Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

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Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



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heißt, „Kuzor- rasche[r] Schußgewalt“, um den durch das ständige „Kreiseln“ eingelullten Gegner im entscheidenden Moment zu überrumpeln. Der damalige Dresdner Spieler und spätere Bundestrainer Helmut Schön erinnerte sich: „ Sie passten quer und zurück. Das Spiel schien sich auf der Stelle zu drehen. Aber dann kam die Explosion, der Steilpass, der Schuss.“ Dabei durfte die Schönheit des Spiels niemals der puren Effizienz geopfert werden. Wenn ich heute sehe, wie die Verteidiger die Bälle rausschlagen, das hätten sie bei mir früher nicht machen dürfen. Bei uns wurde von hinten herausgespielt. Eine Spielweise, die sich Jahrzehnte später im niederländischen Totaalvoetbal, im „Tiki-Taka“ des FC Barcelona unter Pep Guardiola und in der spanischen Welt- und Europameisterelf von 2008, 2010 und 2012 wiederfinden sollte. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass nun alles in sehr viel höherem Tempo passierte. Denn dass beim „Schalker Kreisel“ der Ball stets besonders schnell durch die eigenen Reihen lief, gehört ebenso ins Reich der Legenden wie Kuzorras angebliche Ohnmacht im Finale von 1934. „Da hieß es dann immer: der Schalker Kreisel. Und der Kreisel ist ja dann noch einige Jahre fortgeführt worden. Das war dann ungefähr so: An der Mittellinie hat man sich gegenseitig die Bälle zugespielt, und der Gegner hat hinten drin gestanden. Die kamen gar nicht raus“, erinnerte sich Willi Kos- lowski, Rechtsaußen der Schalker Meistermannschaft von 1958, 2017 in einem interview.

      Dass Schönheit und Effizienz im Schalker Spiel zueinander fanden, dafür sorgte ab 1933 ein gebürtiger Fürther. Mit Hans „Bumbas“6 Schmidt, der 1914 als 20-jähriger Spieler mit der SpVgg Fürth Deutscher Meister geworden war und diesen Erfolg 1924, 1925 und 1927 mit dem 1. FC Nürnberg dreimal wiederholte, kam ein Trainer an den Schalker Markt, der den „phlegmatischen und temperamentlosen westfälischen Dickköppe[n]“, wie er die Schalker scherzhaft nannte, jene Portion Entschlossenheit und Zielstrebigkeit im Strafraum einimpfte, die sie 1934 an die Spitze führen sollte. Schmidt legte auch Wert auf eine verstärkte Abwehr. „Er machte Schalke härter, selbstbewusster und siegessicherer“, erinnerte sich später Hans Bornemann, der alle Schalker Endspiele bis 1942 mitmachte und an sämtlichen Schalker Erfolgen der „goldenen Jahre“ beteiligt war. Schmidts taktische Anweisungen waren an Aussagekraft kaum zu überbieten: „So, ihr Arschlöcher, geht da rein und gewinnt!“

      Die Legende sagt, dass Mannschaftskapitän Ernst Kuzorra nicht nur auf dem Platz die bestimmende Figur war, sondern auch, wenn es um Fragen des Trainings, der Mannschaftsaufstellung und der Prämiengestaltung ging. Diese Legende hat Kuzorra nach Kräften selbst befeuert: Wissen Sie, ein Mannschaftsführer muß gleichberechtigt neben dem Trainer sein. Dabei offenbarte er ein recht eigenwilliges Verständnis von Gleichberechtigung: Wir hatten immer einen Trainer, aber die Aufstellung habe ich gemacht. Nach drei Jahren wurde gewechselt. Manche haben gebettelt: Ernst, lass mich noch ein Jahr, doch ich habe gesagt: Nix da!

      Der Wahrheitsgehalt der Legende lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei bestimmen. Aber sicher musste sich jeder Trainer mit Kuzorra gut stellen, wollte er im Schalker Fußballverein erfolgreich sein. Daran sollte sich selbst Jahrzehnte nach Kuzorras Lauffiahnende nichts ändern. Als Friedel Rausch 1977/78 wegen der sportlichen Talfahrt der Mannschaft sowie aufgrund des Vorwurfs, Gelder veruntreut und im Juni 1973 zwei Jugendspiele durch finanzielle Zuwendungen manipuliert zu haben, in Bedrängnis geriet, schaltete sich der damalige Schalker Vizepräsident Ernst Kuzorra ein: Friedel Rausch sollte von sich aus von seinem Amt zurücktreten, um dem Verein weitere Belastungen zu ersparen. Tatsächlich wurde Rausch am 20. Dezember 1977 entlassen und durch seinen Assistenten, den früheren Jugendtrainer Uli Maslo, ersetzt.

      Welch herausragende Rolle Ernst Kuzorra nicht nur als Spieler für den FC Schalke 04 bekleidete, verdeutlichen spätere Aussagen ehemaliger Mitspieler: „Der Ernst Kuzorra? - Der war für Schalke 04 alles“ (Ernst Kalwitzki). „Er bestimmte nicht nur die Taktik und war Chef, er war auch für die sogenannten Drecksarbeiten da, wenn es mal irgendwo überhaupt nicht lief“ (Ernst Poertgen). „Er war der Chef unseres Teams, er bestimmte immer, wie wir spielten“ (Otto Tibulsky).

      Dennoch hatten Trainer in Schalke durchaus gestalterische Möglichkeiten, wie Kuzorra nach dem Gewinn der vierten Westmeisterschaft 1933 (1:0 gegen Fortuna Düsseldorf ) gegenüber einem Reporter auch selbst freimütig eingestand:

       Und nicht zu vergessen ist der Mann, der uns überhaupt so weit führte: unser Trainer Kurt Otto. Er hat uns zusammengeschmiedet zu einer Einheit, in der Kameradschaftsgeist und Einigkeit bis zum letzten herrschten. Er hat uns so weit gebracht, daß wir einfach so spielen mußten, wie wir es taten!

      Unter Otto erreichte Westmeister Schalke 1933 erstmals das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Einen Tag vor dem Finale - erneut gegen Fortuna Düsseldorf - in Köln widmete die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 10. Juni 1933 eine ganze Seite dem Training der Mannschaft in der Glückauf-Kampfoahn. Für die damalige Zeit beinahe revolutionär, bestand es in erster Linie aus Lauf- und Konditionstraining. Ein abschließendes Raufoallspiel mit einem Medizinball sollte die Zweikampfstärke verbessern. Mit gymnastischen Übungen wurden „Kraft, Ausdauer und Wendigkeit“ trainiert. Es waren die Kernelemente der „Lauf- und Körperschule“ von Trainer Kurt Otto.

      Die Spieler wurden vom Trainer körperlich fit gemacht und taktisch geschult - und von Kuzorra aufgestellt. Oder auch nicht, nämlich dann, wenn sie nicht „spurten“: Einmal kamen zwei jüngere Spieler und wollten mehr Geld. Da habe ich sie zwei Wochen lang nicht aufgestellt. Als sie dann wieder mitspielen durften, waren sie ganz klein. Dann aber haben sie auch die richtige Prämie

      gekriegt. Denn auch in finanziellen Dingen redete Kuzorra ein gewichtiges Wort mit, wobei er sich, glaubt man seiner Darstellung, sowohl als ein sich seiner Position sehr bewusster wie auch taktisch gewiefter Vermittler zwischen Mannschaft und Vereinsführung erwies:

       Als Schalke genug Geld hatte, wollten die Mannschaftskameraden über meinen Kopf mehr Prämie beim Vorstand herausholen. Ich bekam Wind von der Sache, bin zum Vorstand gegangen und habe gesagt, wenn die anderen kommen, dann bleibt hart, meine Unterstützung habt ihr. Meine Mitspieler blitzten ab. Später dann habe ich beim Vorstand das Mehrfache herausgeschlagen.

      Trainer Kurt Otto wurde knapp drei Wochen nach dem verlorenen deutschen Meisterschaftsfinale gegen Fortuna Düsseldorf zum 30. Juni 1933 entlassen und durch erwähnten Schmidt ersetzt, der dann entgegen Kuzorras „Vorgaben“ nicht nur „drei Jahre“ blieb, sondern gleich fünf, bis zum Sommer 1938. In taktischen Dingen ließ sich der sture Franke von niemandem reinreden. Auch nicht vom Schalker Kapitän. So verbannte er nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Linksaußen Rothardt Adolf „Ala“ Urban, der nach einem einjährigen Zwischenspiel beim von den Nationalsozialisten verbotenen Arbeitersportklub Schalke 24 zu Schalke 04 zurückgekehrt war, im Meisterschaftsfinale 1935 auf die linke Außenbahn. Alle Proteste des Rechtsfußes fruchteten nichts, und tatsächlich entwickelte sich Urban auf links zu einem wichtigen Aktivposten im Schalker Spiel. Er war schnell, dribbelstark und konnte präzise flanken, wenn er es nicht vorzog, von links nach innen zu ziehen und einen angeschnittenen Ball hart und platziert ins lange Toreck oder unter die Latte zu setzen. Mit 79 Treffern in 80 Gauligaspielen und 30 Toren in 47 Endrundenpartien hatte er enormen Anteil an den Schalker Erfolgen der Jahre 1933 bis 1942.

      Die Ära von Trainer Schmidt wurde zur größten Zeit der Königsblauen, und Kuzorra erlebte unter dem Franken die Glanzpunkte seiner Karriere mit drei Deutschen Meisterschaften und einem deutschen Pokalsieg - die damals obligatorischen Gauliga-Titel gar nicht mitgerechnet.

       In Gelsenkirchen bekamen wir kein Bein auf die Erde

      In den acht Jahren seines Aufstiegs zur Nummer eins im deutschen Fußball schuf der FC Schalke 04 die Grundlagen seines Mythos. Dieser Mythos hat die vielen Jahrzehnte des Mittelmaßes, die auf die acht goldenen Jahre von 1934 bis 1942 folgten, bis heute unbeschadet überdauert. Die wichtigsten Schalker Spieler wurden schon zu Lebzeiten zu Legenden. Die Erfolge dieser Frühzeit waren die moderne Version des mythischen Kampfes zwischen David und Goliath, und der Schalker Mythos erzählt vom Triumph der Unterdrückten und Benachteiligten über ihre Widersacher, vom Sieg des „kleinen Mannes“ über „die da oben“.

      Laut Brockhaus (2005) bieten Mythen „Identität