Название | Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch |
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Автор произведения | Cara Schweitzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449479 |
Einer wandernden Wolke Pracht
lockt den Mond in weiße, steife Schleifen,
damit nicht seiner Neugier Licht
die aufgeschloss’nen Straße streife
auf deinem und meinem Angesicht.«8
Ausgedehnte Spaziergänge im Berliner Grunewald waren ein regelmäßiger Bestandteil gemeinsamer Unternehmungen des Paares. Im November 1915, kurz nach Hannah Höchs sechsundzwanzigstem Geburtstag, verfasst Raoul Hausmann für sie ein Gedicht. Ihre Beziehung besteht nun seit einem halben Jahr.
»Zwei Tage erinnere ich.
Der eine,
Jener 28. April dieses Jahres
An dessen Abend ich,
zurückgezogen auf mein innerstes Selbst
hingeführt wurde in die Prinz-Albrecht-Straße
wo ich Dich gewann, weil ich die äußerlich egoistischen Schranken
fallengelassen hatte und Du Dich in mir spiegeln konntest;
das wussten wir Beide nicht.
Und der andre Tag ist
Der 3. Juli danach gewesen.
Wir hatten im Bad Wannsee
Whitman gelesen.
Er ist der Tag,
an dem ich das Erste mal
furchtsam, zitternd – aber doch
willentlich und wissentlich
Deinen Schoß in meine Hand nahm.
An diesen beiden Tagen,
so verschieden sind sie,
hängt unser ganzes Schicksal.«9
Hannah Höch wird sich rückblickend dem Kunsthistoriker Heinz Ohff gegenüber äußern: »Raoul Hausmann war der erste von den bedeutenden Menschen, die in meinem Leben eine Rolle spielen. Er soll hier nur kurz Erwähnung finden. Vom Leben habe ich in dieser Zeit mit ihm unendlich viel erfahren. Auch: ausweglosen Tiefen philosophischen Denkens nachzuspüren. Auch: der irdischen Liebe meinen Tribut zu zollen.«10 Lange Zeit hat es die Künstlerin vermieden, über ihre Beziehung zu Hausmann zu sprechen.11
In seinem Gedicht aus der Anfangsphase ihrer Liebe klingen zukünftige Konflikte an. Nach Höchs Tod wurde das Verhältnis zwischen der Künstlerin und Raoul Hausmann in der Literatur vielfach beleuchtet. Zu den umfangreichsten und einfühlsamsten Schilderungen zählt Karoline Hilles detaillierte und lebendige Darstellung der psychisch belastenden Auseinandersetzungen des Paares. Erst jüngst erschien die Dissertation von Silke Wagener, die die Künstlerbeziehung in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen am Ende des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der zwanziger Jahre einordnet. Sie analysiert die von Hausmann rezipierte psychoanalytische und philosophische Literatur und untersucht, wie er das angelesene theoretische Wissen auf seine Beziehung anwendet. Exemplarisch für die Geschlechterbeziehungen der Avantgarden beschreibt sie das Rollenverständnis von Höch und Hausmann. Beide Autorinnen werten die zahlreichen Briefe und Dokumente aus, die sich in Raoul Hausmanns und Hannah Höchs Nachlass befinden. Ebenso wird der Einfluss der Beziehung auf die künstlerischen Arbeiten Hannah Höchs thematisiert.
Trotz ihrer noch jungen Liebesbeziehung zu Hausmann hält sich Hannah Höch im Sommer 1915 für über zwei Monate bei ihrer Familie in Gotha auf. In die Leidenschaft der ersten Wochen hat sich ein Bewusstsein für die komplizierten Voraussetzungen gemischt, die zumindest aus Höchs Sicht gegen ein ernsthaftes Verhältnis zu Hausmann sprechen. Die Erkenntnis mag auch ein Grund dafür sein, warum Hannah Höch für lange Zeit von Berlin wegbleibt: »Was mir am allernötigsten für Dich sowohl als für mich erscheint ist dies, wir müssen Beide jetzt Ruhe erzwingen. Ich meine nicht Concentration, sondern ein Vergessen (augenblicklich) der widrigen Umstände, an die wir schon genug dachten; [...]«12, schreibt ihr der Geliebte aus der Hauptstadt. In einem seiner zahlreichen Briefe äußert sich Hausmann offen über die »widrigen Umstände«, die schon im ersten Jahr ihrer Liebe zum zentralen Anlass aller zukünftigen Auseinandersetzungen werden sollen. Hausmann hatte eine Ehefrau, die Geigerin Elfriede Schaeffer, und eine siebenjährige Tochter, Vera. Die gemeinsame Zweizimmerwohnung in Steglitz hatte er verlassen. Er wohnte zur Untermiete in der Charlottenburger Pestalozzistraße.13 Wie so oft war er eine Nacht lang mit dem Philosophen und Kunsthistoriker Salomon Friedlaender durch die Straßen in Charlottenburg flaniert: »Ich habe ihm nämlich gesagt, ›ich würde mich vielleicht von meiner Familie trennen‹, und habe lange mit ihm über meine Frau gesprochen, er kennt sie nämlich – er beurteilt sie eigentlich so wie ich. Er meint schwer, schlimm, und nur mit Vorsicht. Es darf kein Versehen passieren, das wäre unter Umständen ein Todesurteil. Daß ich nicht anders kann, giebt er zu. Ich sprach mit ihm nur was ich wusste, aber er ist sehr gescheit und daß er so dachte wie ich, hat mich doch irgendwie beruhigt«, schreibt Raoul Hausmann nach Gotha.14
Bei dem »Vielleicht« sollte es für die fast sieben Jahre währende Beziehung bleiben. Salomon Friedlaender gehörte in dieser Zeit zu seinen engeren Freunden. Raoul Hausmann verkehrt, wie es von einem Bohemien zu erwarten ist, in den entsprechenden Berliner Kaffeehäusern und kennt zahlreiche Künstler und Intellektuelle der Berliner Kulturszene. Er ist auf der Suche. Seinen Platz in der Kunstwelt hat er noch nicht gefunden. Bei verschiedenen Zirkeln, in denen sich Anhänger des Expressionismus treffen, kämpft er um Anerkennung. Hausmann hat Kontakt mit dem Brückekünstler Karl Schmidt-Rottluff, der Anfang 1915 darum bemüht ist, zum Militär eingezogen zu werden: »Lieber Herr Hausmann, meine Versuche, artilleristisch beschäftigt zu werden, nehmen vorläufig einen komödienhaften Verlauf. – Würden Sie mir schreiben, ob u. wann ich Sie mal besuchen dürfte.«15 Hausmann teilt die Sehnsucht, endlich in den Kriegsdienst eingezogen zu werden, allerdings nicht.
Viele der einst in Dresden ansässigen Expressionisten waren Anfang der 1910er Jahre, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nach Berlin gezogen. Zu ihnen zählte Ludwig Meidner, der nie Mitglied der Brücke war, dessen apokalyptische Stadtansichten mit ihren perspektivischen Brüchen und zersplitternden Strukturen ihm weithin den Ruf einbrachten, der expressivste unter den Expressionisten zu sein. In regelmäßigen Abständen traf sich abends in Meidners Berliner Atelier ein lockerer Kreis von Künstlern, die sich dem Expressionismus verpflichtet fühlten. Seit 1914 gehört Meidner der links-expressionistischen Zeitschrift »Die Aktion« an, die der Literat Franz Pfemfert herausgibt und die keinen Hehl aus ihrer Antikriegshaltung macht. Meidner wird 1916 zum Kriegsdienst eingezogen. Die freiwillige oder unfreiwillige Beteiligung an den mörderischen Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beherrschte seit Kriegsausbruch das intellektuelle Leben der Künstlergeneration, zu der Hannah Höch wie auch Raoul Hausmann zählt. Während die einen, wie etwa die Blauen Reiter August Macke und Franz Marc, sich freiwillig an die Front melden und darauf hoffen, durch Zerstörung und Kriegsgewalt an der Erschaffung einer neuen Welt beteiligt zu sein, irritieren die Widersprüche zwischen öffentlicher Kriegsbegeisterung und den ersten Berichten von den Schrecken in den Schützengräben. Im Sommer 1915 steht Raoul Hausmann vor der Musterung, doch offenbar wird er wegen seiner Kurzsichtigkeit für untauglich erklärt. Sein Freund Salomon Friedlaender, der, obwohl er mittlerweile Mitte vierzig ist, zweimal gemustert wird, deutet an, dass man ihn für kriegsuntauglich erklärt habe, da es ihm gelungen sei, vor den Militärs als geistesschwach zu erscheinen: »Mein König! Ich halte Dich für vollkommen untauglich, also werden sie Dich nicht nehmen. Sie haben mich auch nicht genommen. [...] Aber, mein König, Du bist systematisch vergeßlich [...].«16 In Friedlaenders Anspielungen und seiner Benennung Hausmanns als »König« stecken erste dadaistische Nuancen. Später, zu DADA-Zeiten, werden sich die Künstler Spitznamen aussuchen. Hausmann wird sich immer wieder darum sorgen, doch noch zum Militär eingezogen zu werden. Im Sommer 1916 schreibt er Hannah Höch in zynischem Ton an die Ostsee: »Bei unseren Musterungen werden von den alten (40–50 Jahre) Leuten von 10–8 genommen. Gute Aussicht!«17
Auch der junge expressionistische Maler