Der Kessel der Götter. Jan Fries

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Название Der Kessel der Götter
Автор произведения Jan Fries
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783944180328



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       Die Erforschung von Gournay

      Sehen wir uns zunächst einmal Gournaysur-Aronde in Nordfrankreich an, wo die Bellovaker ihr Oppidum hatten. Wir werden uns diesen Ort sehr genau anschauen, unter Einbeziehung der umfangreichen Forschungsergebnisse von Brunaux, da es sich um faszinierendes Beweismaterial für die sich wandelnden Trends in den gallischen Religionen handelt. Außerdem kann es als Traumschlüssel zur Religion der La Tène-Zeit dienen, für Leser, die gern etwas Praktisches unternehmen (ich hoffe, Du fühlst Dich angesprochen!) Die Anlage von Gournay hat einen nahezu quadratischen Grundriss von 45 x 38 m, mit einem Eingang im Nordosten, wo die Sonne über einem Fluss und sumpfigen Marschen aufgeht. In Gournay wurde bereits im frühen 4. Jahrhundert vor unserer Zeit gebaut, allerdings handelte es sich dabei nicht um die Schanze, sondern um die Aushebung einer 2 x 2 m großen, quadratischen Grube. Entlang der Ränder dieser Grube wurden ungefähr 20 irdene Gefäße verschiedener Größe aufgestellt; die Mitte blieb frei. Die Gefäße enthielten vielleicht Speise- und Trankopfer. Die Grube blieb eine Zeit lang offen. Dann wurde sie mit Erde zugeschüttet und ein kleiner Hügel mit einem Durchmesser von ca. 10 m über ihr errichtet. Zu dieser Zeit wurde mit dem Bau der Tempelanlage begonnen, die in etwa östlich des Hügels angelegt wurde. Anfangs war die Anlage eine bescheidene Angelegenheit. Stell Dir eine freie Fläche vor, umgeben von einem 2 m tiefen und breiten Graben. Das ist Phase 1 des Heiligtums (s. Illustration) – eine quadratische, offene Fläche, umgeben von einem Graben und einer Aufschüttung innerhalb des Grabens.

      Mehrere lange Pfähle wurden innerhalb dieses Platzes aufgestellt, und der hauptsächliche rituelle Fokus war eine tiefe, runde Grube, etwas westlich des Zentrums.

      Es gibt keine Anhaltspunkte für Gebäude, Trophäen oder Opferhandlungen in dieser Periode, und was innerhalb dieser Umfriedung vor sich ging, weiß keiner. Es könnte sich um Feste, Versammlungen, gemeinsame Gottesdienste, Rituale oder Volkstänze gehandelt haben – man weiß es nicht. Was immer es war, es hat keine Spuren hinterlassen. In der zweiten Phase, zwischen dem vierten und dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeit, wurde der Graben mit Holzplanken verkleidet und von einer hohen Holzpalisade umgeben, um die Grenzen zwischen außen und innen stärker zu betonen. Vielleicht wurden die Riten weniger öffentlich, oder es gab ein stärkeres Bedürfnis, den sakralen Bereich von seiner Umgebung zu trennen. Die Palisade sah zwar ein bisschen wie eine Verteidigungsanlage aus, stellte aber eher eine symbolische Grenze dar. Die Priesterschaft von Gournay vermaß den Platz sorgfältig und umgab die zentrale Grube mit einem Ring von neun kleineren Gruben. Es sagt einiges aus, dass alle diese kleineren Gruben exakt die gleiche Distanz zum Zentrum hatten (soviel zur Präzision), dabei aber etwas unregelmässig geformt waren, was einen allgemeinen Eindruck von Symmetrie macht, ohne dass die Erbauer davon besessen gewesen wären. Eine weitere Neuerung dieser Phase war eine geheimnisvolle Grube außerhalb des Eingangs. Phase 3, zwischen dem dritten und dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit, zeigt weitere Veränderungen. Die neun kleinen Gruben um die große, zentrale Grube wurden zugeschüttet. Dafür erscheint ein primitives Gebäude über der zentralen Grube – ein paar Holzpfeiler, die ein Dach tragen. Das „Gebäude” hatte keine Wände – vielleicht war sein einziger Zweck, Regen von der Grube fernzuhalten. Der Grundriss des Bauwerks ist rund. Zu dieser Zeit verschwinden die meisten anderen Pfeiler von der Viereckschanze. Wir sind auch Zeugen der Aushebung eines weiteren Grabens, der die Schanze außerhalb der Palisade umgab.

       Grobe Skizze der Entwicklung von Gournay-sur-Aronde

      Departement Oise, Nordfrankreich, nach Brunaux.

      In Phase 4, im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit, wird das runde Gebäude durch ein rechteckiges ersetzt. Das neue hat Wände aus Flechtwerk an drei Seiten, aber Eingangsseite blieb völlig offen. In dieser Phase stehen mehrere hohe Pfeiler innerhalb der Schanze. Der Eingang wurde leicht nach Norden verschoben und liegt daher auf einer Linie in Richtung des rechteckigen Gebäudes. Ein Ergebnis davon war, dass das Licht der aufgehenden Mittsommersonne durch das Tor fallen und das Gebäude und seine Sakralgrube erleuchten konnte. Der innere Graben wird erweitert, um mehr Trophäen aufnehmen zu können. Der äußere Graben umgibt die gesamte Schanze, man betritt sie aller Wahrscheinlichkeit nach über eine kurze Holzbrücke. Am Eingang können wir uns ein hoch aufragendes, auf sechs Säulen ruhendes Portal vorstellen, einen massiven, eindrucksvollen Bau, wo eine Ansammlung von Trophäen und Menschenschädeln ausgestellt wurde. Es sind die einzigen Menschenschädel, die man in Gournay gefunden hat. In der Nähe fand man Schädel von Stieren und Kühen, zweifellos ein wesentlicher Teil der Dekoration. In dieser Periode wurden die meisten Opfer dargebracht.

      Nun zu einer Rekonstruktion der blutigen Details. Zu bestimmten Anlässen wurde ein älterer Stier oder eine Kuh in die Schanze geführt und an einen der Pfähle in der Nähe der Grube gebunden. Im Verlauf einer unbekannten Zeremonie wurde das Tier mit einem Axthieb, Schwerthieb oder Speerstoß getötet (all diese Methoden konnten nachgewiesen werden) und intakt in die Grube geworfen. Dann überließ man es sechs bis acht Monate der Verwesung. Anschließend wurden die Knochen eingesammelt und die Grube gesäubert. Der Schädel wurde sorgfältig abgetrennt und in die Nähe des Eingangs gelegt; die restlichen Knochen wurden in den Graben geworfen. Der innere Graben enthielt die Knochen von etwa 40 Stieren und Kühen.

      Man könnte sich darüber Gedanken machen, ob der massive Stier am Boden des Gundestrup-Kessels vielleicht ein geschlachtetes Rind in der Opfergrube darstellt (s. Illustration). Der Kessel und die Opfergrube haben eine Menge gemein – beide sind Fokus eines Rituals, Gefäße, die die Opfergabe empfangen, bewahren und transformieren, Tore in die Tiefe, Eingänge zur Welt unter der Oberfläche.

      Stiere und Kühe waren nicht die einzigen Tiere, die geschlachtet wurden. Es gibt auch Hinweise auf die Opferung von Haustieren (Schweine, Schafe und Hunde). Auf welche Weise sie geopfert wurden, unterlag mehrmaligem Wandel. Im dritten bis zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit wurden Vieh und Schweine getötet, aber nicht zerlegt oder gegessen. Im zweiten bis ersten Jahrhundert vor unserer Zeit tauchen sie bei Opfermählern auf, wie auch Schafe und Hunde. Pferde wurden in allen gallischen Tempeln geopfert, sie waren aber nie Teil des Opferfestmahls. Das ist erstaunlich, da Haffner (1995) darauf hinweist, dass Pferde durchaus auf dem alltäglichen Speiseplan standen. Die Opfertiere wurden in den inneren Graben geworfen, aber nicht achtlos, sondern nach einem regelmäßigen und symmetrischen Muster (s. Illustration).

      Die inneren Gräben von Gournay enthielten sehr viel mehr als nur Teile von Tierkörpern. Im frühen dritten Jahrhundert vor unserer Zeit fing die Priesterschaft von Gournay an, Trophäen zu sammeln. Eine überraschende Anzahl an Waffen, Rüstungsteilen und Schilden wurde gefunden, alles in allem etwa 3000 Waffen und mindestens 300 komplette Rüstungen. Die meisten von ihnen wurden jahrelang offen zur Schau gestellt. Dann, zu irgendeiner wichtigen Gelegenheit, wurden sie rituell zerstört: Verbogen, zerbrochen, zerschmettert und in die Gräben geworfen. Eine Auswahl an Waffen scheint auf einer Plattform über dem Tor zur Schau gestellt worden zu sein. Dieses rituelle Verhalten (Zurschaustellung gefolgt von ritueller Zerstörung) wurde in mehreren gallischen Heiligtümern nachgewiesen. Es mag sich dabei um ein wichtiges Element in der Denkweise der La Tène-Zeit gehandelt haben; eine ähnliche Idee liegt zugrunde, wenn ein unbezahlbar wertvolles Schwert verbogen oder zerbrochen wurde, bevor man es der Gottheit eines Flusses, Sees oder Sumpfes überantwortete. Vielleicht kann hier eine Äußerung von Polybios Aufschluss geben, der nach einer wichtigen Schlacht bemerkte, die siegreichen Gallier hatten die gesamte eingesammelte Beute zerstört – die Waffen ihrer Gegner und sogar einige ihrer eigenen Waffen. Für Polybios sah das so aus, als hätte sich eine Horde betrunkener Barbaren einfach einem Anfall hirnloser Zerstörungswut hingegeben. Aber ob sie nun betrunken waren oder nicht, das Ereignis kann sehr wohl einen religiösen Hintergrund gehabt haben. Abgesehen davon enthielten die Gräben die Knochen von etwa einem Dutzend erwachsener Menschen beiderlei Geschlechts, deren Glieder mit einem Messer abgeschnitten worden waren (zu welchem Zweck?), außerdem sechs (oder mehr) Schädel, die alle sorgfältig vorbereitet waren, indem man das Gehirn herausgenommen hatte und die oberhalb des massiven Portals Platz gefunden zu haben schienen.