Название | Schnulzenroman |
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Автор произведения | Daniel Borgeldt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955756130 |
Zwischen Weihnachten und Silvester kam überraschend Professor Wagner vorbei. Er wollte uns nur einen kurzen Besuch abstatten und meiner Mutter von meinen Fortschritten beim Klavierspiel erzählen, sagte er. Aber eigentlich ging es ihm wohl eher um meine Mutter. Mit ihren einundfünfzig Jahren war sie immer noch eine sehr schöne Frau. Es war schon fast putzig mitanzusehen, wie dieser dicke kleine Hesse meiner Mutter den Hof machte. Sie hielt ihn auf Distanz, war aber höflich und respektvoll. Ich dachte damals, sie verwies ihn nicht des Hauses, um meine Ausbildung nicht zu gefährden.
Ich blieb bis nach Silvester in Mainz. An den ersten Januartagen des Jahres 1967 kehrte ich nach Frankfurt zurück. Amadeus schaute bei mir vorbei. Er hatte Aufnahmen von Pierre Boulez und Karl-Heinz Stockhausen dabei. Die Kompositionstechnik begeisterte uns beide, während wir immer betrunkener wurden.
Diese Abende kamen immer häufiger vor. Ich vernachlässigte mein eigentliches Studium, besuchte fast nur noch das Seminar von Oppermann. Im nächsten Semester wechselte ich mein Studienfach von Klavier und Gesang zu Komposition. Aus Pflichtbewusstsein besuchte ich weiterhin die Veranstaltungen von Professor Wagner. Ich begann, eigene Stücke zu komponieren, nach dem Vorbild Serieller Musik. Mit Amadeus traf ich mich weiterhin zu Besäufnissen, während wir über Kompositionstechniken sprachen. Meiner Mutter sagte ich nichts davon. Sie ließ in der Musik nur Bach und Brahms, vielleicht gerade noch Schubert und Mozart gelten. Ich hatte einmal gehört, wie sie über Neue Musik generell gesagt hatte, es höre sich an, »als würde man die Katze schlagen.«
Eines Abends, als Amadeus bei mir war, sagte er plötzlich: »Komm, wir gehen raus.«
Bisher waren wir fast immer bei mir gewesen und dort auch geblieben. Amadeus wohnte zur Untermiete bei einer alten Witwe, die sehr geräuschempfindlich war und mit Sicherheit ein Problem mit Musik gehabt hätte, die sich anhörte, »als würde man die Katze schlagen.«
Der Abend endete damit, dass wir in einer kleinen Kneipe landeten, in der ein einzelnes Piano stand. Betrunken setzte sich Amadeus daran und versuchte Boulez’ Structure ohne Noten zu spielen. In der Kneipe war eine Gruppe von jungen Studenten und Studentinnen, die konspirativ in einer Ecke zusammensaßen. Nachdem wir das Klavier in Beschlag genommen hatten, kam kurze Zeit später eine von ihnen zu uns und fragte, ob wir nicht etwas von Ernst Busch oder ein anderes Arbeiterlied spielen könnten. Ich setzte mich an das Instrument und begann die Seeräuber-Jenny zu spielen. Die Studentin sang dazu. Sie hatte eine schöne Alt-Stimme, dunkelblonde Haare und blaue Augen. Wir spielten noch weitere Lieder aus der Dreigroschenoper. Eine halbe Stunde später standen die Leute, bei denen sie gesessen hatte, neben dem Klavier und begannen, Die Internationale zu singen. Dem Wirt wurde es daraufhin zu viel und er schmiss uns alle raus. So lernte ich Lydia kennen.
Wir machten gerade unsere erste große Pause. Baden-Württemberg hatten wir hinter uns gelassen, aber der Stau hatte uns viel Zeit gekostet. Wir waren an einer Raststätte auf der A6 in der Nähe von Speyer. Es war schon nach zwölf Uhr. Ich stand an einer Ecke, rauchte eine Gauloises und wartete auf Jessy, die auf dem Klo war. Es war heiß. Der Parkplatz war voller Familien, die ihren Urlaub antraten und Richtung Norden fuhren. Ich musste an Clara, meine Tochter, denken und fragte mich, ob sie jetzt wohl mit ihrem Mann und den Kindern auch im Urlaub sei. Vielleicht befanden sie sich gerade auf einer Fähre nach Schweden, in einem Flieger nach Spanien oder irgendwo im Auto auf der Autobahn, genauso wie Jessy und ich. Ich schüttelte den Gedanken ab. Einige der älteren Urlauber schauten mich im Vorübergehen an und überlegten, ob sie mich kannten. Ich konnte es an ihren Gesichtern ablesen. Aber mehr als ein flüchtiger Gedanke war es nicht. Mein Bart und meine langen Haare hemmten sie, mich anzusprechen. Ich sah und sehe immer noch wie ein Althippie aus.
Viele Leute waren mit Wohnwagen unterwegs, was mich an meine eigene Zeit auf der Straße erinnerte. Das schien einem anderen Leben anzugehören. Clara war vier gewesen, als ich die Familie verlassen hatte. Nun war sie fünfunddreißig. Sie hat es mir nie verziehen.
Mein Freund Kurt Vechter hat einmal eine Geschichte geschrieben über ein Mädchen, das in einem Wohnwagen aufgewachsen ist. Ihre Eltern ziehen mit ihr von Stadt zu Stadt und unterrichten sie selbst. Aber schließlich kommen die Behörden ihnen auf die Schliche und das Jugendamt verfügt, dass das Mädchen zu einer Pflegefamilie kommt, in der sie ein normales Leben führt, alle Liebe bekommt, die sich ein Kind nur wünschen kann, und in eine öffentliche Schule gehen muss. Später, als sie erwachsen ist und schon einen Mann und Kinder hat, arbeitet sie als Sekretärin beim Jugendamt. Dort begegnet sie dem Beamten wieder, der damals ihren Fall bearbeitet und verfügt hatte, dass sie in einer normalen Familie aufwachsen sollte. Sie entführt diesen Mann und fährt mit ihm in einem gestohlenen Wohnmobil von Stadt zu Stadt. Als sie sich ihm zu erkennen gibt und er ihr sagt, dass er doch nur ihr Bestes gewollt habe und es Gesetze gebe, an die man sich halten müsse, antwortet sie: »Ich wollte doch nur ein normales Leben führen und mit meinen Eltern in einem Wohnwagen von Stadt zu Stadt ziehen. Mehr nicht.«
Meine Tochter hat recht, wenn sie mir meine eigene Wohnwagentour nicht verzeihen kann, dachte ich. Für Erwachsene gelten nicht die gleichen Rechte wie für Kinder. Wenn ein Vater so etwas tut, ist er ein verantwortungsloses Arschloch!
Während ich auf Jessy wartete, ließ ich meinen Blick über den Parkplatz schweifen und zuckte plötzlich zusammen. Dort stand der schwarze Facel Vega, der uns vom Lerchenhof aus gefolgt war, und etwas weiter sah ich den jüngeren der beiden Männer, der auf sein Smartphone blickte. Er schien auf seinen Begleiter zu warten und mich noch nicht entdeckt zu haben, wahrscheinlich weil der Parkplatz voller Urlauber war und er sich mehr für sein Smartphone interessierte als für die Leute. Ich verschwand schnell um die nächste Ecke und ging auf der anderen Seite der Raststätte bis zum Eingang, in dem Jessy verschwunden war. Da kam sie auch schon heraus. Ich hakte sie bei mir ein und drängte sie ohne viele Erklärungen Richtung Mercedes. Zuerst beschwerte sie sich lautstark, aber ihre Rufe gingen im allgemeinen Lärm unter. Wieder beim Auto erklärte ich ihr schnell alles.
»Ich wollte mir eigentlich was zu essen kaufen«, sagte sie.
»Das machen wir bei unserem nächsten Stopp. Wir fahren einfach bei der nächsten Raststätte wieder von der Autobahn.«
Als wir dort ankamen, gab es nur einen Burger King, aber wir fügten uns beide ins Unvermeidliche, da wir großen Hunger hatten. Während des Essens fragte Jessy mich:
»Warum glaubst du eigentlich, dass diese Typen hinter dir her sind?«
Ich sah sie an. »Warum? Denkst du, sie wollen etwas von dir?«
»Na ja. Das erscheint jetzt vielleicht etwas unwahrscheinlich, aber du kennst meinen Vater nicht. Er hat einmal einen Privatdetektiv angeheuert, weil er der festen Überzeugung war, dass meine Mutter fremdgeht. Das war allerdings bullshit. Der Detektiv hat nichts herausgefunden, da es nichts herauszufinden gab. Der Einzige, der mal fremdgegangen ist, war mein Vater, wie sich später herausgestellt hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich glaube, es ist möglich, dass er mir Leute hinterherschickt, um herauszufinden, was ich weiter vorhabe. So wie ich ihn kenne, hat er den Schock überwunden und stellt schon Besitzansprüche auf sein Enkelkind.«
»Hmm, sag mal, ist das vielleicht der eigentliche Grund, warum du so scharf darauf bist, mit mir an die Nordsee zu kommen? Weil du dich ein wenig vor deinen Eltern verstecken willst?«
»Sagen wir mal, ich will eine Auszeit, um mir über verschiedene Dinge klarzuwerden und dazu ist das letzte, was ich brauche, mein Vater, der mir mit seinen Vorstellungen, wie ich mein Leben zu führen habe, im Nacken sitzt.«
»Wenn du das so sagst, klingt es irgendwie plausibel, dass diese Typen hinter dir her sind. Aber du sprichst da etwas an, was ich dich die ganze Zeit schon fragen wollte: In welchem Monat bist du eigentlich?«
»Im vierten. Wieso?«
»Ok. Und ist da alles in Ordnung?«
»Ja, ja. In der Klinik haben sie das regelmäßig überwacht. Da kam extra ein Gynäkologe. Vorher in der Klapse habe ich gleich