Charlottenburg, wo sie in die von Harold Bengen geleitete Klasse für Gestaltung aufgenommen wird.
12 Bengen war selbst Maler und hatte 1910 unter anderem mit Max Pechstein gemeinsam die Neue Sezession in Berlin gegründet. Sein künstlerischer Ruf basierte auf Entwürfen für Mosaiken und Glasfenster. Er gestaltete Teile der ornamentalen Ausschmückung für das Museum in Magdeburg, das Friedenauer Rathaus und die Berliner Charité. Die Charlottenburger Kunstgewerbeschule war den Ausbildungstraditionen des 19. Jahrhunderts verpflicht. Das Entwerfen und Zeichnen von Ornamenten, Kalligraphie und Schriftgestaltung bestimmten das Curriculum, wobei das Kopieren historischer Vorlagen einen zentralen Stellenwert einnahm.
13 Ursprünglich war es Hannah Höchs oberstes Ziel, an einer Akademie freie Kunst zu studieren. Doch die Erfüllung dieses Traumes wäre eine allzu provokative Entscheidung gegen die Pläne ihrer Eltern gewesen. »Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin«.
14 Kunstgewerbeschulen etablierten sich seit dem späten 19. Jahrhundert zusehends in Deutschland. Die Ausbildung setzte einen starken Akzent auf die praktische Anwendbarkeit des Gelernten und auf fundierte Kenntnisse handwerklicher Techniken. Das Angebot war breit gefächert. Entwerfen von Stoff- und Tapetenmustern, das Gestalten von Schnittmustern und das Erlernen druckgrafischer Verfahren zählte ebenso zum Curriculum wie Techniken der Glasmalerei. Vieles, was an diesen Schulen unterrichtet wurde, konnte sinnvoll in einem handwerklichen Beruf oder in der industriellen Warenproduktion eingesetzt werden. Es war ebenso in einem bürgerlichen Haushalt von Nutzen. Dieser Aspekt scheint, trotz der tendenziell eher liberalen und der Kunst durchaus zugeneigten Erziehung im Hause Höch, bei der Zustimmung der Eltern eine Rolle gespielt zu haben. An den Kunstakademien hingegen wurden die Studenten zu »freien« Künstlern in der sogenannten »hohen« oder »freien« Kunst ausgebildet, auch wenn aus heutiger Sicht der Lehrplan mit seinen verpflichtenden Kursen wie dem Zeichnen vor Originalen verschult wirkt.
15 In der rückblickenden Äußerung Hannah Höchs klingt an, dass sie wohl nicht nur mit den im Großen und Ganzen ihr sehr wohlwollenden Eltern Schwierigkeiten bekommen hätte, wenn sie sich an einer Kunsthochschule oder Akademie für den Bereich »freie Malerei« beworben hätte. Ein Universitätsstudium war Frauen in Preußen offiziell erst seit wenigen Jahren, seit dem Wintersemester 1908/1909, gestattet.
16 Als Hannah Höch ihre Ausbildung in Berlin beginnt, herrschen nach wie vor starke politische und gesellschaftliche Ressentiments gegen den gleichberechtigten Zugang von Frauen und Männern zu Bildungseinrichtungen. Die rückschrittliche Haltung in Deutschland demonstriert ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern, wie etwa der Schweiz, die bereits in den 1840er Jahren erste Gasthörerinnen akzeptierte und bald darauf auch die Vollimmatrikulation von Frauen erlaubte. Ähnliches gilt für Frankreich, Schweden, Dänemark und Belgien und die USA, in denen sich nach englischem Vorbild Frauen-Colleges etablierten.
17 Nicht nur in den medizinischen, theologischen und juristischen Fakultäten sind starke Vorbehalte gegen das Frauenstudium verbreitet. Vor allem die Kunstakademien verweigerten ihnen den Zugang zur Ausbildung. Einzelne renommierte Kunsthochschulen wie etwa die Münchner Akademie setzten in ihren Statuten noch 1911 fest, dass sie ihren Bildungsauftrag ausschließlich in der Schulung von »jungen Männern« definierten, »welche die Kunst als Lebensberuf gewählt haben«. Ihnen seien »jene Kenntnisse zu vermitteln, deren sie zur selbstständigen erfolgreichen Ausübung des Künstlerberufes bedürfen«.
18 Erst nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich auch die Münchner Kunstakademie auf Grund des in der Weimarer Verfassung festgeschriebenen Gleichheitsprinzips nicht länger der Immatrikulation von Studentinnen verschließen. Die frauenfeindliche Haltung der Akademien spiegelt sich auch in der allgemein verbreiteten Abneigung wider, die die spätwilhelminische Gesellschaft Künstlerinnen entgegenbrachte. In Satirezeitschriften wie dem »Simplicissimus« oder auch in sonst so fortschrittlichen Kunstjournalen wie der »Jugend« wurden bartwüchsige Künstlerinnen in Männerkleidung und Herrenschnitt vor der Staffelei stehend als »Malweiber« diskreditiert, die, falls sie es je zu künstlerischen Leistungen bringen sollten und nicht im Dilettantismus verharrten, zu halben Männern mutieren würden.
19 Die Vorstellung, dass eine ernstzunehmende Künstlerin notwendigerweise einen Verwandlungsprozess durchlaufen müsse, der einer Geschlechtsumwandlung gleichkommt, entsprang einer abwehrenden Einstellung gegenüber Frauen, die einem intellektuellen Beruf nachgingen. Kritiker sprachen Frauen auf Grund ihrer angeblichen psychischen und biologischen Konstitution die Fähigkeit ab, selbständig neue künstlerische Ideen zu entwickeln.
20 Zu diesem Urteil trugen Theorien über die »Biologie« der Frau aus dem Bereich der Naturwissenschaften bei. Frauen dichtete man auf Grund ihres Geschlechts einen Mangel an Erfindergabe, an »inventio«, an, die jedoch als maßgebliches Zeichen künstlerischer Genialität galt. Eben diese Begabung bestimmte wenige Ausgewählte und selbstverständlich nur Männer zu Künstlern. Hierin unterschied sich der Künstler, der nach seiner freien Eingebung Neues schafft, von den Kunstgewerbetreibenden, die nach Vorgaben und Aufträgen angewandte oder gewerbliche Arbeiten ausführten.
Die Ressentiments gegenüber Künstlerinnen demonstrieren aber auch, wie entschieden man das kreative Potential des Kunstgewerbes unterschätzte. Neben diesen angeblich von der Natur vorgegebenen Beschränkungen der Frau wurde vor allem das für die künstlerische Ausbildung notwendige Studium des nackten menschlichen Körpers als Argument gegen Studentinnen an den Kunstakademien angeführt. Moralisch anstößig war für viele Professoren die Vorstellung, dass junge Studenten und Studentinnen gemeinsam vor dem Akt zeichneten. Im späten 19. Jahrhundert galt das Zeichnen des entblößten weiblichen Körpers allerdings generell als Gefährdung der Sittlichkeit. Der preußische Staatskünstler und kunstpolitisch äußerst einflussreiche Historienmaler Anton von Werner lehnte 1874 aus diesem Grund einen Antrag seiner männlichen Studenten ab, weibliche Modelle einzustellen.21 Die Vorbehalte und Verbote waren Ausdruck des tabuisierenden und unterdrückenden Umgangs mit dem weiblichen Körper um 1900 in Deutschland. An Koedukation vor dem unbekleideten Modell war auch noch lange nach der Jahrhundertwende nicht zu denken. Das gilt übrigens auch und vor allem für die Medizin. Anatomie lernten Frauen hier in von ihren männlichen Kollegen getrennten Kursen.
Hannah Höchs Entscheidung gegen eine Bewerbung an einer Kunstakademie entsprach dem Ausbildungsweg der meisten künstlerisch begabten und interessierten jungen Frauen ihres Alters. Als Kompromiss bot sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Wahl einer privaten Kunst- oder Kunstgewerbeschule an.22
Der Eintritt des deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg am 1. August 1914 und die damit verbundene Schließung ihrer Schule zwang Hannah Höch, noch einmal zu ihren Eltern zurückzukehren, um in Gotha einige Monate für das Rote Kreuz zu arbeiten. Hannah Höch erlebt den Kriegsausbruch in Köln. Die Kunstgewerbeschule hatte ihr, gemeinsam mit drei Kommilitonen, ein Reisestipendium zur Werkbund-Ausstellung verliehen, die 1914 auf dem am rechten Rheinufer gelegenen Messegelände gezeigt wird. Der Werkbund war 1907 von zehn führenden Künstlern, Formgestaltern und Architekten ins Leben gerufen worden. Dazu zählten unter anderem Peter Behrens, Theodor Fischer, Joseph Hoffmann, aber auch Paul Schultze-Naumburg. Ziel der Gründung war es, deutsches Kunstgewerbe mit hohem künstlerischem Anspruch auf Weltmarktniveau zu bringen und der verbreiteten Devise »German goods are cheap and nasty« (deutsche Waren sind billig und scheußlich) entgegenzutreten.23 Seine Gründer legten die Ziele in ihrem Programm fest. Die Veredelung gewerblicher Arbeit und Steigerung der Qualität wurden festgeschrieben. Die Werkbundschau, die Hannah Höch besuchte, sollte maßgeblich Einfluss auf zukünftige künstlerische und architektonische Entwicklungen in Deutschland nehmen. Hannah Höch konnte in Köln unter anderem Bruno Tauts Glaspalast besichtigen, das utopische Sinnbild kristalliner Architektur.
In ihrem Lebensüberblick von 1958 schrieb Hannah Höch, sie sei vom Ersten Weltkrieg »überrascht« worden. Lange vor dem 1. August 1914 prägten Vorzeichen der Mobilmachung in Deutschland das Straßenbild. Hannah Höchs Blindheit für die Kriegseuphorie hing mit ihrer Einstellung zusammen. Anders als viele Altersgenossen, vor allem auch in Künstlerkreisen, verband sie mit der sich anbahnenden kriegerischen Auseinandersetzung keinerlei positive Vorstellungen: »Aus den schwerelosen Jugendjahren kommend und glühend mit meinem Studium beschäftigt, bedeutete diese Katastrophe den Einsturz meines damaligen Weltbildes. Ich übersah die Folgen für die Menschheit und für mich persönlich sofort und litt unter dem munteren Aufbruch meiner Umwelt in den Krieg sehr.«24 Ihr klares Bekenntnis zum Pazifismus wird Hannah Höchs persönlichen und künstlerischen Werdegang maßgeblich beeinflussen.