Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

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Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



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früher auch nicht der alte, das entschuldigt aber seine lange Krankheit, ebenso die alte Verletzung vom letzten Meisterschaftsspiel“. Immerhin erzielte „Kuzora durch schönen Prachtschuß“ den Ausgleich.

      Als die Schalker am 18. Mai 1924 im letzten Spiel der „zweiten Halbserie“ der Saison 1922/24 gegen Wattenscheid 09 über ein 1:1 nicht hinauskamen, befand die Gelsenkirchener Allgemeine Sportzeitung: „Der Sturm zeigte keine saubere Arbeit. [...] Kuzora immer noch zu langsam.“ Wohl aufgrund der Verletzung und Krankheit, welche das Blatt in seinem Spielbericht vom 31. März erwähnte. Offenbar war Kuzorra da für die erste Mannschaft längst unverzichtbar, und das nicht nur, wenn es gegen den ärgsten Lokalrivalen STV Horst-Emscher ging: „Im Schalker Sturm vermißte man den Halblinken, trotzdem ist eine leichte Überlegenheit nicht zu verkennen“ (TuS, 3.11.1924).

      Den „Halblinken“ hatte Turnen und Sport bereits zwei Jahre zuvor in der Ausgabe vom 18. April 1922 in einem Spielbericht über eine Begegnung zwi- sehen „Schalke 77 1 B“ und der 1. Mannschaft des TV Ockendorf erwähnt. Das Spiel fand am Karfreitag, den 14. April, statt, und die Sehalker Liga-Reserve gewann 5:1: „Fünf Tore waren der Erfolg der Anstrengungen der blau-weißen Stürmer, die beiden ersten waren Praehtleistungen des Halblinken, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.“ Und wer konnte damit anders gemeint sein als der 16-Jährige aus der Schalker Blumenstraße?

      Erstmals namentlich erwähnt wurde Kuzorra von derselben Zeitung anderthalb Jahre später, als Turnen und Sport in der Ausgabe vom 10. September 1923 über eine Partie der Schalker Reserve gegen die Reserve von Union Gelsenkirchen im benachbarten Rotthausen berichtete. Gespielt wurde um einen von einem örtlichen Geschäftsmann gestifteten Pokal, und die Schalker gewannen 3:0: „[...] aufgeregtes Spiel auf beiden Seiten. Wer wird Sieger? Der Bann, der die Zuschauer in Spannung hielt, wird gebrochen, als der kleine Halblinke Kozora unhaltbar einsendet. Ein Prachtschuß.“

      Der 17-Jährige gehörte zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht zum festen Kader der Liga-Elf, mit der er am 22. April 1923 gegen die Sportfreunde Essen aufgelaufen war, sondern erspielte sich über regelmäßige Einsätze in der Reserve allmählich einen Stammplatz in der ersten Mannschaft.

      Ob Kuzorras Einsatz in der Partie gegen die Essener am 22. April 1923 aber tatsächlich sein Ligadebüt war oder ob er seinen Einstand in der „Ersten“ schon eine Woche zuvor, am 15. April, gegen Germania Bochum gab, wo, wie das Fachblatt Fußball und Leichtathletik in seiner Ausgabe vom 24. April 1923 berichtete, Schalke 77 „jüngere Kräfte“ ausprobierte, „die sich auch teilweise bewährten“ (deren Namen das Blatt seinen Lesern aber verschwieg), oder ob er erst ein knappes Jahr später beim 4:1 gegen den BV 12 Gelsenkirchen erstmals mit der Liga-Elf auflief, dürfte allerdings aufgrund der mageren Quellenbasis auch weiterhin ebenso im mythischen Dunkel bleiben wie die Anfänge des Vereins, dem er zeitlebens symbiotisch verbunden blieb.1

      Die spielbestimmenden Mannschaften im deutschen Fußball kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht aus dem Ruhrgebiet: Der VfB Leipzig, die SpVgg Fürth und der 1. FC Nürnberg spielten die Deutsche Meisterschaft mehr oder weniger unter sich aus. Noch war das Revier Fußballdiaspora, der Fußball ein Zeitvertreib von Real- und Oberschülern aus bürgerlichen Elternhäusern.

      Erst allmählich begeisterten sich nach der Jahrhundertwende auch kleine kaufmännische und technische Angestellte und Kaufleute für den vielfach noch als „Fußlümmelei“ verunglimpften neuen Sport aus England. Sie strebten auf diesem Wege nach gesellschaftlicher Anerkennung und Akzeptanz in Kreisen des Bürgertums. Dass ausgerechnet die wilhelminischen Militärs dem Fußball in Deutschland dann zum Durchbruch als proletarischem Massensport verhaften, mutet angesichts der Tatsache, dass der zivile Spielbetrieb im Ersten Weltkrieg weitgehend zum Erliegen kam, paradox an.

       „Ein Zeichen der Wegwerfung“

      Der Hass auf den Fußball aus England nahm im Deutschen Kaiserreich teils groteske Formen an. Die Kirchen beider Konfessionen fürchteten um die Sonntagsruhe, die wilhelminische Obrigkeit beanstandete die Sittenwidrigkeit der Sportkleidung, und beide fürchteten, dass ein Fußballspieltag unweigerlich in einer Sauftour durch die Kneipen der Umgebung enden würde. Andere Kritiker sahen mit dem Fußball mehr oder weniger den Untergang des Abendlandes heraufziehen. So zog der Philosoph und Turnführer Karl Christian Planck in seiner kultur- und zivilisationskritischen Kampfschrift Fußlümmelei - Über Stauchballspiel und englische Krankheit sämtliche Verachtungs- und Empörungsregister und versuchte, dem Fußballspiel pseudowissenschaftlich den Garaus zu machen:

      „Was bedeutet aber der Fußtritt in aller Welt? Doch wohl, dass der Gegenstand, die Person nicht wert ist, dass man auch nur die Hand um ihretwillen rührte. Er ist ein Zeichen der Wegwerfung, der Geringschätzung, ja schon, auf die bloße Form hin gesehen, häßlich. Das Einsinken des Standbeins, die Wölbung des Schnitzbuckels, das tierische Vorstrecken des Kinns erniedrigt den Menschen zum Affen.“

      Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass zahlreiche deutsche Schulbehörden das Fußballspielen verboten, in Bayern etwa blieb es an Schulen bis 1913 untersagt.

      Eine Erklärung bietet die im Militär schon früh verbreitete Erkenntnis, dass der Konkurrenz- und Wettkampfgedanke des Fußballs sich bestens für Zwecke der Wehrertüchtigung und zur Steigerung der Kamp&raft instrumentalisieren ließ. Auf diese Weise kamen hinter den Fronten des Krieges Hunderttausende eingezogene Arbeiter erstmals in Kontakt mit dem runden Leder. Und nachdem die Angestellten schon seit den 1890er-Jahren in den Genuss des arbeitsfreien Sonntags gekommen waren, bescherte der 1918 reichsweit eingeführte Achtstundentag erstmals auch der Arbeiterschaft ein nennenswertes Mehr an Freizeit, die nun auch für sportliche Aktivitäten genutzt werden konnte.

      Dem standen allerdings in den zumeist jeglicher soziokultureller Infrastruktur entbehrenden industriellen Agglomerationen an Ruhr und Emscher, abgesehen von den organisatorischen Bemühungen der politischen Lager und der Kirchen, keine adäquaten Freizeitangebote gegenüber. Was Preußens „Wilder Westen“ stattdessen reichlich bot, waren Freiflächen zwischen Siedlungshäusern und autofreie Straßen, auf denen bewegungshungrige Jugendliche nach Feierabend dem stupiden Fabrikdrill entfliehen konnten.

      Somit erwiesen sich die unter dem Primat der Industrie wild wuchernden Revierstädte bei aller städtebaulichen Unzulänglichkeit letztlich als ein ideales Fußballbiotop. Hier fand im Schatten von Fördertürmen, Fabrikschloten und Hochöfen, zwischen Werkssiedlungen, Versorgungsleitungen, Bahnstrecken und Brachflächen jeder, der die Lust verspürte und ein Talent dafür hatte, gegen einen Ball zu treten, günstige Voraussetzungen vor, um den neuen Sport auszuüben. Für die bislang meist unter dem Dach von Turnvereinen existierenden Fußballabteilungen an Rhein und Ruhr, die sich nach der von der „Deutschen Turnerschaft“ (DT) am 1. September 1923 beschlossenen „reinlichen Scheidung von Turnern und Sportlern“ gezwungenermaßen als eigenständige Vereine konstituierten, bildeten diese Jugendlichen ein schier unerschöpfliches Reservoir.

      Und einer dieser fußballverrückten Halbwüchsigen war der kleine Ernst Kuzorra aus der Blumenstraße in der Gemeinde Schalke, der sich Jahrzehnte später noch gut an seine frühe Fußballbesessenheit erinnerte: Als Kind konnte ich keinen Stein und keine Blechdose auf der Straße liegen lassen. Jeden Tag, so Gott will, gab es nur Fußball, Fußball.2 Was sein Bruder Willi Jahre später bestätigte: „Er konnte keine Blechdose liegen sehen“ und sei bei jedem etwas tiefer hängenden Ast hochgesprungen: „Dann hat der Ernst Kopftälle geübt!“

      * * *

      Vom größten aller Schalker zu erzählen heißt auch von dem Verein zu erzählen, der zeitlebens Kuzorras fußballerische Heimat war und dem er bis zu seinem Tod untrennbar verbunden blieb. Es hat in der Geschichte des Fußballs viele symbiotische Beziehungen zwischen einem Spieler und einem Verein gegeben. Man denke an Lionel Messi und den FC Barcelona oder an Uwe Seeler und den Hamburger SV. Jüngstes Beispiel für solche unerschütterliche Vereinstreue ist die Liaison von Francesco Totti mit der AS Rom, die im Mai 2017 nach 28 Jahren endete. Doch wohl niemals war eine solche Beziehung inniger und dauerhafter als die zwischen Ernst Kuzorra und dem FC Schalke 04.

      Die vorliegende Biografie zeichnet somit nicht nur das Leben des Schalker Ausnahmespielers