Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch. Cara Schweitzer

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Название Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch
Автор произведения Cara Schweitzer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711449479



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Stiche aus der Zeit der Aufklärung und Romantik zu nutzen wussten.

      Neben dem rein naturwissenschaftlichen Interesse – demonstrieren doch die verschiedensten Abstufungen von noch flüssigem Gestein hin zu schon gefestigten Auswürfen nichts weniger als die Entstehungsgeschichte der Erde – bietet der Berg einen brisanten zusätzlichen Kick. Ihre sportliche Aktivität und das Wissen um die potentielle Gefahr, jederzeit mit dem ganzen Haufen in die Luft fliegen zu können, erhöhen die Pulsfrequenz der beiden. Und ein Blick in die Zukunft bestätigt, dass schon dreieinhalb Jahre nachdem Hannah Höch und Kurt Heinz Matthies auf den Vesuv geklettert waren, die Katastrophe eintrat, die die meisten Vulkanbesucher, während sie zwischen Schwefelausdünstungen herumsteigen, nur als ein beklemmendes Gefühl erahnen, das ihnen die Begrenztheit des eigenen Seins vor Augen führt. Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges traf die italienische Zivilbevölkerung in Neapel und Umgebung besonders hart. Zunächst bombardierten die Amerikaner das Gebiet und nach der Landung der Alliierten bei Salerno im September 1943 die Deutschen. Am 18. März 1944 kam es zum letzten Ausbruch des Berges, bei dem der kleine Krater im Inneren des Kegels vollständig zusammenbrach. Steine, Lava und Asche wurden in die Luft geschleudert. Nachfolgende Lavaströme zerstörten zwei Dörfer in der Umgebung. Vom Himmel fallende Gesteinsbrocken zertrümmerten eine Start- und Landebahn der Alliierten bei Terzigno und zahlreiche Flugzeuge.8 Den willkürlichen Eingriff des Berges in die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs konnten Hannah Höch und Kurt Matthies nicht vorhersehen.

      Quellen

      Die vorliegende Lebensbeschreibung der Künstlerin stützt sich maßgeblich auf die mehrbändige Veröffentlichung ihres Nachlasses in der Berlinischen Galerie. Ausführlich ist darin das Leben Hannah Höchs dokumentiert und wissenschaftlich kommentiert. Zitate der Künstlerin und der Personen, denen sie begegnet ist, habe ich, soweit sie aus dem publizierten Nachlass der Berlinischen Galerie entnommen sind, in der entsprechenden Transkriptionsweise wiedergegeben. Nur an wenigen Stellen wurde die Orthographie der besseren Lesbarkeit halber korrigiert.

      Neben zeitgenössischen Quellen und Selbstaussagen Hannah Höchs aus ihren Kalendern und Briefen an Freunde oder Kollegen benutzte ich ihre rückblickenden Kommentare, die sie etwa ihrem ersten Biographen Heinz Ohff gegenüber äußerte oder die in ihrem publizierten Lebensüberblick von 1958 nachzulesen sind. Diese retrospektiven Kommentare hat Hannah Höch autorisiert und nachträglich überarbeitet. In den Zitaten kommt die Künstlerin zu Wort. Ihre Selbstaussagen eröffnen einen Assoziationsraum, der Feinheiten ihrer zeitgenössischen und retrospektiven Sichtweisen erkennbar werden lässt.

      Darüber hinaus dienten mir bisher unveröffentlichte Briefe von Til Brugman, der niederländischen Lebenspartnerin von Hannah Höch, als Quelle. Sie werden im Deutschen Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums aufbewahrt.

      Die Darstellung ihrer Beziehung zu Kurt Heinz Matthies stützt sich auf Autographen der Künstlerin aus den Gerichtsakten ihres späteren Ehemanns. Ich habe versucht, ihre Briefe in den Kontext der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der NS-Diktatur einzuordnen.

      Ohne Hannah Höchs Vorgeschichte, ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen in dem gutbürgerlichen Elternhaus in Gotha, ihre erste Liebe zu Raoul Hausmann und ihre Teilhabe am Kreis der Berliner Dadaisten, ihre Partizipation an der Berliner Kunstszene der zwanziger Jahre sowie ihre Beziehung zu der holländischen Schriftstellerin Til Brugman ließe sich das Leben der Künstlerin unter der NS-Diktatur kaum beschreiben. Die einleitenden Kapitel enthalten jedoch nur wenige neue Forschungsergebnisse. Sie stützen sich auf die umfangreiche kunsthistorische Fachliteratur, die mittlerweile zu diesem Lebensabschnitt von Hannah Höch existiert.

      1. Kapitel

      »Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin«

      Kindheit und Ausbildung

      (1889–1915)

      Am 1. November 1889 wird Hannah Höch, deren vollständiger Geburtsname Anna Therese Johanne lautet, als ältestes von fünf Kindern in der thüringischen Residenzstadt Gotha geboren. Sie wächst in behüteten bürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater, Friedrich Höch, ist Generalagent der Württembergischen Feuerversicherung und baut als Subdirektor die Niederlassung der Stuttgarter-Berliner Versicherungsanstalt für Thüringen aus.1 Ihre Mutter Rosa Höch, geborene Sachs, war vor ihrer Eheschließung in den Häusern adliger Damen als Haushaltsvorsteherin und Vorleserin tätig.2 Wie in vielen bürgerlichen Familien zählte künstlerische Bildung zum guten Ton bei den Höchs. Die Mutter fördert Hannah Höchs Freude am Zeichnen und Malen. Auch sie selbst ging »bescheidenen künstlerischen Ambitionen« nach und »malte nach Vorlagen« Ölbilder.3 Mit einer kurzen berufsbedingten Unterbrechung, die die Höchs nach der Geburt ihrer ersten Tochter nach Weimar führt, lebt die Familie in Gotha, in einem dreistöckigen Gründerzeithaus in der Kaiserstraße 28, die heute 18.-März-Straße heißt.4 Die Fassade des Höch’schen Wohnhauses erscheint wohlgeordnet, wenige schlichte Stuckelemente gliedern die Front. Das Gebäude wirkt großzügig, aber nicht protzig. Hinter dem Haus öffnet sich ein Garten, der an eine kleine Parkanlage angrenzt, die zum Gut des Barons von Leesen gehört.5 Für das Familienleben und die intensive Beziehung zwischen Hannah Höch und ihrem Vater ist der Garten von zentraler Bedeutung. Den grünen Daumen hat sie offenbar von Friedrich Höch geerbt: »Mittags, zwischen zwölf und zwei Uhr, wenn die Büros geschlossen waren, pflegte mein Vater seinen Rosengarten, und ich lernte dabei helfend, schon mit sechs oder sieben Jahren, Rosen veredeln. Ich musste den Bast aufbinden, für die richtige Feuchtigkeit sorgen, das Okuliermesser reichen.«6 Ihre Familie bedeutet Hannah Höch sehr viel. Hier findet sie Verständnis und Rückhalt auch in schwierigen Lebenssituationen. Die Geborgenheit erzeugt in ihr einen großen Schatz an Vertrauen. Dieses Lebensgefühl trägt sie in sich und es bietet ihr in Krisensituationen Halt. Dennoch hat sie für das harmonische Zusammenleben in der Familie auf ihr wichtige Anliegen und Ziele verzichten müssen. 1904 verlässt Hannah Höch auf Wunsch der Eltern vorzeitig als Fünfzehnjährige die Höhere Töchterschule. Eigentlich hatte ihr die Schule viel Spaß bereitet, und der Unterrichtsstoff in vielen Fächern, auch in den Naturwissenschaften, interessierte sie. Der Grund für ihr vorzeitiges Ausscheiden aus der Schule lag in der Geburt der jüngsten Schwester Marianne, genannt Anni oder Nitte (1904–1994) begründet.7 Hannah Höch sollte als älteste Schwester die Mutter bei der Betreuung und Erziehung unterstützen und Verantwortung in der Familie übernehmen. Als die Kleine drei Tage alt ist, übernimmt Hannah Höch die Säuglingspflege. Sie wird die Schwester bis zur Einschulung betreuen.8 »Ich liebte dieses Kind sehr, aber dadurch zögerte sich zu meinem großen Kummer mein Studium beträchtlich hinaus – sehr zur Befriedigung meines Vaters, der ein Mädchen verheiratet wissen, aber nicht Kunst studieren lassen wollte, was übrigens um 1900 noch der allgemeinen bürgerlichen Ansicht entsprach.«9

      Ein um 1905 entstandenes Foto zeigt die etwa sechzehnjährige Johanne Höch in einem weißen, mit Rosen und Blüten geschmückten Ballkleid. Aufrecht sitzend schaut sie stolz aus dem Bild (Abb. 1). Die junge Frau scheint den für sie vorbestimmten Weg anzunehmen, wenn da nur nicht dieser selbstbewusste Blick wäre.

      Um die praktischen und kaufmännischen Fähigkeiten seiner Tochter weiter zu fördern, verlangt der Vater von Hannah Höch, dass sie ihn ein Jahr lang in seinem Versicherungsbüro unterstützt.10 Trotz der klaren Vorstellungen des Vaters über den weiteren Lebensweg seiner Tochter, der nicht ihren eigenen Wünschen entsprach, beschreibt Hannah Höch das Verhältnis zu ihm als liebevoll und positiv. Friedrich Höch stellt mit seiner Lebenshaltung und seinem pädagogischen Konzept keine Ausnahme unter den bürgerlichen Familien in Deutschland vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs dar. Hannah Höchs Biographie entspricht bis dahin dem typischen Bild einer behüteten Tochter aus bürgerlichem Hause. Doch all die Versuche der Eltern, ihre Tochter zu einem »bodenständigen« Beruf zu bewegen, scheitern an Hannah Höchs starkem Willen: »Lieber will ich mich in Berlin zu Tode schuften, als dass ich einen Tag länger in Gotha bliebe.« So jedenfalls schilderte sie retrospektiv ihren Entschluss, als junge Frau ihrer Heimatstadt den Rücken zu kehren, in dem 1977 von Hans Cürlis gedrehten Film »Hannah Höch – jung geblieben«.11 Erst acht Jahre nachdem sie von der Schule abging, fast