Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

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Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



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identifizieren. Ihre sportlichen Großtaten wurden für die Menschen im Ruhrgebiet und weit jenseits der Grenzen des Kohle- und Stahlreviers legendär. Die prosaische Wahrheit interessierte im Augenblick des Triumphs und danach niemanden mehr. „Noch nie hat der Gewinn einer deutschen Fußballmeisterschaft einen so ungeheuren Widerhall in den Herzen der Bevölkerung einer ganzen Stadt, ja eines ganzen Reviers gefunden, und man kann behaupten, daß der Volkssport Fußball noch nie volksnäher gewesen ist als in dem Augenblick, wo er Schalke 04 mit der Meisterwürde krönte“, hieß es am 5. Juli 1934 im offiziellen DFB-Organ Deutscher Fußball-Sport.

      Damals erhielten die Schalker auf der Rückfahrt von Berlin am Montag nach dem Finale einen Vorgeschmack auf das, was sie in Gelsenkirchen erwartete. Erste westfälische Station der Meisterelf war Bielefeld, wo Gratulanten der Arminia und des VfB 03 auf den Bahnsteig kamen. „Schalke, wir grüßen Dich“ prangte auf Transparenten in den Bahnhöfen entlang der Strecke. Den Spielern wurden Blumensträuße, Kränze und Geschenke überreicht. In Dortmund tranken sie aus goldenen Bechern, trugen sich Mannschaft, Trainer und Vereinspräsident im Rathaussaal ins Goldene Buch der Stadt ein. Ernst Kuzorra als Erster, ganz oben, mit großem, selbstbewusstem Schwung, verschnörkeltem „E“ und einem Bogen auf dem „u“, es folgten in einem bunten Buchstabensalat aus Sütterlin- und lateinischer Schrift Ferdinand Zajonz [Zajons], Hermann Mel- lage, Fritz Szepan, Ernst Kalwitzki, Emil Rothardt, Otto Tibulsky, V. Valentin, A. Urban, H. Bornemann, H. Nattkämper, F. Unkel und Hans Bumbas Schmidt.

      „Tausende von Menschen stehen auf dem Bahnhofsvorplatz schon eine Stunde, bevor die Schalker überhaupt in Gelsenkirchen sein können. [...] So etwas hat Gelsenkirchen, hat Deutschland noch nie erlebt. Man weiß nur eins: eine ganze Stadt, eine Stadt von dreihundertdreißigtausend Einwohnern steht Kopf. Fast eine halbe Million Augen gucken, wenden ihren Blick zu dem Zentralknotenpunkt des Haupteinganges, um die Ankunft des Deutschen Fußballmeisters zu erwarten“,

      schrieb die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 26. Juni 1934 („So empfängt Gelsenkirchen seinen und Deutschlands Meister“). „Die SS erhält Befehl, das Publikum, das sich in beängstigender Anzahl auf Bahnsteig 2 eingefunden hat, zurückzudrängen. Es werden Verhaltensmaßregeln herausgegeben, aber Frauen fallen in Ohnmacht und werden die Treppe heruntergetragen.“

      Pünktlich um 19 Uhr 18 lief der Zug im Gelsenkirchener Hauptbahnhof ein. Sonne Fahrt wie von Berlin nach Hause hab ich nie wieder mitgemacht. Überall blau-weiße Fahnen und jubelnde Menschen. In Gelsenkirchen bekamen wir kein Bein auf die Erde, vor dem Bahnhof war alles schwarz vor Menschen, erinnerte sich Kuzorra später. Vom Bahnhofsvorplatz aus erstreckten sich die Menschenmassen die Bahnhofstraße hoch und weiter über die Kaiserstraße bis zum Schalker Markt. Dort erwarteten ebenfalls Tausende Anhänger die Spieler, deren Konterfeis die Front der „Kaiserhalle“, des Schalker Vereinslokals, schmückten. „Als erster steigt Mellage aus, und man weiß noch nicht, wie das alles weitergeht. Ein Hochrufen, ein Rufen, Schreien, Drängen und Wehren ist auf dem Bahnsteig, daß man gar nicht weiß, was man tun soll“, so die Gelsen- kirchener Allgemeine Zeitung.

      „Sie sind da, sind wieder in der Heimat, und die Minute steht ihnen bevor, da die Stadt, diese vielen tausend Menschen ihnen den Dank abstatten wollen dafür, daß sie dem Namen der viel verrufenen Stadt solche Ehre heimbrachten“, fasste das Lokalblatt die unglaubliche Atmosphäre zusammen, auf welche die siegreichen Schalker Fußballer trafen. Und die freuten sich: „Heute haben wir alle Sympathien für uns.“ Fritz Szepan, der die Schalker in der 87. Endspielminute mit seinem Kopftalltor zum 1:1-Ausgleich wieder ins Spiel gebracht hatte, bevor Ernst Kuzorra Sekunden vor dem Schlusspfiff die Entscheidung herbeiführte, und der nun zusammen mit Kuzorra auf den Schultern der Fans aus dem Bahnhofsportal herausgetragen wurde, konnte es nicht fassen: „Wenn die Leute doch vernünftig wären [...].“

      Der Finalsieg von Berlin gab dem Selbstwertgefühl nicht nur der Gelsen- kirchener, sondern der gesamten Revierregion enormen Auftrieb. Schalkes Triumph vereinte Menschen, die seit Jahrzehnten unter einem „sozialen Minderwertigkeitskomplex“ litten, so der Sozialhistoriker Siegfried Gehrmann, und sich als StieMnder des sozialen und materiellen Fortschritts empfanden. Sie identifizierten sich mit einer Mannschaft, deren Spieler demselben sozialen Milieu entstammten wie sie selbst. Die diesem Milieu über ihre Arbeitsplätze und Familien weiter verbunden waren und die als Kollektiv bewiesen hatten, dass es möglich war, sich gegen Hindernisse und Widerstände zu behaupten, wenn man nur unbeirrt sein Ziel verfolgte.

      Dass die Schalker in Berlin, angeführt von Kapitän Kuzorra, bis zum sprichwörtlichen Umfallen gekämpft hatten, entsprach der Lebenserfahrung der Anhänger. Auch sie mussten tagtäglich für ihren Lebensunterhalt kämpfen und dabei immer wieder Rückschläge hinnehmen. Schalkes Triumph war der sichtbare Beweis, dass es sich lohnte, niemals aufzugeben und immer weiter für seine Interessen zu kämpfen. Sechsmal hintereinander waren die Schalker zuvor in den Endrunden um die Deutsche Meisterschaft am großen Ziel gescheitert, beim siebten Mal erreichten sie ihr Ziel. Sie hatten sich nie entmutigen lassen, und am Ende war ihr Einsatz belohnt worden. Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind.

       Zwischen Amateur und Profi

      Wie sehr Schalke zur Legendenbildung taugte, hatte der Verein bereits drei Jahre vor dem erfolgreichen Finale unter Beweis gestellt. Als die erste Mannschaft am 1. Juni 1931 in der Glückauf-Kampffahn auflief, drängten sich gut 70.0 Menschen im und vor dem Stadion. Kuzorra & Co. hatten seit Oktober 1930 kein Spiel mehr bestritten und lösten mit ihrem ersten Auftritt nach Aufhebung einer vom WSV verfügten Sperre zum 30. Mai 1931 einen Massenansturm aus, wie ihn Fußballdeutschland noch nicht erlebt hatte.

      Knapp ein Jahr zuvor, am 25. August 1930, hatte die Spruchkammer des WSV acht Funktionäre des Vereins ausgeschlossen und 14 Spieler wegen Berufs- spielertums gesperrt, also praktisch die gesamte erste Ligamannschaft des FC Schalke 04. In der Saison 1930/31 spielte Schalke mit einer Notmannschaft aus Akteuren, die kaum jemand kannte. Das Verfahren habe

      „aufgrund der vorliegenden buchlichen Belege und der Geständnisse der beteiligten Vorstandsmitglieder und der Spieler ergeben, dass 1. die Spieler der ersten Mannschaft regelmäßig Spesenbeträge erhalten haben, die über das satzungsmäßige Maß weit hinausgingen; 2. neben den Spesen regelmäßig für die spielerische Mitwirkung eine regelrechte Entlohnung gezahlt wurde; 3. mehrere dieser Spieler außerdem weitere Zuwendungen in Gestalt von Geschenken, Darlehen und Vorteilen in ihrer beruflichen Stellung angenommen haben“,

      womit alle Betroffenen „in weitestem Maße“ gegen das Amateurstatut von 1920 („Berufsspieler ist jeder, welcher für die Ausübung des Fußballspiels [...] eine Entschädigung in Geld oder Geldeswert annimmt“) verstoßen hätten.

       Weltfremde Moralapostel

      Der Deutsche Fußball-Bund und die regionalen Fußballverbände verstanden sich von Anfang an nicht nur als sportpolitische Organisationen, sondern auch als ethische Instanzen und moralische Wächter über einen Sport, der nach ihrem Verständnis ausschließlich von Amateuren ausgeübt werden durfte. Geld für etwas zu nehmen, das man aus Sicht der Funktionäre zur eigenen Körperertüchtigung und zum Wohle der Nation betrieb, galt als anrüchig: „Wir bekämpfen das Berufsspielertum aus ethischen Gründen. [.] Es wäre ein Frevel an unsrer deutschen Jugend, wollten wir das Berufsspielertum in Deutschland auch nur im Geringsten begünstigen“, hieß es im Amateurstatut des DFB von 1920. „Wir spielen um die Ehre“, lautete das Credo, und wer Amateur war, hatte der DFB bereits 1902 in seiner Satzung in verschnörkeltem Behördendeutsch festgeschrieben:

      „Als Amateur ist derjenige zu betrachten, der wissentlich noch nie um einen Geldpreis oder um eine Vergütung in baar [sic] oder in Gegen- ständen Fußball gespielt oder zum Zwecke des Lebensunterhaltes Unterricht in irgendwelchen Sportzweigen erteilt oder der für Reisen als aktiver Spieler eine Entschädigung in baar oder in Gegenständen erhalten hat, die seine Reise- und Hotelkosten nach Ansicht des Ausschusses des D.F.B. in erheblichem Maaße übersteigen, oder der für verlorene Zeit eine Entschädigung erhält“ (zit. nach: Grüne/Schulze-Marmeling, S. 37).

      Dass die Verbände beim Amateurideal zweierlei Maß anlegten, schien indes keinen der Verantwortlichen zu stören. Manchen Vereinsspielern hingegen