Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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weiter vor sich hindösen und nur noch ab und an und mit Schrecken dem Lachen und Schreien ballspielender Kinder gedenken, den lauten Sonntagnachmittag-Familienstreits aus offenen Terrassentüren, dem wütenden Gekeif zänkischer Frauen über Hecken und Zäune hinweg und natürlich dem Hosen-runter-Terassen-Gegröle Karten spielender Männer an lauen Sommerabenden.

      Heutzutage grölte niemand mehr im Pfuhl. Diese Zeiten waren, dem Alter sei Dank, vorbei. Wer sie von den Männern erlebt und trotzdem überlebt hatte, wie Herbert Rosenstock oder der bucklige Brunner, litt mittlerweile an Magengeschwüren und Hämorrhoiden, trug Nierenwärmer und kaufte nach einem leberschonenden Diätplan ein. Selbst das Verdauungsschnäpschen blieb hohen Feiertagen vorbehalten, wenn sich der Bauch gar zu arg blähte. Der Schmidt vegetierte inzwischen als Pflegefall und röchelte nur noch, und der Rest der alten Garde lag entweder auf dem Waldfriedhof, wie Jochen Taube und Hermann, war bei Nacht und Nebel getürmt wie Kreszentia Kuhns Ehegespons oder entkam durch Scheidung wie Oskar Blum nach der Kahlkopfwerdung seiner Frau. Nur Erwin Sauerbach, seit Geburt der Mäßigung verschrieben, erfreute sich nach wie vor einer gesunden Gesichtsfarbe, färbte sein Schnurrbärtchen schwarz und teilte sich den grünen Salat mit seiner Gartenzucht rotäugiger Rassezwerghasen.

      Wie überall auf der Welt hatten sich auch im Birkenpfuhl die Frauen dem Leben gegenüber resistenter erwiesen als ihre Männer. Mit Ausnahme von Frieda Schmidt, die bei der Geburt ihres zwölften Kindes kampflos kapitulierte, und mit Ausnahme von Ruthchen Brunner, die sich, ihr Mann mochte wissen warum, eines Tages am Ribbenkopp erhängte. Alle anderen jedoch lebten noch, allerdings unter Aufgabe gewisser Teile ihres Körpers. Aber sie begnügten sich gewissermaßen damit, an Organen zu erkranken, die mehr oder weniger entbehrlich waren und sich problemlos herausschneiden ließen, wie Eierstöcke, Gebärmütter, Brüste, Nieren und etlichen Metern Gedärm, während die Männer eher aufs Ganze gingen, zu Herzinfarkten, Lungenkrebs und Leberzirrhosen neigten und gleich wegstarben.

      So gesellig wie früher würde es in der Siedlung wohl nie mehr werden, nicht einmal, wenn nach und nach junge Familien nachrückten. Zwar galten Nachbarn nach wie vor als unabwendbares Übel, zumal in so dicht gedrängten Reihenhausansammlungen wie dem Birkenpfuhl oder dem Buchenhain, aber es schien Emmi doch, als neige die Menschheit heute mehr zu einem eigenbrötlerischem Einsiedlerleben und gebe sich wenig Mühe, das unabwendbare Übel näher kennenzulernen. Man blieb für sich, stritt für sich und soff für sich. Auch die angestammten Rollen in den Familien kehrten sich offensichtlich um. Männer schoben einsam Kinderwägen durch die Straßen Koppstedts und winkten ab und an ihren Frauen zu, die auf Baugerüsten herumkletterten und Bierflaschen schwenkten. So wie die kleine Riester, die Auf den Gänsefüßen wohnte und Polier werden wollte.

      „Weichei!“, hatte Christina am Siebzigsten gehetzt, als Julia ihren Rupert mit einem wortlosen Fingerschnippen auf Klein-Friederikes volle Windel hinwies, und während David würgend aus dem Zimmer rannte und Etepete-Alice ihr spitzes Näschen rümpfte, hatte Julia böse gekontert: „Besser ein Weichei, als gar keinen Mann abzukriegen!“ Emmi konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein so dunkel violett erblühendes Gesicht gesehen zu haben wie das Ruperts in diesem Moment.

      Immerhin wechselt er die Windeln, dachte sie in einem seltenen Anfall widerwilliger Sympathie für ihren Schwiegersohn. Hermann war wie David gewesen, er rannte schon, wenn er nur glaubte, eine verdächtige Ausbeulung am Po eines seiner gewindelten Kinder zu sehen. Und damals gab es noch nicht diese praktischen Wegwerfwindeln. Nicht einmal eine Waschmaschine im Haus. Aber interessierte es ihren Mann auch nur im mindesten, ob sie die Kackwindeln gern mit der Hand auswusch? Oder bot er seine Hilfe an? Um Himmels willen, so fortschrittlich er sich auch immer zu geben trachtete, bei Kindern und Küche hörte der Spaß auf. Lass mich mit dem Unfug zufrieden, bellte er, wenn sie sich beklagte, was ja nun weiß Gott selten genug vorkam, und dann knallte er die Tür hinter sich zu und flüchtete zur roten Lola in den Schuppen, wo er mit anderen geflüchteten Ehemännern auf Fritze Woitzacks Kosten Bier und Korn soff und Karten drosch.

      Aus und vorbei. Der Schuppen stand verwaist und moderte. Ein Schandfleck für die ganze Siedlung. Der bucklige Brunner und Herbert Rosenstock strichen wohl ab und an seufzend am Woitzack‘schen Jägerzaun entlang, und selbst der sieche Schmidt zog sich noch so manches Mal an der Fensterbank neben seinem Krankenlager hoch und warf sehnsüchtige Blicke, aber die Zuflucht gab es nur noch in der Erinnerung. Der Birkenpfuhl war endgültig befriedet und wurde nun, nach jahrzehntelangem Patriarchat von einem Bataillon abgeklärter Frauen regiert, die jegliches Heraufbeschwören der guten alten Zeiten erbarmungslos über den Haufen rannten.

      Vor einem halben Jahr, da war es mal kurzfristig zu einiger Aufregung und verhaltenem Murren gekommen, als die Blum aus dem hinteren Teil der Sackgasse - dem Sack, wie Hermann immer spöttelte, dem Straßenteil jenseits der scharfen Kurve - kleinlaut verlauten ließ, ihr Enkel Anskar, neun Jahre alt, flachshaarig und sommersprossig, ziehe bei ihr ein und sei ein lebhafter, intelligenter Bursche. Seine Eltern klopften irgendwo in der Arktis mit dem Wachturm in der Hand an Iglus und missionierten Eskimos. Aber nachdem man sich überzeugen konnte, dass der Junge mangels Spielgefährten dazu verdonnert blieb, allein und verdrießlich durch die Gegend zu stromern und, abgesehen von einem gelegentlichen Jaulen von Dackel Dreizehn, weiter kein Geräusch verursachte, legte sich das Murren schnell.

      Von den Kindern der Alteingesessenen wohnte nur noch Schmidt’s Marianne im Birkenpfuhl und näherte sich mittlerweile selbst schon der Fünfzig. Sie pflegte mit nerviger Hingabe ihren bettlägerigen Vater, während ihre elf Geschwister aus sicherer Entfernung die Lage peilten und auf ihre Erbschaft warteten.

      Die Sonne stach nicht mehr ganz so arg, im Hügelland jenseits der Leine musste ein tüchtiges Gewitter die Luft abgekühlt haben. Emmi spannte den löchrigen Sonnenschirm auf und obgleich erst Freitag war, deckte sie den Kaffeetisch mit dem guten Geschirr. Blauweißes Zwiebelmuster von Seltmann-Weiden, das zusammengestückelte Hochzeitgeschenk von Hermanns weitschweifiger Verwandtschaft. Zweite Wahl! Von Mathilden stammte das weiße Porzellankruzifix mit dem blauen Jesus, der so grämlich dreinschaute.

      Als sie ins Haus ging, um das blauweiße Stövchen und die blauweiße Kaffeekanne zu holen, pustete eine Windböe die blauweiße Serviette vom Teller in den Kellerschacht, aber sie vermisste sie nicht, als sie zurückkam und die neuste Ausgabe der Äskulapschlange aufs Tischtuch klatschte. Sie setzte sich mit dem Rücken zur blendend weißen Hauswand – wie konnte David die Wand nur so weiß streichen - zog sich mit dem Fuß einen zweiten Terrassenstuhl heran und legte die Beine hoch. Gut für die Krampfadern.

      Die beiden Schweinsohren vom Bäcker Meyer aus der Kastanienallee lachten sie aus dem Brotkorb an, und sie lachte zurück. Der König in der Birkenstraße taugte nichts, er war unfreundlich und teuer, die Brötchen hohl und seine mickrigen Schweinsohren schienen eher für Mäuseköpfe gebacken.

      Emmi angelte nach der Zeitschrift und während sie vorsichtig auf der rechten Seite kaute, um den P1 nicht zu gefährden, glotzte sie vom Umschlag der Äskulapschlange ein großes, rotes und wahrhaft furchterregendes Ungeheuer an. Was um alles in der Welt war das? Und wie um alles in der Welt sollte sie eine so mikroskopisch kleine Schrift entziffern? Das Glanzpapier reflektierte die Sonnenstrahlen, die sich durch die Löcher des Schirmes bohrten, und es blendete. Erst als sie die Zeitschrift mit ausgestreckten Armen zwischen sich und die Sonne hielt, konnte Emmi die Worte entziffern. Aha - der Gemeine Holzbock im Nymphenstadium. Sie versuchte es mit dem dazugehörigen Artikel über die Frühsommer-Meningoenzephalitis, gab aber schnell wieder auf, weil ihr die Arme lahm wurden.

      Eine Armee naschsüchtiger Ameisen marschierte in langgezogener Angriffsreihe auf die offene Terrassentür zu, und Emmi streckte gedankenlos den linken Fuß aus und gab der Tür einen kräftigen Schubs. Das Schweinsohr bröckelte auf ihren leeren Schoss, und sie starrte missmutig zwischen den weißen Troddeln des blauen Sonnenschirmes und den sich im Wind wiegenden roten Geranien auf den Birnbaumtorso, als sich im hinteren Reihenhaus, jenseits des Weges, Schmidts Haustür öffnete.

      Marianne will mit dem Fahrrad zum Aldi, dachte sie und versuchte trotz der Blendung auf ihrer Armbanduhr die Zeit abzulesen. Drei Uhr? Ungewöhnlich. Sonst fuhr sie doch immer schon morgens früh um acht los, wenn der Alte noch schlief. Oder ging es ihm wieder schlechter, und sie radelte zum Doktor,