Название | Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch |
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Автор произведения | Cara Schweitzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449479 |
Im Mai geht es Hannah Höch gesundheitlich nicht gut: »Wir wollen also solange warten, bis Du wieder gesund bist. Aber ich muß Dich bitten, Sonnabend früh zu einem Arzt zu gehen. Wir müssen unbedingt Gewissheit haben, was mit Dir ist. Was Du dem Arzt sagst, schreibe ich Dir genau auf. – Bis dahin werde ich mit keinem Wort auf das Andere zurückkommen. Und wenn es Dir recht wäre, würde ich nächste Woche vielleicht verreisen. Nicht nur Du bist krank von mir, wegen mir. [...]«, schreibt ihr Hausmann.36 Wenig später haben Hannah Höch und Raoul Hausmann Gewissheit. Sie ist schwanger. Hannah Höch wird das Kind nicht bekommen. In den folgenden Briefen spricht Hausmann über seinen Schmerz, seine Schuld und sein Ringen um ihr Vertrauen. Am 16. Mai 1916 lässt Hannah Höch eine Abtreibung vornehmen. Das Datum ist lediglich aus einem späteren Brief, den Raoul Hausmann gemeinsam mit seiner Ehefrau Elfriede Hausmann-Schaeffer an Johannes Baader richtet, überliefert.37 Der gesetzlich verbotene Eingriff endete für eine große Zahl Frauen tödlich. Illegal, unter mangelhaften Hygienebedingungen und ohne Betäubungsmittel wurden Abtreibungen in Hinterhäusern vorgenommen. Kaum eine Engelmacherin besaß eine medizinische Ausbildung. Ärzte brauchten Mut, um Frauen in Not zu helfen. Ihnen drohten Gefängnisstrafen, wenn bekannt wurde, dass sie Abtreibungen durchführten. Hannah Höch und Raoul Hausmann hatten Angst. Einen Tag nach der Abtreibung schreibt Hausmann an sie: »Was ich Dir bis heute nicht sagen durfte. Jetzt liebe ich Dich. So, wie ich nie ein Weib geliebt habe. Jetzt erst! Ich habe zum erstenmal einen Weg zu mir selbst gesehen. Und damit auch zu Dir. Ja, ich war Egoist – weil ich immer in meinen Grenzen blieb. Ich konnte erst darüber fort, als ich in Angst und Sorge um Dich war. Wenn ich nur noch zur rechten Zeit für Dich zu mir kam. Wenn Du nur leben bleibst. [...]«38
Die Künstlerin hat sich nie direkt über die Ursachen ihres Entschlusses geäußert. Aus dem weiteren Verlauf der Beziehung, der in zahlreichen Briefen dokumentiert ist, geht hervor, dass Hausmann sich von Höch ein Kind gewünscht hat. Und Hannah Höch hat später mehrfach betont, dass auch sie sich ein Kind wünschte. Die Umstände ihrer Beziehung scheinen für sie dennoch einem Kinderwunsch entgegengestanden zu haben. Trotz aller Überlegungen und Versprechungen hatte sich Hausmann bisher nicht von seiner Ehefrau getrennt, mit der er ja bereits eine Tochter hatte. Hinzu kam, dass auch Höchs Familie, vor allem ihr Vater, ein Kind unter den gegebenen Umständen nicht akzeptierte.39
Dass Hausmann sich nicht von seiner Frau trennen konnte und wollte, evozierte bereits zu Anfang ihrer Beziehung Konflikte zwischen Hannah Höch und ihm. Doch der erste Schwangerschaftsabbruch führt zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen. Hausmann beginnt in seinen Briefen, Streit und Zwiespalt auf eine theoretische Ebene zu verschieben. Nach der Abtreibung geht es Hannah Höch gesundheitlich nicht gut. Aus der aufgewühlten Atmosphäre eines Gedichts, das sie kurz nach dem Eingriff an Raoul Hausmann richtet, spricht die psychische Anspannung, die der Abbruch in Hannah Höch auslöste. Expressionistische Sprachbilder evozieren eine düstere, todessehnsüchtige Stimmung; das lyrische Ich verwandelt sich in eine schwarze Schlange, die durch Kometen saust und von einer »Macht-Gestalt« verfolgt wird. Dem »Jäger« gelingt es schließlich, den »sprühenden« Schlangenleib zu fangen und zu halten.40
Von ihrem Arbeitgeber erhält sie elf Tage Urlaub, den sie bei ihrer Familie in Gotha zu verbringen plant. Ihr Entschluss war Auslöser für einen erneuten Streit. Hausmann schildert in einem langen Schreiben, wie es zu dem jüngsten Zerwürfnis kam. Zunächst spricht er offen über seine Gefühle und bekennt: »– Ich wollte Dir zwischendurch einmal sagen: ich bin so eifersüchtig – Deine Familie hast Du 26 Jahre – wir haben uns noch nicht lange – und wie kurz erst wieder –. Hätte ich’s nur gesagt.«41 Wenigstens drei Tage solle Hannah Höch »heimlich mit ihm«, verbringen. Im letzten Teil des Briefes rückt er von der Beschreibung seiner Gefühle ab. Die folgenden Passagen enthalten Hausmanns Reflexionen über die Schriften des Psychoanalytikers und Freud-Schülers Otto Gross. In diesem Brief erwähnt er den Psychoanalytiker noch nicht namentlich. Später wird Hausmann Gross wie einen Propheten für seine Argumente gegen Hannah Höch zitieren,42 etwa wenn er schreibt: »– deshalb will ich Dir an den Worten von Otto Gross zeigen, was ich will und wollte.«43 Im Februar 1916 hatte Gross einen Essay »Vom Konflikt des Eigenen und Fremden« publiziert, den Hausmann intensiv studierte.44
»[...] ich kämpfe für Dich – gegen Deinen Großvater und gegen Deinen Vater. Ich sehe und höre scharf, erst durch Deine Briefe jetzt hindurch, dann durch die Geschehnisse der letzten vergangenen Zeit und ich weiß: ich muß Dich aus den Täuschungen, die Dich von klein an umgeben, befreien. Das Recht dazu gabst Du mir selbst (weil Du mich liebst) [...] – Wenn Du Dir sagst, Du seiest nicht hart und egoistisch dann ist das wahr – und wenn Du hier keinen Weg zu mir fandest, trotzdem Du mich liebst und ich Dich – dann kann ich Dir nun sagen, was Dich hindert Vertrauen zu mir zu fassen: Dein Herkommen. Von der Art Mensch, wie Deine Väter. Die Du aber im Innersten nicht bist. Das ist der Zwiespalt, das ist was Dich lähmt, das ist Dein Kampf: sieh doch: Du, Du selbst, gegen Deine Väter. Du willst werden, was sie nicht sind: ein Mensch, der weiß, was das Leben ist, ein Mensch der den Doppelblick des Lebens ertragen kann. [...] Deine Väter sind gute, aber schwache Menschen, bei allem Ruheverlangen ohne innere Ruhe und Gewissheit, ohne das stolze Wissen: mir fällt alles, was das Leben geben kann, zu – denn ich biete mich selbst dagegen – ich schone mich nicht. – Darum kann ich Deine Väter nicht lieben. Und darum sollst Du wissentlich und willentlich mir vertrauen – mich vorziehen – und Du wirst nicht daran zu Grunde gehen – weil Du mich liebst.«45
Den August 1916 verbringt Hannah Höch gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in dem Ostseebad Brunshaupten. Hier will sie sich von den gesundheitlichen Folgen des Schwangerschaftsabbruchs erholen. Noch am Tag ihrer Abreise schreibt ihr Hausmann: »Nachdem ich Deine Hand losgelassen hatte und der Zug schon ein Stück vor mir fuhr – das tat weh, als würdest Du aus mir herausgerissen. Liebste, das war das letzte Mal, daß ich Dich fahren ließ.«46 Zunächst ist geplant, dass er sie dort besucht. Doch auf ein Informationsblatt, das die »Bestimmungen über den Verkehr in den Seebädern im Bereich des stellv. IX. Armeekorps« enthält, notierte Höch: »Vater schickte uns: Mutter, Grete, Anni u. mich nach Brunshaupten. Zu meiner grenzenlosen Enttäuschung kam dann Hausmann nicht, der sich erst angesagt hatte.«47 Zunächst hatte Hausmann vor, für einige Tage an die Ostsee zu kommen: »Liebste, werde mir gesund, schön, stolz – wenn ich komme werde ich geblendet sein.«48 Doch er traute sich offenbar nicht, ihrer Mutter zu begegnen: »Wie lange bleibt Deine Mutter? Wenn bis Ende, dann wird sie meine Ankunft wohl nicht erbauen.«49 Stattdessen fährt er Mitte August nach Böckele in Westfalen, auf das Rittergut von Herta König, wo sich auch seine Frau und seine Tochter aufhalten. Das konnte er Hannah Höch in seinen Briefen in das Seebad nicht ehrlich mitteilen. Als Hannah Höch ihn zur Rede stellt, antwortet er: »Liebe, meine Briefe sind durchaus einfach zu verstehen. Ich dachte, es würde Dir schmerzlich sein, mich in Westfalen zu wissen – nichts weiter wollte ich bitten mit dem ›stolz sein, lieb schreiben‹ – als daß Du in Gewißheit auf mich warten würdest.«50
Im Zusammenhang mit Hannah Höchs Abtreibung wird ihr Vater für Hausmann zum Feindbild per se: »Töte Deinen Vater in Dir!«, appelliert er an die Künstlerin im Herbst 1916.51 Bei ihr stoßen solche Losungen auf Unverständnis und Abneigung. Die Verletzungen, die er durch seine radikalen Forderungen hervorruft, gehören zu seinem Erziehungsplan: »Darauf sagtest Du unter Tränen: er will mir wohl – erinnere Dich überhaupt jenes Tages, da haben wir das obenstehende ganz prinzipiell erlebt – ganz logisch und rein sah ich, was ich von Dir fordern muß – [...].«52
Otto Gross verlagerte die Erkenntnisse der Psychoanalyse aus dem medizinischen und pädagogischen Bereich auf sein revolutionäres Gesellschaftsmodell.53 Sein sozialkritischer Ansatz brachte ihm erhebliche Kritik und den Widerspruch Sigmund Freuds ein. Gross entwickelte seine Theorie in einer