Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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für Halluzinationen jeglicher Art. So eine Doktorprüfung war schließlich kein Zuckerlecken, obgleich es Emmi ab und an doch in den Sinn kam, dass mit großer Wahrscheinlichkeit nicht alle überarbeiteten Doktoranden einen derart peinlichen Zusammenbruch erlebten. Und dazu noch mitten auf dem belebten Rathausplatz in Göttingen, vor den Augen ihres Professors und all der Kommilitonen. Vor den Kameras eines slowakischen Fernsehteams, das über deutsche Traditionen berichten sollte. Grundgütiger, um Haaresbreite wäre sie hingefahren, um den großen Augenblick mitzuerleben, in dem ihre Tochter, Frau Doktor phil. Christina Nichterlein, die erste Akademikerin der Nichterleins und Rieffenbachs seit Anbeginn der Zeiten, in Talar und Barett auf den Gänselieselbrunnen kletterte und der Liesel einen Blumenstrauß in den bronzenen Korb legte. Dem zuckenden M2 links unten sei Dank, dass sie stattdessen in Mirkowitz‘ Behandlungsstuhl gelandet war. Es gab eben doch noch eine höhere Macht im Himmel.

      „Alles paletti bis dahin. Aber dann ...“, sagte Christina mit einer natürlichen Begabung für Dramaturgie und stand in ihrer Schilderung noch einmal am Fuße des Brunnens. „Ich kletterte also auf den Brunnenrand und dann an der Gänseliesel hoch ...“

      Und dann kletterte sie am Telefon in aller Umständlichkeit, bis der Strauß im Korb lag und sie in Glückseligkeit - jawohl, Mutti, in Glückseligkeit - der Gänseliesel die Arme um den Hals legte und sie küsste.

      „So weit, so gut“, sagte Christina unheilvoll. „Aber dann – bäng -, da passierte es. Aus heiterem Himmel traf mich der Blitz ...“

      Wie sie da so hing am Hals der Gänseliesel, ihre warmen Lippen auf die kalten bronzenen gepresst, da habe sie ganz plötzlich gespürt, wie auch ihre Lippen zu Bronze erstarrten - an dieser Stelle hatte Emmi kurz und heftig geschnauft, doch Christina fuhr unbeirrt fort - und nach den Lippen ihr Herz und dann - o ja Mutti, sogar meine Seele. Und mit der abschließenden Feststellung, dass sie sich mit bronzenen Armen eben nicht mehr hatte halten können, plumpste sie am Telefon noch einmal in den aufspritzenden Brunnen und weinte zwei Stunden lang bronzene Tränen, bis sie die Sanitäter aus dem Wasser klaubten, auf eine Bahre schnallten und in der psychiatrischen Abteilung der Uniklinik an den Beruhigungstropf hängten.

      Ob das Mädel wohl jemals erwachsen wird?, überlegte Emmi und schüttelte resigniert den Kopf. Was dachte sie sich nur bei all ihren verrückten Unternehmungen? Nudistencamps an der Ostsee, Erlebnisurlaub in einem französischen Atomschutzbunker, ein vorübergehender Umzug in einen Jägerhochstand im Göttinger Wald und natürlich, wie ließe er sich vergessen, dieser verhängnisvolle Hinterhofguru in Bombay. Konnte ein erwachsener Mensch mit über dreißig immer noch auf der Suche nach dem tieferen Sinn seines Lebens sein, so wie sich Christina ausdrückte. Sie, Emmi, war mit dreißig schon verheiratet und zweifache Mutter gewesen, und so sollte es auch sein, Doktortitel hin oder her. Stattdessen ließ sich Christina die Tarotkarten legen, schwang das Pendel und traf sich einmal im Monat zum Tischerücken mit irgendwelchen mystischen Okkultisten. Eines Tages goss sie sicherlich noch bei Vollmond auf einem Friedhof Silberkugeln oder schwenkte eine tote schwarze Katze im Kreis.

      Was ihr fehlt ist ein Mann“, murmelte Emmi und schnitt sich am Kartoffelschälmesser. Sie hätte damals diesen Udo heiraten sollen, diesen ... diesen komischen Trottel, der offensichtlich seinen Stimmbruch verschlafen hatte. Aber immerhin war er ein reicher Trottel gewesen und mit fünfunddreißig schon Professor. Und was machte das Mädel? Sie teilte ihm aus heiterem Himmel mit, er strahle eine krankhafte Aura aus und jagte ihn damit in die Flucht! Hatte er nicht kurze Zeit später die Tochter eines Rossschlächters geheiratet?

      Draußen jaulte Dackel Dreizehn kurz aber empört, und die energische Stimme der kahlköpfigen Blum tönte grimmig: „Lass das, Anskar oder es setzt was!“

      Was wohl die olle Taube sagte, wenn sie ihr erzählte, es gebe jetzt eine waschechte Doktorin in der Familie? Und wie lange würde sie wohl brauchen, um weiterzutratschen, Christina stecke in einer Zwangsjacke in der Psychiatrie und habe Schaum vor dem Mund. Pschüchiatrie würde sie sicherlich sagen, aber verstehen täten es die Leute der Siedlung trotzdem.

      Mütterlicher Neid umwölkte ihre Stirn und ließ sie die Unterlippe vorschieben. Wie kam es eigentlich, dass sich ihre Kinder so sonderbar benahmen, während ausgerechnet die beiden der ollen Taube, Thomas und Susanne, doch fast normal waren? Die Susi hatte es fein getroffen mit ihrem Krabbenkutterkapitän oben an der Nordsee, bewohnte ein schmuckes Häuschen und vermietete teure Ferienwohnungen an krabbenhungrige Feriengäste. Sie erstarrte weder zu Bronze noch träumte sie von der Zeugung einer Fußballmannschaft. Und Thomas arbeitete als Beamter in der Koppstedter Stadtverwaltung, zwar nur auf der unteren Verwaltungsebene und bestimmt schlechter bezahlt als David, dafür streichelte er im Ehebett mit Sicherheit keinen Gummiknüppel, sondern seine Polnische, mochte sich die olle Taube auch noch so giften. Außerdem schmollte er nicht, wenn er seine Mutsch besuchte, im Gegenteil, er kam sogar freiwillig, und der Schmatz, den er ihr zur Begrüßung auf die Wange knallte, scheuchte die Vögel im ganzen Birkenpfuhl auf. Ein sonniges Kerlchen, wenn auch vielleicht etwas zu klein geraten mit seinen ein Meter fünfzig. Die Lehmann’sche sagte, sie habe ihn neulich auf der Terrasse bei seiner Mutter auf dem Schoss sitzen sehen, aber der Lehmann’schen konnte man nicht trauen, die Demenz machte ihr zu schaffen.

      Auf jeden Fall war Thomas kein Miesepeter wie David, der bereits seit seiner Geburt die Welt anschmollte. Zusammengepresste Lippen unter vorwurfsvollen Augen und einer nervös zuckenden Nasenspitze. Schon im Kinderbettchen verzog er schmollend das Gesicht, wenn sich Hermann in väterlichem Stolz über ihn beugte und mit den Ohren wackelte. Und so blieb es auch. David schmollte sich durch den Kindergarten, die Schule, den Bund, seine Ausbildungszeit und den Beruf, und dereinst würde er schmollend im Sarg liegen und vielleicht bis in alle Ewigkeit als schmollender Geist mit verschränkten Armen auf seinem Grabstein hocken.

      Koppstedt mochte in seiner siebenhundertfünfzigjährigen Stadtgeschichte auf eine stolze Reihe Süchtiger zurückblicken, einen Schmollsüchtigen wie David hatte es mit Sicherheit noch nicht gegeben, davon war Emmi überzeugt. Und wenn er an seiner Umgebung nichts mehr zu schmollen fand, dann schmollte er über seinen Namen. Emmi fühlte sich immer wieder bemüßigt, ihm zu versichern, dass David nicht ihre Idee gewesen sei - sie war natürlich für Cord oder allenfalls noch Hubertus -, sondern der Wunsch seines Vaters zum Gedenken an seinen Freund David Eisenstein, der in Treblinka umkam. Aber das wusste David natürlich längst, ebenso wie er wusste, dass eigentlich Tante Mathilde und ihr Bibelspleen die Schuld an seinem Namenshass trugen.

      „Mathilde, das Walross“, sagte Emmi versunken und angelte im heißen Wasser nach der Gabel. Ob sie wohl noch lebte, da oben in ihrem Kloster in der Schweiz? Wie hieß das doch noch gleich? Ürzi ...? Ürzel ...?

      Als David zwei oder drei war, hatte sie schon zwei Zentner gewogen, und ihre fleischigen Arme drückten alles auf ihre wuchtigen Oberschenkel, was irgendwie nach Kind aussah. Außer ihren Eigenen vor allem aber David, und er hasste Tante Mathilde mit der ganzen Inbrunst seine Kinderseele. Er würgte beinahe, wenn sie ihn zwischen ihre gewaltigen Brüste presste und all die schrecklichen Davidgeschichten aus der Bibel erzählte. Hochreligiös war sie gewesen, die Mathilde und ein Fluch für jedes Kind mit biblischem Namen. Ihre eigenen zehn wurden in alphabetischer Reihenfolge nach den Aposteln benannt, fädelten Rosenkränze auf, wie andere Kinder ihres Alters bunte Glasperlen und mussten sich ständig bekreuzigen, weil in jeder Zimmerecke ein hölzerner Jesus hing. Sogar im Bad hing einer.

      Üzlir ...?

      Emmi ging mit tropfenden Handschuhen und ärgerlich gefurchter Stirn quer durchs Zimmer und drehte die verblichene Postkarte um, die seit zehn Jahren an der Pinnwand hing. Richtig. Das Kloster Ürzlicastel der Unbeschuhten Karmelitinnen. Wenn Julia nicht bald aufhörte, Kinder in die Welt zu setzen, würde sie eines Tages auch in ein Kloster flüchten müssen.

      Jedenfalls war es Mathildens Schuld, wenn David lernte, seinen Namen zu hassen. Sie ließ keine Geschichte aus. David, der Goliath mit einer Schleuder zu Fall bringt. David, der König Saul für die Hand seiner Tochter Michal hundert Vorhäute der Philister bringen soll und zweihundert erbeutet, eine Geschichte, bei der er die Beine zusammenkniff, nachdem Hermann ihm in einem geheimen Vater-Sohn-Gespräch gewisse Verständnisfragen beantwortet hatte. David, der Wankelmütige im Dienst der Philister, David als König