Das Passagen-Werk. Walter Benjamin

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Название Das Passagen-Werk
Автор произведения Walter Benjamin
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788026829706



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Abfolge? aus der Verdichtung einer jahrhundertelangen Bewegung von Straßen, Boulevards, Passagen, Plätzen im Zeitraum einer halben Stunde? Und was anderes tut der Flaneur? □ Flaneur □ [C 1, 9]

      »Il y a, à deux pas du Palais-Royal, – entre la cour des Fontaines et la rue Neuve-des-Bons-Enfants, – un petit passage noir et tortueux, orné d’un écrivain public et d’une fruitière. Cela peut ressembler à l’antre de Cacus ou de Trophonius, mais cela ne pourra jamais ressembler à un passage, – même avec de la bonne volonté et des becs de gaz.« Delvau: Les dessous de Paris Paris 1860 p 105/106 [C 1 a, 1]

      Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging. Auch unser waches Dasein ist ein Land, in dem es an verborgenen Stellen in die Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden. Alle Tage gehen wir nichtsahnend an ihnen vorüber, kaum aber kommt der Schlaf, so tasten wir mit geschwinden Griffen zu ihnen zurück und verlieren uns in den dunklen Gängen. Das Häuserlabyrinth der Städte gleicht am hellen Tage dem Bewußtsein; die Passagen (das sind die Galerien, die in ihr vergangenes Dasein führen) münden tagsüber unbemerkt in die Straßen. Nachts unter den dunklen Häusermassen aber tritt ihr kompakteres Dunkel erschreckend heraus und der späte Passant hastet an ihnen vorüber, es sei denn, daß wir ihn zur Reise durch die schmale Gasse ermuntert haben.

      Aber ein anderes System von Galerien, die unterirdisch durch Paris sich hinziehen: die Métro, wo am Abend rot die Lichter aufglühen, die den Weg in den Hades der Namen zeigen. Combat – Elysée – Georges V – Etienne Marcel – Solférino – Invalides – Vaugirard haben die schmachvollen Ketten der rue, der place von sich abgeworfen, sind hier im blitzdurchzuckten, pfiffdurchgellten Dunkel zu ungestalten Kloakengöttern, Katakombenfeen geworden. Dies Labyrinth beherbergt in seinem Innern nicht einen sondern Dutzende blinder, rasender Stiere, in deren Rachen nicht jährlich eine thebanische Jungfrau, sondern allmorgentlich tausende bleichsüchtiger Midinetten, unausgeschlafener Kommis sich werfen müssen. □ Straßennamen □ Hier unten nichts mehr von dem Aufeinanderprall, der Überschneidung von Namen, die das oberirdische Sprachnetz der Stadt bilden. Ein jeder haust hier einzeln, die Hölle sein Hofstaat, Amer Picon Dubonnet sind die Hüter der Schwelle. [C 1 a, 2]

      »Hat nicht jedes Quartier seine eigentliche Blütezeit etwas bevor es vollständig bebaut ist? Und dann beschreibt sein Planet eine Kurve, nähert sich dem Handel und hier wieder erst dem großen und dann dem kleinen. Solange die Straße noch etwas neu ist, gehört sie den kleinen Leuten und wird sie erst los, wenn die Mode ihr lächelt. Ohne aufs Geld zu sehen, machen die Interessenten sich gegenseitig die kleinen Häuser und die einzelnen Wohnungen streitig, solange nämlich hier schöne Frauen mit der strahlenden Eleganz, die nicht nur dem Salon sondern dem Haus und sogar der Straße zur Zier wird, ihre Empfänge veranstalten und empfangen werden. Und ist die schöne Dame einmal Passantin geworden, dann will sie auch Kaufläden und häufig kommt es die Straße teuer zu stehen, wenn sie sich zu geschwind diesem Wunsch anpaßt. Dann fängt man an, die Höfe zu verkleinern, manche fallen ganz fort, man rückt in den Häusern zusammen und am Ende kommt dann ein Neujahrstag, an dem es gegen den guten Ton ist, ein⁠〈e〉 solche Adresse auf seiner Besuchskarte zu haben. Denn die Mehrzahl der Mieter sind nur Gewerbeleute und die Torwege haben nicht mehr viel zu verlieren, wenn sie hin und wieder einem der kleinen Handwerker Zuflucht gewähren, deren kümmerliche Bretterbuden an die Stelle der Läden getreten sind.« Lefeuve: Les anciennes maisons de Paris sous Napoléon III Paris Bruxelles 1873 I p 482 □ Mode □ [C 1 a, 3]

      Es ist für das schwach entwickelte Selbstgefühl der meisten europäischen Großstädte ein trauriges Zeugnis, daß so sehr wenige und jedenfalls keine deutsche, einen so handlichen, minutiösen und dauerhaften Plan haben wie er für Paris existiert. Das ist mit seinen 22 Karten von allen pariser Arrondissements und von den Parks von Boulogne und Vincennes der ausgezeichnete plan Taride. Wer je in einer fremden Stadt an einer Straßenecke bei schlechtem Wetter mit einem der großen papiernen Stadtpläne hantieren mußte, die bei jedem Windzug wie ein Segel schwellen, an jeder Kante durchreißen und bald nur noch ein Häufchen schmutziger bunter Blätter sind, mit denen man sich herumquält wie mit einem Puzzle, der lerne aus dem Studium des plan Taride, was ein Stadtplan sein kann. Leuten, denen die Phantasie bei der Versenkung in ihn nicht wach wird und die ihren pariser Erlebnissen nicht lieber über einem Stadtplan als über Photos oder Reiseaufzeichnungen nachhängen, denen kann nicht geholfen werden. [C 1 a, 4]

      Paris steht über einem Höhlensystem, aus dem Geräusche der Métro und Eisenbahnen heraufdröhnen, in dem jeder Omnibus, jeder Lastwagen langausgehaltenen Widerhall erweckt. Und dieses große technische Straßen- und Röhrensystem durchkreuzt sich mit den altertümlichen Gewölben, den Kalksteinbrüchen, Grotten, Katakomben, die seit dem frühen Mittelalter Jahrhunderte hindurch gewachsen sind. Noch heute kann man gegen zwei Franken Entgelt sich seine Eintrittskarte zum Besuche dieses nächtlichsten Paris lösen, das so viel billiger und ungefährlicher als das der Oberwelt ist. Das Mittelalter hat es anders gesehen. Aus Quellen wissen wir, daß hin und wieder sich kluge Leute erbötig machten, gegen hohe Bezahlung und Schweigegelübde ihren Mitbürgern dort unten den Teufel in seiner höllischen Majestät zu zeigen. Ein Finanzunternehmen, das für die Geprellten viel weniger riskant war als für den betreffenden Gauner. Mußte die Kirche eine unechte Teufelserscheinung der Gotteslästerung nicht beinahe gleichsetzen? Auch sonst warf diese unterirdische Stadt für die, die sich in ihr ausgekannt haben, ihren greifbaren Nutzen ab. Denn ihre Straßen schnitten die große Zollmauer, mit der die fermiers généraux ihre Rechte auf Abgaben von der Einfuhr sich sicherten. Der Schmuggelverkehr im sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert ging zum großen Teil unter der Erde vor sich. Wir wissen auch, daß in Zeiten öffentlicher Erregung sehr schnell unheimliche Gerüchte über die Katakomben umliefen, zu schweigen von den prophetischen Geistern und wei⁠〈s〉⁠en Frauen, die von rechtswegen dahin zuständig sind. Am Tage nach der Flucht Ludwigs XVI verbreitete die Revolutionsregierung Plakate, in denen sie genaueste Durchsuchung dieser Gänge anordnete. Und ein paar Jahre später ging unversehens das Gerücht durch die Massen, einige Stadtviertel seien dem Einbruch nahe. [C 2, 1]

      Die Stadt auch weiter zu erbauen aus ihren »fontaines«. »Quelques rues ont conservé le nom de ceux-ci, quoique le plus célèbre d’entre eux, le Puits d’Amour, qui était situé non loin des halles, dans la rue de la Truanderie, ait été tari, comblé, rasé, sans laisser de traces. Il n’en est point ainsi de ce puits à écho dont le sobriquet a été donné à la rue du Puits-qui-Parle, ni du puits que le tanneur Adam-l’Hermite avait fait creuser dans le quartier Saint-Victor; nous avons connu les rues du Puits-Mauconseil, du Puits-de-Fer, du Puits-du-Chapitre, du Puits-Certain, du Bon-Puits, et enfin la rue du Puits qui, après avoir été le rue du Bout-du-Monde, est devenue l’impasse Saint-Claude-Montmartre. Les fontaines marchandes, les fontaines à la sangle, les porteurs d’eau iront rejoindre les puits publics, et nos enfants, qui auront de l’eau avec facilité aux derniers étages des maisons les plus élevées de Paris, s’étonneront que nous ayons conservé si longtemps ces moyens primitifs de pourvoir à l’un des plus impérieux besoins de l’homme.« Maxime du Camp: Paris Ses organes, ses fonctions et sa vie Paris 1875 V p 263 [C 2, 2]

      Eine andere Topographie, nicht architektonisch sondern anthropozentrisch gedacht, würde uns das stillste Quartier, das abgelegne vierzehnte Arrondissement mit einem Schlag in seinem wahren Lichte zeigen. So sah es wenigstens schon Jules Janin vor hundert Jahren. Wer darin zur Welt kam, konnte das bewegteste, verwegenste Leben führen ohne es je zu verlassen. Denn in ihm liegen, eines nach dem andern, all die Gebäude des öffentlichen Elends, der proletarischen Not in lückenlosester Folge: die Entbindungsanstalt, das Findelhaus, das Hospital, die berühmte Santé: das große pariser Gefängnis und das Schaffott. Nachts sieht man auf versteckten, schmalen Bänken – nicht etwa auf den komfortablen der Squares – Männer zum Schlafen wie im Wartesaal auf einer Zwischenstation dieser schrecklichen Reise dahingestreckt. [C 2, 3]

      Es gibt architektonische Embleme des Handels: Stufen führen zur Apotheke, der Zigarrenladen hat sich der Ecke bemächtigt. Der Handel weiß die Schwelle zu nutzen: vor der Passage, der Eisbahn, der Schwimmanstalt, de⁠〈m〉 Bahnsteig steht als Hüterin der Schwelle eine Henne, die automatisch blecherne Eier legt, die im Innern Bonbons haben, neben ihr eine automatische Wahrsagerin, ein automatischer Stanzapparat, von dem wir unsern