Название | Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch |
---|---|
Автор произведения | Cara Schweitzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449479 |
Das utopische und revolutionäre Moment in seinen Texten macht Gross zum Therapeuten der DADA-Bewegung. Seine scharfe Kritik an den gegebenen Gesellschaftsstrukturen, die auch eine Erklärung für die brutale Gewalt des Ersten Weltkriegs lieferte, stieß insbesondere in linken und sozialkritischen Kreisen auf offene Ohren, die auf Veränderungen hofften. Vor allem die Mitglieder des Berliner DADA-Kreises, der sich ein Jahr später zusammenfand, allen voran Raoul Hausmann, festigten mit Hilfe seiner Schriften ihre gesellschaftskritische Position. Gross’ Texte gaben entscheidende Impulse für die Aktionen von DADA: »Ohne die psychoanalytische und zwischenmenschliche Umgestaltung der Gemeinschaftsbeziehungen, die in der Freien Straße ausgeübt und vorbereitete worden war, hätte die Berliner Dada-Bewegung nicht gleich beim ersten Auftreten eine Steigerung und Klärung des beinahe natürlichen Provokationsstoffes auf allen intellektuellen Gebieten ergeben können«, äußerte Hausmann rückblickend.59
Doch zunächst dient Gross Raoul Hausmann dazu, die Spannungen zwischen ihm und Hannah Höch auf seine Weise zu analysieren. Seine Kritik an ihrer Familie ist den Gross’schen Texten entlehnt. Hausmanns Briefe, die um die Konflikte nach dem Schwangerschaftsabbruch kreisen, sind geprägt von einer erzieherischen Haltung gegenüber Hannah Höch. Die Germanistin Silke Wagener konnte zeigen, dass er mit seinem pädagogischen Anspruch einem traditionellen Geschlechterverständnis folgt und damit genau das Gegenteil von dem unternahm, was er der Künstlerin gegenüber vorgab.60 Hausmann führte, so Silke Wageners Analyse, die Tradition der klassischen Brautbriefe fort, mit denen ein Ehemann die ihm Anvertraute in unterschiedlichen Themen unterwies.61 Ziel der Erziehungsmaßnahmen war es, Hannah Höch dazu zu bringen, ihren Wunsch nach einer monogamen Beziehung mit ihm aufzugeben und ein gemeinsames Kind auch dann zuzulassen, wenn er sich nicht zuvor von seiner Ehefrau trenne. Ihre Entscheidung gegen ein Kind von Hausmann löst bei ihm eine Verletzung aus, die ihm seine Grenzen aufwies, über Hannah Höchs Körper zu entscheiden, »weil Du mein Anrecht auf Dein Kind wie überhaupt meine Anrechte auf die sich aus unserer körperlichen Gemeinsamkeit ergebenden Beziehungen ablehnst; nicht mit-fühlst [...]«, schreibt er ihr noch ein Jahr nach der Abtreibung.62
1918 wird sie sich ein zweites Mal für eine Abtreibung entscheiden. Künstlerin und gleichzeitig Mutter eines Kindes zu sein, dessen Vater mit zwei Partnerinnen lebt, konnte sich Hannah Höch nicht vorstellen. Er dagegen versucht, ihr sein Konzept einer Beziehung mit zwei von einander unabhängigen Frauen als Philosophie der Befreiung und Emanzipation nahezubringen, in der die Frau ohne gesellschaftliche Konventionen endlich ihrem reinen »Mutterschaftstriebe« folgen könne. Hannah Höchs Entscheidung, das mit ihm gezeugte Kind nicht zu bekommen, legt er ihr im Sinne von Otto Gross als »Unterdrückung des Mutterschaftstriebes« und »Proteststellung« gegen ihn als Mann aus. Ihre erneute Ablehnung eines Kindes, seines von ihm sehnsüchtig erwarteten »himmelblauen Sohns«, wie er ihn in dem 1917 verfassten Gedicht »Mein Sohn Himmelblau« taufte63, zeugte in Hausmanns Interpretation von Hannah Höchs Negation ihrer »eigenen Weiblichkeit«.64
Hausmanns Briefe, die Hannah Höch in ihrem Nachlass aufbewahrte, zeigen, wie über die gesamte Dauer ihrer Beziehung die Auseinandersetzungen immer wieder um das gleiche Problemfeld kreisen. Wie in einer Spirale schrauben sich seine Anforderungen an die Partnerin und die an sie gerichteten Vorwürfe hoch. Teilweise eskalieren die Kämpfe zwischen beiden so sehr, dass es zu physischer Gewaltanwendung kommt. Sie reagiert mit Distanzierung und vorübergehender Trennung. Erst in diesen Situationen legt Hausmann die Gross’schen Theorien beiseite und wechselt zu reumütiger Selbstanklage.
Für Hannah Höch werden seine andauernden Vorwürfe und Erziehungsmaßnahmen immer mehr zur Strapaze, auf die sie wiederholt mit Kontaktabbruch reagiert. Sie flüchtet sich zu ihrer Familie nach Gotha oder zu ihrem Bruder Danilo, der auch in Berlin lebt. Bei Hausmann löst ihr Verhalten ein noch massiveres Drängen aus. Er versucht, sie wieder zurückzuerobern. Auf diese Weise wird das neurotisch aufgeladene Beziehungsgefüge der beiden kaum durchbrochen.65
Hausmann schreckt nicht davor zurück, bei Hannah Höchs Arbeitskollegin, die in das Beziehungsdrama eingeweiht ist, Erkundigungen einzuholen, wo sie sich vor ihm versteckt hält. Trotz des erheblichen Drucks, den Hausmann ausübt, der bisweilen auch bei ihm einen selbstzerstörerischen Charakter annehmen kann, eignet sich Hannah Höch seine Vorwürfe nicht an. Ihre Distanz zu seinen theoretisch untermauerten Anklagen äußert sich etwa darin, dass sie in ihren Antwortschreiben die von Hausmann benutzte Gross’sche Terminologie in Anführungszeichen setzt.66 In einem in ihrem Nachlass erhaltenen Briefentwurf, den sie im Sommer 1918 in einer erneuten Phase heftigen Streits an Hausmann verfasst, schreibt sie: »... ich weiß wie ich Dich über alle Stürme hinweg lieben könnte – unbeschwert, längst frei von Grenzen die ich aus der ›Familienatmosphäre heraus als Leitlinie gestaltet habe‹ – so aber kann ich nie etwas für Dich tun weil ich nie zu Dir selbst gelangen kann weil ich überall an Schranken, Irrwege, Hinterhälte stoßen muß, die mich böse machen; [...].«67
Die Krisen des Künstlerpaares Höch/Hausmann sind vor allem in seinen Briefen an die Künstlerin dokumentiert. Sie bewahrte sie auf. Ihre Reaktionen können nur noch erahnt werden und lassen sich vor allem aus seiner Perspektive schließen. Eine Ursache hierfür mag sein, dass Hausmann ihre Briefe nicht der Öffentlichkeit überlassen wollte. Trotz des ständigen Konfliktszenarios, das für beide kraftzehrend ist, finden Hannah Höch und Raoul Hausmann über sieben Jahre hinweg immer wieder zueinander. Ihre Beziehung fällt für beide in eine Zeit, in der sie sich künstlerisch positionieren. Für die kunsthistorische und kulturgeschichtliche Forschung sind die privaten Zeugnisse ihrer Beziehung deswegen so interessant, weil sie ihre persönliche Auseinandersetzung selbst als paradigmatisch für die gesellschaftlichen Umbrüche und den Wandel der Geschlechterrollen während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg betrachteten. Exemplarisch hierfür ist insbesondere Hausmanns Rezeption der Theorien von Otto Gross. Ihre Liebe wird gewissermaßen zur gesellschaftspolitischen Handlung. Wie in der Kunst strebten Höch und Hausmann in ihren privaten Verhältnissen nach Erneuerung.
Im Winter 1916/17 sind die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auch in der Zivilbevölkerung zu spüren. Obwohl die Kriegshandlungen kaum auf deutschem Gebiet ausgetragen werden, kommt es in der Folge fehlerhafter logistischer Planung zu Hungersnöten. Die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist auch in Hannah Höchs Briefen an die Familie dokumentiert. »Man wird jetzt buchstäblich zum Vegetarier ausgebildet«, schreibt sie etwa an ihre Schwester Grete.68 Doch im Verhältnis zu weiten Teilen der Bevölkerung scheint es Hannah Höch