Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

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Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



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Hinzu kam, dass der Verein nach Fertigstellung der Glückauf-Kampfoahn 1928 stark verschuldet war. Diese Schulden konnten in absehbarer Zeit nur abgetragen werden, wenn das „Flaggschiff des Vereins“ (Gehrmann), also Schalkes erste Mannschaft, möglichst schnell wieder spielberechtigt wurde und mit ihren „Stars“ erneut zu jener Spielstärke fand, die den Klub zum überregionalen Publikumsmagneten machte. „Wir wollten nicht fahnenflüchtig werden“, begründete Fritz Szepan gegenüber der Buerschen Zeitung den Verbleib am Schalker Markt. „Wir hängen mit allen Fasern an unserem Verein Schalke 04 und an unserer Kampfoahn, und diese wollen wir erhalten.“ Und für „Papa“ Unkel war die Sache sowieso klar: „Ihr gehört in den blau-weißen Dress auf den grünen Rasen der Kampfoahn Glückauf“, redete der Vorsitzende den beiden auf der Generalversammlung des Klubs ins Gewissen.

      Allerdings ließ die erhoffte Begnadigung auf sich warten. Was mit uns Spielern der ersten Mannschaft geschehen sollte, blieb ungeklärt. Die Pflichtspiele in der Gruppe A der Ruhrbezirksliga wurden, wie erwähnt, von einer Notelf aus Reservespielern und Neuverpflichtungen bestritten. Als einige Reservisten finanzielles Kapital aus der Zwangslage des Vereins schlagen wollten, sprangen sogar einige „Alte Herren“ in die Bresche, und die Mannschaft feierte mit einem sechsten Tabellenplatz punktgleich mit SuS Schalke 96 den Klassenerhalt.

      Als schließlich ein Modus für die Bezahlung der Geldstrafe gefunden worden war - zehn Prozent der Einnahmen aus den kommenden Spielen sollten an den WSV fließen -, wurde der Ausschluss des Vereins aufgehoben. Anschließend folgten sukzessive die Begnadigungen der Spieler. Zum 1. April 1931 wurden die Sperren von Hans Tibulsky und Heinrich Simon kassiert, eine Tagung des DFB Mitte Mai im „Russischen Hof“ in Berlin brachte die Begnadigung von Rothardt, Badorek, Szepan und Kuzorra, und zum 1. Juni 1931 war schließlich die komplette erste Mannschaft wieder spielberechtigt.

      Der Tag der Aufoebung der Sperren wurde zum „vierten“ Gründungstag des FC Schalke 04. Das Freundschaftsspiel gegen Fortuna Düsseldorf an diesem verregneten Montag gehört heute zum Legenden- und Sagenschatz des Vereins. An diesem 1. Juni 1931 wurde der FC Schalke 04 endgültig zum Mythos, wurden Spieler wie Kuzorra und Szepan zu mythischen Helden, mit deren Kämpfen sich eine ganze Region identifizierte und aus deren Siegen sie Kraft und Selbstbewusstsein schöpfte zur Bewältigung der eigenen Schwierigkeiten. Einmal mehr hatte David (Schalke) über Goliath (Verbandsfunktionäre) gesiegt und tauchte nun erneut auf wie Phönix aus der Asche.

      Ein Mann erlebte diesen Tag nicht mehr: Willi Nier, der Finanzobmann des Vereins und ebenfalls vom WSV-Ausschluss betroffen, ertränkte sich 24 Stunden nach Bekanntwerden des WSV-Spruchkammerurteils, am Mittwoch, dem 27. August 1930, im Rhein-Herne-Kanal. Der kaufmännische Beamte der Zeche Consolidation hatte die verbotenen Zahlungen an die Fußballer in den Kassenbüchern als „Baugelder“ getarnt, mit denen angeblich die Schulden für den Bau der Glückauf-Kampfcahn getilgt wurden, während sie in Wirklichkeit in die Renovierung der Wohnungen und Häuser von Spielern flossen. Ob der Schalker Kassierer sich aus Scham über die von ihm gedeckten Mausche- leien oder aus Angst vor Konsequenzen in seinem Beruf das Leben nahm, wird sich wohl nie zweifelsfrei klären lassen. Dass er darin die „einzige Möglichkeit gesehen [habe], Schaden von dem Verein abzuwenden“, wie seine Schwester Jahre später erzählte, ist kaum glaubhaft, da der größte Schaden für Schalke bereits eingetreten war. Am 31. August 1930 nahmen 6.000 Menschen bei einer Trauerfeier in der Glückauf-Kampfcahn Abschied von Willi Nier, dessen Sarg im Mittelkreis aufgebahrt wurde.

      Acht Monate später waren es an besagtem 1. Juni 1931 rund 70.000, die bei der Auferstehung der Schalker Mannschaft dabei sein wollten. Es war ein Montag, und dieser Tag wurde zu einem wahren Volksfest! Schon Stunden vor dem Spiel [das um 18 Uhr 30 angepfiffen wurde] waren alle Straßen rund um die Glückauf-Kampföahn verstopft, die Geschäfte ausverkauft. Diesen Tag werde ich nie vergessen. So etwas wird es nie wieder geben. Ein Eindruck, den die Gel- senkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 2. Juni 1931 bestätigte:

      „So etwas hat Gelsenkirchen, so etwas hat ganz Westdeutschland, wahrscheinlich aber ganz Deutschland noch nicht gesehen! Wer zählt die Massen, die in der Kampfcahn ,Glückauf‘ zusammengeströmt waren? [...] Berittene Polizei versucht Ordnung in die Reihen zu bringen. An den Zugängen stauen sich die Massen, durchbrechen die Kordons! - Zu Fuß schieben sich immer mehr Menschen durch die Absperrungen - Radfahrer in Rudeln zu zehn, zwanzig, ja dreißig rollen über die Straßen der Stadt. Autos suchen sich in Kolonnen den Weg zur Kampfcahn. Durch die Massen schleichen die Straßenbahnen mit ihrer ungeahnt schweren Last, ein Wagen schiebt gewissermaßen den anderen. Autobusse aller Kaliber mit den Zeichen Westfalens, Rheinlands, Hannovers, Brandenburgs, Hollands, Belgiens und Frankreichs. [...] Es ist 18.15 Uhr [...]. Auf der König-Wilhelm-Straße ist kein Durchkommen mehr. Automobilisten lassen ihre Wagen einfach an den Bordsteinen stehen und springen auf die Trittbretter der Straßenbahnen. Menschentrauben hängen an den Wagen. [.] Die Oberteile der Straßenbahnen scheinen auf einem Meere zu schwimmen, auf einem Meere, dessen Wellen aus Menschen bestehen.“

      Gegner der Schalker an diesem denkwürdigen Tag war der amtierende Westmeister Fortuna Düsseldorf, Schalke gewann 1:0. Das Tor des Tages erzielte kurz vor der Halbzeitpause Rechtsaußen Hans Tibulsky. Wir gewannen 1:0. Wir haben gezeigt, daß wir es noch können. Der sportliche Wert der Partie war überschaubar, die bis dicht an die Seiten- und Torauslinien drängenden Massen machten die Ausführung von Eckstößen und Einwürfen fast unmöglich. Schutzleute zu Pferde ritten an den Außenlinien entlang und versuchten das Spielfeld freizuhalten. Selbst die Tornetze wurden von Halbwüchsigen zu Tribünen umfunktioniert - zum Glück waren die „Netze“ Drahtgehäuse -, und das Torgestänge wurde zusätzlich von vier starken Metallstäben abgestützt. Die Recklinghäuser Zeitung sah ein „sehr schönes, schnelles und faires Spiel“, schränkte allerdings ein: „Man merkte den Leuten doch an, dass sie lange nicht zusammengespielt hatten.“

      Viel wichtiger war ohnehin, dass die Partie zu einer eindrucksvollen Demonstration der Solidarität einer ganzen Region mit „ihren“ Fußballern wurde. Umgekehrt wurde der FC Schalke 04 spätestens an diesem 1. Juni zum Repräsentanten und Symbol einer ganzen Region, der stellvertretend für die vielen von Minderwertigkeitsgefühlen Geplagten den Traum von Aufstieg und Größe verwirklichte.

      „Aus dem Fußball-Mythos wird der Schalke-Mythos: Schalke ist zum Inbegriff der kleinen Leute, aber auch des Reviers insgesamt geworden, zum Underdog, der sich gegen alle Widerstände behauptet hat. [.] Die Mannschaft erkämpft die Anerkennung, die ansonsten den Menschen hier versagt ist“,

      schreibt Georg Röwekamp in Der Mythos lebt. Dies ist auch der ideelle Hintergrund einer weiteren Kuzorra-Legende, die besagt, dass die Kumpel auf „Consol“ (wie der Volksmund die Zeche nannte) eine Art „Deal“ mit dem Schalker Star hatten. Kuzorra räumte später freimütig ein: Mit den Kohlen, die ich gehauen habe, hätte ich noch nicht einmal einen Kessel Wasser heiß gekriegt. „Wir holen für dich die Kohle raus, und du für uns die Deutsche Meisterschaft!“, lautete der Deal zwischen Fußballer und Kumpel.

       Götz lässt grüßen

      Ähnlich legendär wie seine Leistungen unter Tage war Kuzorras Abschied aus der Nationalmannschaft. Als Reichstrainer Dr. Otto Nerz für ein Länderspiel gegen Belgien am 22. Oktober 1933 zunächst beide Schalker Schwäger aufstellte, dann aber kurzfristig auf Szepan verzichtete, gab Kuzorra bekannt, wegen einer Verletzung ebenfalls nicht spielen zu können. Doch plötzlich hatte Prof. Nerz den Fritz aus den Mannschaft gestrichen und dafür Wigold [Willi Wigold von Fortuna Düsseldorf] aufgestellt. Da habe ich donnerstags nach dem Training in Duisburg angerufen und mich verletzt gemeldet. Mit seinem Schwager (Szepan war seit 1931 mit Kuzorras Schwester Elise - „Mimi“ - verheiratet) hatte Kuzorra bis dahin erst einmal gemeinsam in der Nationalmannschaft gespielt (es sollte das einzige Mal bleiben): am 27. September 1931 in der Hindenburg- Kampftahn in Hannover beim 4:2-Sieg gegen Dänemark.

       Ich war sauer, weil der Fritz nicht aufgestellt worden war, und sachte ihm, dat ich dann auch nicht spielen würde. Da hat er mich zu sich zitiert, zu einer „netten“ Unterhaltung. Ich bin verletzt, ich kann nicht spielen, sach’ ich. Aber der Nerz glaubte dat nicht und brüllte: Sie werden von mir hören! Und da brüll’ ich zurück: Und Sie könnn