Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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erinnern, wie der Schmidt damals, nach dem Tod seiner Frau, aus dem Göttinger Klinikum nach Hause gekommen war, mit diesem verstörten Gesichtsausdruck und dem mutterlosen Baby im Arm, und Marianne, als Älteste der zwölf Geschwister, von heute auf morgen den Haushalt übernehmen musste. Mit siebzehn Jahren. Aber sie hielt durch, kochte und wusch und ließ sich mit unendlicher Geduld herumkommandieren, bis auch der letzte Bruder, ein halb schwachsinniger Bursche namens Theo nach Göttingen zog um Chirurg zu werden. Die Lehmann’sche tuschelte sogar, Marianne sei ihrem Vater mehr gewesen als nur eine nützliche Tochter. Jedenfalls blieb sie auch nach Theos Auszug, und als es den alten Schmidt aufs Krankenlager warf, pflegte sie ihn mit derselben Hingabe, mit der sie vorher ihre Geschwister aufgepäppelt hatte. Seit zwei Jahren nunmehr.

      Ein prächtiges Tagpfauenauge ließ sich auf ihrer Fußspitze nieder, und Emmi wippte versuchsweise mit der großen Zehe, aber der Schmetterling schloss nur vertrauensvoll die zarten Flügel und blieb hocken.

      Unser Mariannchen, pflegte Hermann früher immer ganz weich und mitleidig zu sagen, und manchmal überkam Emmi sogar heute noch der Verdacht, unser Mariannchen und ihr Hermannchen seien vielleicht doch besser miteinander bekannt gewesen, als sie damals annahm. Trotz des Schielens und der großen Plattfüße!

      Mit einem Mal richtete sie sich kerzengerade auf und nahm so abrupt die Füße vom Stuhl, dass der Schmetterling keine Zeit mehr fand, seine Flügel zu öffnen und unsanft auf den Boden purzelte. Ein kühler Windstoß verwirbelte die Troddeln des Sonnenschirms, und Emmi fröstelte. Das war nicht unser Mariannchen, die da aus der Tür des Schmidt’schen Hauses trat, um für den Alten zur Apotheke zu fahren. Zwei Männer – zwei fremde Männer – groß, kräftig und in schwarzen Anzügen, überschritten gleichzeitig die Türschwelle, und zwischen sich trugen sie etwas Braunes aus Holz. An schmiedeeisernen Griffen. Sie stapften sehr langsam und sehr vorsichtig die vier Treppenstufen zum Vorgarten hinunter, die Gesichter in würdevollem Ernst, und das Hölzerne zwischen ihnen wurde nach hinten immer länger.

      Ein Sarg!

      „Grundgütiger“, murmelte Emmi und riss angestrengt die Augen auf.

      Als die beiden Männer das offene Gartentor erreichten, erschienen in der Haustür noch einmal zwei kräftige Schwarzgekleidete, die nun ihrerseits auf den steinernen Podest hinaustraten und das Ende des Sarges an weiteren Griffen ausbalancierten. Einen Moment lang erblickte Emmi zwischen den weißen Troddeln des Sonnenschirmes und den roten Geranien in den Blumenkästen den Sarg in voller Länge. Ein schlichter lackglänzender Kasten mit gewölbtem Deckel. Schief hing er zwischen den Trägern am Tor und denen auf dem Podest, und der Schatten einer sturmzerzausten kleinen Wolke huschte über ihn hinweg.

      Der alte Schmidt! Hatte ihn seine Lungenfibrose nun doch hinweggerafft. Na endlich! Die letzten beiden Jahre mussten für die arme Marianne ja die Hölle gewesen sein. Und für ihn mit seiner Steinstaublunge und der Fibrose natürlich auch. Cor pulmonale, hatte in der Äskulapschlange gestanden. Wenn die Lunge nicht mehr richtig arbeiten kann, vergrößert sich die rechte Herzkammer, und dann ist es bald aus. Das klang beängstigend. Aber schön, dass er endlich nicht mehr leiden musste. Dazu noch dieser Ärger mit der Versicherung der Putzmittelfirma, in der er vierzig Jahre lang für die Überwachung der Scheuersandanrührung zuständig gewesen war. Sie wollte nicht zahlen und behauptete, Schmidts Kettenraucherei sei an seinem Siechtum schuld, eine Auffassung, die den Birkenpfuhl in zwei Lager teilte. Die einen wetterten über das Gaunertum der Versicherungen, die anderen, wie der bucklige Brunner, sprachen von versuchtem Versicherungsbetrug. Fest stand nur, dass sich der alte Schmidt trotz seiner Anfälle eine Zigarette zwischen die Lippen schob, sobald ihm Marianne die Sauerstoffmaske vom Gesicht nahm.

      Emmi starrte erwartungsvoll auf das verwaiste aber immer noch gähnende Türloch im Schmidt’schen Haus, während die Sargträger mit ihrer toten Last hinter dem Schuppen der roten Lola verschwanden. Wo blieb Marianne, die trauernde Hinterbliebene? Gebot es nicht der Anstand, dass sie trübseligen Gesichtes dem Sarg ihres Vaters hinterhertrottete? Oder lag sie von Trauer übermannt bäuchlings auf ihrem Bett und heulte wie ein ausgesetztes Hündchen? Dummes Gör, sie sollte doch froh sein, den alten Knauser endlich begraben zu dürfen, seit Jahren lief sie schon in denselben Kleidern herum, weil ihr der Schmidt keine zehn Euro Haushaltsgeld pro Tag bewilligte. - Na ja, vielleicht heulte sie ja auch vor Erleichterung und fürchtete, man könne ihr die Freude ansehen. Schauspielerisches Talent besaß sie sicher nicht mit ihren schielenden Dackelaugen und den Plattfüßen. Aber sollte sie sich nicht wenigstens den kondolierungsbereiten Nachbarn zeigen - wenn es denn nicht anders ging mit einem Taschentuch über dem halben Gesicht und einem hastigen Kopfschütteln, wenn man sie anzusprechen drohte. Gar nicht erscheinen, war verdächtig und gab nur Anlass zu dummem Getratsche. Lag da nicht die Vermutung allzu nah, sie risse bereits die Laken vom Sterbebett und wende die Matratze auf der Suche nach des alten Schmidts Sparbüchern, mit denen er immer geprahlt, die jedoch nie jemand gesehen hatte. Wollte sie ihren raffgierigen Geschwistern zuvorkommen?

      Wo blieb Marianne?

      Und dann schoss Emmi ein ungeheuerlicher, in ihren Augen aber nichtsdestotrotz recht naheliegender Gedanke durch den Kopf, und sie fuhr sich mit der Zunge aufgeregt über die spröden Lippen. War der Alte überhaupt an seiner Fibrose gestorben? Konnte es nicht auch sein, dass unser Mariannchen...

      Ach du meine Güte, allein die Vorstellung wie ihm das Mädel mit seinen kurzen Wurstfingern den Kehlkopf in den faltigen Truthahnhals drückte... Nein! - Oder doch? Sie lächelte. Stille Wasser waren bekanntlich tief, oder um es mit Hermanns lapidaren Worten auszudrücken: Man hat schon Pferde kotzen sehen. Und schließlich musste es ja auch nicht so brutal vor sich gegangen sein. Im Schlaf ein Kissen liebevoll aufs Gesicht gedrückt. Eine abgeklemmte Sauerstoffzuleitung. Vergessene Herztabletten. Keinem Arzt fiele es doch bei Schmidts ohnehin häufigen Erstickungsanfällen ein, Böses zu denken. Hatte nicht erst letzte Woche im Anzeiger ein Artikel gestanden, bei einem großen Prozentsatz plötzlich verstorbener Pflegebedürftiger könne ein Nachhelfen nicht ausgeschlossen werden, nur weil der Hausarzt altersbedingtes Herzversagen auf den Totenschein schreibe?

      Vielleicht hatte sie ja doch, die Marianne?

      „Man wird es wohl nie erfahren - schade“, murmelte Emmi und marschierte energisch den Gartenweg hinunter, um den Sarg nicht aus den Augen zu verlieren.

      Wo blieb Marianne?

      Die rote Lola stand im Schatten ihres maroden Schuppens und starrte ebenfalls auf die vier Männer mit dem Sarg. Einer der beiden Schwarzgekleideten, die das Fußende voraustrugen, sah sie und rief etwas Unverständliches. Die rote Lola warf lautlos lachend den Kopf zurück und winkte. Winkte einem Sargträger zu, der die Heiligkeit des Augenblickes, den Moment der Andacht angesichts des Todes mit Füßen trat, die noch warme Leiche beleidigte, indem er mit der nächstbesten Frauensperson flirtete. Schamlos!

      Emmi warf einen empörten Blick zurück zur Schmidt’schen Tür. Spätestens jetzt musste doch die Marianne erscheinen und, Trauer hin oder her, allein schon durch ihre Gegenwart diesem unheiligen Treiben ein Ende bereiten. Das war sie ihrem toten Vater und den Nachbarn nun wirklich schuldig. Das Kleingeld konnte sie ja später noch zählen.

      Keine Marianne!

      Der Leichenwagen parkte zwischen Brunners weißem Opel und dem kleinen kirschroten Fiat von der Blum. Unheilvoll schwarz, die aufgerissenen Hecktüren ein drohend geöffnetes gieriges Maul, das lange Seitenfenster gegen Gaffer von innen bis zur halben Höhe mit silberner Folie beklebt. Auf dem schwarzen Lack der Beifahrertür stand verschnörkelt und silbern: Beerdigungsunternehmen ‚Zur ewigen Ruh‘, Inh. J. Steiner.

      Emmi schauderte zusammen. Zur ewigen Ruhe! Wie endgültig das klang.

      „Da läuft jemand über mein Grab“, murmelte sie und spuckte sich dreimal über die linke Schulter.

      Das Kichern in ihrem Rücken ließ sie erschrocken herumfahren. Die vom Schrubbwasser rauen Hände der ollen Taube bogen die langen Triebe der Ligusterhecke auseinander, und das faltenlose Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den großen, von einem schwarzen Wimpernkranz gerahmten grauen Augen griente sie unter einem weißen Kopftuch an.

      „Hoffen Sie man nich’,