Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

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Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



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Ohne die Erfolge der Schalker Fußballer wäre die seinerzeit noch selbstständige Gemeinde Schalke wohl im Zuge der Zusammenfassung mit dem Stadtkreis Gelsenkirchen, mit Heßler, Braubauerschaft, Bulmke-Hüllen und Ückendorf im Jahr 1903 sang- und klanglos in der Anonymität der neuen, 140.000 Einwohner zählenden Großstadt Gelsenkirchen untergegangen. Der Aufstieg des FC Schalke 04 hingegen sorgte dafür, dass der Name Schalke in den 1920er- und 1930er-Jahren über die Region hinaus zu einem Begriff wurde - und zum Synonym für eine neue, aufregende Fußballkultur. Deren Protagonisten schickten sich damals an, den süddeutschen Vereinen die Vorherrschaft im deutschen Fußball streitig zu machen.

      Und der Ortsteil Schalke bot ideale Bedingungen zur Verwirklichung solcher Träume, hatten die prosperierenden Betriebe der Schwerindustrie und des Bergbaus doch ein vitales Interesse daran, die seinerzeit übliche wilde Fluktuation teils ganzer Belegschaften zu unterbinden. Weshalb sie bereit waren, die Gründung von Vereinen nach Kräften zu unterstützen, von denen sie sich erhoffien, dass sie ihre Mitglieder zu mehr Sesshaftigkeit animieren würden. Die Integration am Arbeitsplatz sollte Hand in Hand gehen mit der sozialen Integration über gemeinsame Aktivitäten in einem frühindustriellen Umfeld, in dem Arbeit, Wohnen und Freizeit noch eine Einheit bildeten. Und welche Vereine wären dazu besser geeignet gewesen als solche, in denen eine Sportart betrieben wurde, deren Durchbruch zum Massenspektakel nach dem Ersten Weltkrieg auch in Deutschland nicht mehr aufzuhalten war.

      Der Fußball faszinierte und elektrisierte die proletarischen Massen, weil er den Träumen der Arbeiter von Aufstieg und Erfolg und ihren Sehnsüchten nach Anerkennung und sozialer Teilhabe erstmals eine breite Projektionsfläche bot. Und als der „Malocherklub“ Schalke 04 mit seinem Kapitän Ernst Kuzorra in den 1920er- und 1930er-Jahren zahlreichen Widerständen zum Trotz zur beherrschenden Kraft im deutschen Fußball aufstieg, empfanden Hunderttausende von Arbeitern an Rhein und Ruhr dies auch als einen Triumph ihrer Region, der Kuzorra und „seine“ Schalker endlich jenes Selbstwertgefühl und jenen Stolz vermittelten, die sie in ihrer eigenen, oftmals von Demütigungen und Niederlagen, von Unterdrückung und Entbehrung geprägten industriellen Existenz nicht fanden.

      * * *

      Kuzorra und Schalke, Schalke und Kuzorra - um diese beiden Pole kreisen die nachfolgenden Kapitel. Sie gehen den wechselseitigen Einfl üssen auf den Grund, indem sie danach fragen, inwieweit der Erfolg des einen die Ausnahmestellung des anderen bedingte und umgekehrt. Um jedoch nicht der Entstehung einer neuen Legende Vorschub zu leisten, wonach der Erfolg der Schalker beinahe ausschließlich dem Ausnahmetalent Kuzorras zu verdanken sei, gilt es nach weiteren Faktoren zu suchen, die diesen Erfolg ermöglichten oder zumindest begünstigten. Allen Ausnahmekönnern zum Trotz war und ist Fußball ein Mannschaft ssport, in dem zwar einzelne Spieler Akzente setzen und herausragende Akteure durchaus Spiele entscheiden, ihre Teams prägen und zum oftmals irrationalen Mittelpunkt von Publikumsinteresse und Fanverehrung werden, in dem aber letztendlich immer die ganze Mannschaft gewinnt, in dem der Erfolg letztendlich immer ein mannschaftlicher ist, ganz gleich, wer die Tore erzielt. Das wusste bei aller spielerischen Dominanz auch Ernst Kuzorra: Die Mannschaft war wichtig, nicht der Schütze. Daher ist die eingangs angestellte kontrafaktische Überlegung, ob der FC Schalke 04 seine Triumphe auch ohne Kuzorra errungen hätte oder ob Kuzorra mit einer anderen Mannschaft ebenso erfolgreich gewesen wäre und sie zu ebensolchen Höhen geführt hätte, letztendlich insoweit müßig, als der Erfolg eines Teams immer, damals wie heute, von zahlreichen - personellen und strukturellen - Faktoren abhängt. Auch ein herausragender Einzelspieler wie Kuzorra brauchte ein entsprechendes Umfeld und Rahmenbedingungen, um sein Talent und seine besonderen Qualitäten zu entfalten und zu dem zu werden, der er für zahlreiche Fußballexperten und für die Fans der Königsblauen sowieso bis in alle Ewigkeit bleiben wird: der größte aller Schalker.

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      1 Wesentliche Informationen zu Kuzorras Anfängen in Schalke stammen aus mehreren Gesprächen mit dem Schalke-Statistiker Thomas Görge im November 2017.

      2 Editorischer Hinweis: Um sie von anderen Zitaten abzuheben und sich ständig wiederholende Formulierungen wie „erinnerte sich Kuzorra“, „meinte Kuzorra“ u.ä. zu vermeiden, erscheinen sämtliche Kuzorra- Zitate hier und in den nachfolgenden Kapiteln in Kursivschrift ohne Anführungen.

      1. DER STOFF, AUS DEM LEGENDEN SIND

      O Ernst Kuzorra, ich hab’ dich spielen geseh’n. Und deine Technik, die war wunderschön!

       Gesungen zur Melodie des Schlagers „Oh, Donna Clara“

       „Da hab’ ich ihn einfach reingewichst!“

      Der 24. Juni 1934 ist ein schwüler, drückend-heißer Frühsommertag mit Temperaturen um die 25 Grad. Dunkle Gewitterwolken hängen über der Reichshauptstadt Berlin. Im alten Poststadion an der Lehrter Straße in Moabit fiebern an diesem Sonntagnachmittag 45.000 Zuschauer dem Anpfiff des Endspiels um die Deutsche Fußballmeisterschaft zwischen dem 1. FC Nürnberg und dem FC Schalke 04 entgegen. Unter ihnen sind auch etwa 3.000 Schalker Schlachtenbummler aus dem gesamten Ruhrgebiet, von denen einige in Ermangelung des Geldes für eine Zugfahrkarte die gesamte Strecke mit dem Fahrrad zurückgelegt haben.

      Zum ersten Mal seit sieben Jahren wird der deutsche Fußballmeister wieder in Berlin ermittelt, entsprechend groß ist der Andrang, auch wenn es - für die Berliner enttäuschend - keine einheimische Mannschaft ins Finale geschaffl hat. Der Meister der Gauliga Berlin-Brandenburg, der Berliner FC Viktoria 1889, ist im Halbfinale mit 1:2 am fünfmaligen Deutschen Meister Nürnberg gescheitert. Für den „Club“ ist es die sechste Finalteilnahme, die Schalker stehen nach der überraschenden Vorjahresschlappe gegen Fortuna Düsseldorf zum zweiten Mal im Endspiel um die „Deutsche“.

      Die Nürnberger Mannschaft befindet ich im Umbruch und tritt bis auf den 41-jährigen Luitpold Popp mit einer „Jungen Garde“ an, im kicker-Buch Endspielfieber heißt es, dass sich „das Aussehen der Elf gründlich gewandelt“ habe. Schalke hingegen bietet mit Hans Mellage, Ferdinand Zajons, Valentin Przy- bylsky, Fritz Szepan, Ernst Kuzorra, Emil Rothardt und Hermann Nattkämper sieben Spieler auf, die seit 1932 in sämtlichen Endrundenpartien um die Deutsche Meisterschaft auf dem Platz standen. Und die wollen es diesmal wissen, nachdem sie im Vorjahr den fast schon sicher geglaubten ersten nationalen Titel leichtfertig verspielt haben. Damals kassierten sie in der kompletten Endrunde nur ein Gegentor, im Achtelfinale beim 4:1 auf heimischem Platz gegen die Berliner Viktoria 1889. Dann hatten wir in Köln gegen Fortuna Düsseldorf aber keine Chance, wir verloren 0:3.

      Die Schalker sind diesmal direkt mit der Bahn nach Berlin gereist, statt wie im letzten Jahr unmittelbar vor dem Finale noch für ein paar Tage in ein „Trainingslager“ zu fahren. Damals hatte man die Spieler im Vorfeld des Endspiels aus dem gewohnten Alltagstrott genommen und an den Halterner Stausee im nördlichen Ruhrgebiet verfrachtet, wo sie stundenlang in der Sonne lagen, sich langweilten, abends nicht einschlafen konnten und irgendwann von Fußball die Nase voll hatten. Am Finaltag waren dann alle zwar braungebrannt, aber unausgeschlafen, matt und unkonzentriert und unterlagen folgerichtig hellwachen Düsseldorfern. „Das sonst so quicklebendige Spiel der Schalker Mannschaft machte einen merkwürdig verkrampften Eindruck, man hatte den Eindruck, als ob fast alle Spieler Blei in den Knochen hätten“, erinnerte die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung ihre Leser neun Jahre später aus Anlass des bevorstehenden neunten deutschen Finales mit Schalker Beteiligung in ebenso vielen Jahren.

      Ein Jahr nach der unverhoffien Schlappe gegen die Düsseldorfer Fortunen wissen die Schalker es besser und nehmen Quartier im Hotel „Russischer Hof“ nahe dem Bahnhof Friedrichstraße, wo die Mannschaft sich abschottet, um sich ganz auf das bis dato wichtigste Spiel der Vereinsgeschichte zu konzentrieren. „Seit sechs Jahren kämpfen wir nun um die Deutsche, machten viermal den Westdeutschen und sind bis auf 1933 immer vor dem Endspiel rausgeflogen“, äußerte Schalkes Vorsitzender Fritz „Papa“ Unkel vor der Abreise gegenüber Vertretern der heimischen Presse, um optimistisch hinzuzusetzen:

      „Ich vertraue mit ganz Gelsenkirchen auf unsere Mannschaft - und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn’s danebenginge.