Das Passagen-Werk. Walter Benjamin

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Название Das Passagen-Werk
Автор произведения Walter Benjamin
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788026829706



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Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. – Zweifellos liegt hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu machen. [B 1 a, 1]

      »Übersetzt russische Volksmärchen, schwedische Familiengeschichten und englische Gaunerromane, wir werden in Dem, was für die Masse den Ton angibt, immer wieder auf Frankreich zurückkommen, nicht, weil es immer die Wahrheit, sondern weil es immer die Mode sein wird.« Gutzkow: Briefe aus Paris II 〈Leipzig 1842〉 p 227/228 Tonangebend nun ist zwar immer das Neueste, aber doch nur wo es im Medium des Ältesten, Gewesensten, Gewohntesten auftaucht. Dieses Schauspiel wie das jeweils Allerneueste in diesem Medium des Gewesenen sich bildet, macht das eigentliche dialektische Schauspiel der Mode. Nur so, als grandiose Darstellung dieser Dialektik, versteht man die merkwürdigen Bücher Grandvilles, die Mitte des Jahrhunderts Furore machten: wenn er einen neuen Fächer als éventail d’Iris vorstellt und sein neues Dessin einen Regenbogen darstellt, wenn die Milchstraße eine nächtliche von Gaskandelabern erhellte Avenue darstellt, »la lune, peinte par elle-même« statt auf Wolken auf neumodischen Plüschkissen liegt, so erfaßt man erst, daß gerade in diesem trockensten, phantasielosesten Jahrhundert sich die gesamte Traumenergie einer Gesellschaft mit verdoppelter Vehemenz in d⁠〈as〉 undurchdringliche lautlose Nebelreich der Mode geflüchtet hat, in d⁠〈as〉 der Verstand ihr nicht folgen konnte. Die Mode ist die Vorgängerin, nein, die ewige Platzhalterin des Surrealismus. [B 1 a, 2]

      Zwei laszive Blätter von Charles Vernier stellen, als Gegenstücke, »Une noce en vélocipèdes« Aller – Retour dar. Das Rad gab eine ungeahnte Möglichkeit für die Darstellung des retroussé. [B 1 a, 3]

      Eine endgültige Perspektive auf die Mode ergibt sich nur aus der Betrachtung, wie jeder Generation die gerade verflossene als das gründlichste Anti⁠〈a〉⁠phrodisiacum erscheint, das nur denkbar ist. Mit diesem Urteil hat sie nicht so durchaus Unrecht, wie man annehmen könnte. Es ist in jeder Mode etwas von bitterer Satire auf Liebe, in jeder sind alle sexuellen Perversitäten aufs mitleidloseste angelegt, jede ist von geheimen Widerständen gegen Liebe erfüllt. Es lohnt sich mit der folgenden Betrachtung von Grand-Carteret 〈sich〉 auseinanderzusetzen, so oberflächlich sie ist: »C’est avec les scènes de la vie amoureuse que l’on sent, en effet, apparaître tout le ridicule de certaines modes. Tels hommes, telles femmes ne sont-ils pas grotesques en des gestes, en des poses ni le toupet déjà extravagant en lui-même, ni le chapeau à haute forme, ni la redingote serrée à la taille, ni le châle, ni les grandes pamélas, ni les petits brodequins d’étoffe.« Die Auseinandersetzung mit den Moden der vergangenen Generationen ist denn auch eine Sache von viel größerer Bedeutung als man gewöhnlich vermutet. Und es ist eine der wichtigsten Seiten am historischen Kostüm, daß es, vor allem im Theater, das unternimmt. Über das Theater greift die Kostümfrage tief in das Leben der Kunst und der Dichtung ein, in denen die Mode zugleich bewahrt und überwunden wird. [B 1 a, 4]

      Vor einem durchaus verwandten Problem stand man angesichts der neuen Geschwindigkeiten, die einen veränderten Rhythmus in das Leben trugen. Auch der wurde erst gewissermaßen spielerisch ausprobiert. Die montagnes russes kamen auf, und die Pariser bemächtigten sich wie besessen dieses Vergnügens. Um 1810 notiert ein Chronist habe eine Dame an einem Abend im parc de montsouris, wo damals diese Luftschaukeln standen, 75 Franken darauf vergeudet. Das neue Tempo des Lebens kündigt sich oft auf die unvermute⁠〈t〉⁠ste Weise an. So in den Affichen. »Ces images d’un jour ou d’une heure, délavées par les averses, charbonnées par les gamins, brûlées par le soleil, et que d’autres ont quelquefois recouvertes avant même qu’elles aient séché, symbolisent, à un degré plus intense encore que la presse, la vie rapide, secouée, multiforme, qui nous emporte.« Maurice Talmayr: La cité du sang Paris 1901 p 269 Es existierte ja in den Anfangszeiten der Affiche noch kein Gesetz, das die Art und Weise der Plakatierung, den Schutz der Plakate aber auch den Schutz vor Plakaten, anordnete und so konnte man, wenn man eines Morgens beim Aufwachen sein Fenster von einem Plakat verklebt finden 〈sic〉. An der Mode hat dieses rätselhafte Sensationsbedürfnis sich von jeher befriedigt. Auf den Grund aber wird ihm allein die theologische Untersuchung kommen, denn es spricht daraus ein tiefes, affektives Verhalten des Menschen dem Geschichtsablauf gegenüber. Man möchte dies Sensationsbedürfnis an eine der sieben Todsünden anschließen und man wundert sich nicht, wenn ein Chronist apokalyptische Prophezeiungen daran schließt und die Zeit verkündet, da die Menschen vo⁠〈n〉 der Überfülle von elektrische⁠〈m〉 Licht blind und von dem Tempo der Nachrichtenübermittlung wahnsinnig werden würden. (Aus Jacques Fabien: Paris en songe. Paris 1863.) [B 2, 1]

      »Le 4 octobre 1856, le Gymnase représenta une pièce intitulée: les Toilettes tapageuses. C’était l’heure de la crinoline, et les femmes bouffantes étaient à la mode. L’actrice qui jouait le principal rôle, ayant compris les intentions satiriques de l’auteur, portait une robe dont la jupe exagérée à dessein avait une ampleur comique et presque ridicule. Le lendemain de la première représentation, sa robe lui fut demandée, comme modèle, par plus de vingt grandes dames, et huit jours après la crinoline avait doublé de dimension.« Maxime Du Camp: Paris VI p 192 [B 2, 2]

      »La mode est la recherche toujours vaine, souvent ridicule, parfois dangereuse, d’une beauté supérieure idéale.« Du Camp: Paris VI p 294 [B 2, 3]

      Das Motto von Balzac ist sehr geeignet, die Zeit der Holle daran zu entwickeln. Wieso nämlich diese Zeit den Tod nicht kennen will, auch die Mode sich über den Tod moquiert, wie die Beschleunigung des Verkehrs, das Tempo der Nachrichtenübermittlung, in dem die Zeitungsausgaben sich ablösen, darauf hinausgeht, alles Abbrechen, jähe Enden zu eliminieren und wie der Tod als Einschnitt mit allen Geraden des göttlichen Zeitverlaufes zusammenhängt. – Gab es in der Antike Moden? Oder hat die »Gewalt des Rahmens« sie untersagt? [B 2, 4]

      »elle était contemporaine de tout le monde« Jouhandeau: Prudence Hautechaume Paris 1927 p 129. être contemporaine de tout le monde – das ist die leidenschaftlichste und geheimste Befriedigung, die die Mode der Frau gibt. [B 2, 5]

      Gewalt der Mode über die Stadt Paris in einem Sinnbild. »Ich habe mir den Plan von Paris gekauft, abgedruckt auf einem Taschentuch.« Gutzkow: Briefe aus Paris I 〈Leipzig 1842〉 p 82 [B 2 a, 1]

      Zur medizinischen Diskussion über die Krinoline: Man meinte sie, wie den Reifrock »rechtfertigen zu können mit der angenehmen, zweckmäßigen Kühle, welche die Glieder darunter genießen … man will [also] auf Seiten der Mediciner wissen, daß jene so belobte Kühle schon Erkältungen mit sich gebracht habe, welche ein verderblich vorschnelles Ende eines Zustandes herbeiführten, den zu verhüllen der ursprüngliche Zweck der Crinoline sei.« F. Th. Vischer: Kritische Gänge Neue Folge Drittes Heft Stuttgart 1861 p 100 [Vernünftige Gedanken über die jetzige Mode] [B 2 a, 2]

      Es war »verrückt, daß die französische Mode der Revolutions- und ersten Kaiserzeit mit modern geschnittenen und genähten Kleidern das griechische Verhältnis nachahmte.« Vischer: Vernünftige Gedanken über die jetzige Mode p 99 [B 2 a, 3]

      Gestrickter Halsshawl – Cache-nez-Bajadere – in unansehnlichen Farben auch von Männern getragen. [B 2 a, 4]

      F. Th. Vischer über die Mode der weiten, übers Gelenk fallenden Ärmeln bei Männerkleidern: »Das sind nicht mehr Arme, sondern Flügelrudimente, Pinguinsflügelstümpfe, Fischflossen und die Bewegung der formlosen Anhängsel im Gang sieht einem thörichten, simpelhaften Fuchteln, Schieben, Nachjücken, Rudern gleich.« Vischer: Vernünftige Gedanken über die jetzige Mode p 111 [B 2 a, 5]

      Bedeutende politische Kritik der Mode vom bürgerlichen Standpunkt: »Als der Verfasser dieser vernünftigen Gedanken den ersten Jüngling mit dem allermodernsten Hemdkragen auf der Eisenbahn einsteigen sah, so meinte er alles Ernstes, einen Pfaffen zu sehen; denn dieser weiße Streifen läuft ja in gleicher Höhe niedrig um den Hals, wie das bekannte Collar des katholischen Clerus, und der lange Kittel war zudem schwarz. Als er den Weltmenschen neuester Mode erkannt hatte, begriff er, was auch dieser Hemdkragen heißen will: O, uns ist Alles, Alles Eins, auch die Concordate! Warum nicht? Sollen wir für Aufklärung