umfriedung. Es scheint sich um eine überdachte Plattform gehandelt zu haben, die in einiger Höhe errichtet worden war, wo eine große Anzahl unheimlicher Trophäen aufbewahrt wurde. Und von hier an wird es extrem kompliziert.

      Ich kann leider nicht die gesamten Hintergründe aufzählen, die zu den genannten Schlussfolgerungen führen; daher hoffe ich, dass der interessierte Leser sich die Mühe machen wird, etwas zu dem Thema nachzulesen (s. Brunaux, 1995). Wo das Gebäude stand, haben die Archäologen mehr als 10.000 Menschenknochen und mehrere hundert Waffen auf einer Fläche von nur 60 Quadratmetern entdeckt. Diese Gegenstände waren nicht achtlos verstreut. Die meisten Knochen befanden sich an ihrem anatomisch richtigen Ort, die Schwerter steckten in Scheiden, die Scheiden waren an Gürteln befestigt, und so weiter. Allerdings hatte man sich definitiv an den Leichen zu schaffen gemacht. So hatte zum Beispiel keine von ihnen einen Kopf. Und, was noch seltsamer war, jeder Körper war an der Taille durchgeschnitten worden. Die Priesterschaft von Ribemont hatte die Leichen sorgfältig so aufgestellt, dass jeder Oberkörper auf einem anderen Unterkörper als dem seinen ruhte! Es ergibt sich ein reichlich seltsames Bild. Wir haben hier diese mehrere Meter hohe Plattform am