Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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Und dabei wiegte Mathilde ihren Lieblingsneffen zwischen Schenkel und Brüsten, und Klein-David bekam nasse Hosen vor Angst.

      Ob er deshalb keine eigenen Kinder haben wollte? Fürchtete er, Tante Mathilde könnte plötzlich Ürzlicastel und den Schweizer Bergen entkommen und sich seine eigenen Kinder zwischen Busen und Schenkel klemmen? Packte ihn die Angst, einen zweiten Absalom zu zeugen? Oder war seine Alice, diese Etepetete, am Ende gar unfruchtbar? Ob Raoul wohl etwas darüber in Erfahrung bringen konnte?

      Mit sechs Jahren jedenfalls saß David eines Tages tränenüberströmt in seinem Zimmer und hielt ein brennendes Streichholz an ein Kinderbuch. David das Igelkind. Und mit David dem Igelkind wären beinahe auch David, der Schmoller und die ganze Nichterlein’sche Wohnung abgebrannt. Ein Jahr später verschwanden unter mysteriösen Umständen beide Hausbibeln, was Hermann, als Weihnachts- und Osterkatholiken, lediglich ein Schulterzucken und ein breites Grinsen abrang. Tante Mathilde konnte es ohnehin nicht von ihren Geschichten abhalten, sie kannte alle auswendig.

      Die Bibeln verschwanden etwa zu der Zeit, als David in die Schule kam und entsetzt feststellen musste, dass Tante Mathildens Davidgeschichten mittlerweile ganz Koppstedt erobert hatten. Die Erstklässler erwiesen sich daher in diesem Jahr als besonders bibelfest, was den Religionslehrer, der einmal die Woche aus Göttingen anreiste, ernstlich verblüffte, und David ein Bündel packen ließ, um Tante Mathilde, den frotzelnden Mitschülern und allen anderen Philistern zu entkommen. Er schaffte es bis ins Nachbardorf Kleinheim. Dort wurde er vom Briefträger aufgegriffen und in Koppstedt wieder zugestellt.

      Hermann hatte ihm nur das Bündel aus der Hand genommen und ihn ein klein wenig gebeutelt, und Emmi begrub stillschweigend ihre Angstfantasien von durchs Leinetal ziehenden, kinderraubenden Zigeunern.

      Armer Junge. Aber wenigstens wusste er damals noch nichts von Fräulein Matthies, die in der dritten Klasse seine Musiklehrerin werden sollte. Sie lebte ja nun auch schon lange nicht mehr, die alte Matthies mit ihrem Pferdegesicht und den blauen Babyaugen. Im Krieg war sie HJ-Scharführerin gewesen, bei den Braunen Knilchen in Kreuzstadt, und nach dem Krieg verschlug es sie, warum auch immer, als Lehrerin in die Stadt. Sie unterrichtete die 3c in Musik und irgendwann in der Anfangszeit mussten ihr ein paar Davidgeschichten zu Ohren gekommen sein. Ob die biblischen oder weltlichen sei dahingestellt. Jedenfalls blieb ihr das Gemunkel in der falschen Kehle stecken, und sie trichterte der Klasse im ersten Halbjahr die israelische Nationalhymne ein: Solange im Herzen darinnen, ein jüdisches Fühlen noch taut ... Und weil es so schön war gleich noch einmal auf hebräisch: Kol od balewaw penima, nefesch jehudi homija ... Ihre kühnsten Fantasien aber gipfelten darin, David als Vorsänger mit glockenheller Stimme vor den disharmonischen Chor zu platzieren. Bis sie feststellte, dass er dem Rieffenbach’schen Familienzweig nachschlug und wie ein Rabe krächzte. Also musste er das Lehrerpult erklimmen, mit dem Gesicht zur Klasse stehen und beidhändig mit Bambusstöcken herumfuchteln.

      Hermann brüllte vor Lachen als ihm David verdattert eine Eins im Zeugnis präsentierte.

      Seine Heiterkeit hielt an, bis Fräulein Matthies eines Tages seinen Sohn in der Pause beiseite nahm und sich nach den häuslichen Ausübungen seiner Religion erkundigte. Ob seine Familie orthodox sei, mit zwei Besteckschubladen und diesen Gebetsriemen und all dem, na er wisse schon, was sie meine, und als er immer noch ratlos die Achseln zuckte, zischelte sie ihm ins Ohr, ob man ihm nicht als Baby irgendwas da unten weggeschnitten habe, was andere kleine Jungs noch hätten. Komm schon, David, sag’s dem Fräulein ...

      Hermanns Grinsen erlosch, er rasierte sich, gurgelte mit Odol, nahm David an die Hand und brüllte die Lehrerin im Lehrerzimmer vor versammeltem Kollegium zusammen. Im nächsten Halbjahr sang die Klasse die amerikanische Nationalhymne und Erwin Wegener durfte dirigieren und sich in die rachitische Brust werfen. David bekam eine vier im Zeugnis.

      Obgleich mit dieser Episode, einmal abgesehen von der Pubertät, als seine flachsenden Freunde die Vorhautgeschichte wieder aufleben ließen, sein Golgatha hinter ihm lag, flüchtete er sich mit achtzehn zum Bund und ließ sich auf zehn Jahre verpflichten. Seltsamerweise fiel es ihm nie ein, sich bei seinem zweiten Namen Rainer rufen zu lassen. David zu heißen schien ihm unabänderliches Schicksal zu sein – trotz seines Atheismus gottgewollt - und ein fester Pfeiler, wenn nicht gar das Fundament seines geliebten Schmollens.

      Und die einzige Gelegenheit, seinem Namen ein modernes Ausspracheoutfit zu verleihen, verpatzte er an seinem fünfzehnten Geburtstag. Billy, ein Alliiertenkind aus England, mit seinen Eltern gerade in die Besatzungsreihenhäuser oben am Ribbenkopp eingezogen, rief ihn Dävid. Und der unfreiwillig Anglisierte ließ es sich eine Weile gefallen, das schmale Gesicht aber wurde immer angespannter, und plötzlich fuhr er herum und brüllte Billy an: „Ich heiße Daaavid, du Hornochse.“

      So ein Dussel, dachte Emmi, schäumte mit dem Schwamm das Spülbecken ein, brauste den Schaum ab und polierte den Edelstahl mit dem karierten Geschirrtuch.

      „Meister Proper putzt so glänzend, dass man sich drin spiegeln kann“, sang sie gedankenverloren.

      Der tiefe Teller mit dem Goldrand und das gläserne Kompottschälchen kamen in den Hängeschrank über der Spüle, der Topf in den Schrank darunter, und Kelle und Löffel in die Schublade. Fertig! Ravioli mit eingemachten Stachelbeeren brauchten nicht viel Geschirr. Rouladen mit Mandelbrokkoli, Kroketten, Sahnesoße und Zitronenschaumcreme schon eher, aber als David kam, war das Geschirr, dass sie zur Vorbereitung brauchte, bereits wieder abgewaschen und während er die Stores oben im Wohnzimmer aufhängte, musste sie nur noch die Rouladen und die Brokkoli aufwärmen, die Soße anrühren und darauf warten, bis sich die Kroketten auf dem Backofenblech goldbraun färbten. Die Zitronenschaumcreme stand fix und fertig im Kühlschrank. Die geschlagene Sahne ebenfalls.

      Angesichts des festlich gedeckten Tisches – mit Platzdeckchen und Servietten und dem schäumenden Bierglas neben seinem Teller – und vor allem angesichts der großen dunklen Rouladen, deren Bratenduft jeden Winkel des Hauses durchstreifte, angesichts all dessen taute die oberste Firnis von Davids Schmollen tatsächlich an, und einmal lächelten sie sich über die Teller hinweg sogar zu. Nur seine Augen schimmerten weiterhin vorwurfsvoll.

      Mein Gott, wie hatte sie nur die Empfindlichkeit des Jungen vergessen können!

      Emmi ging kopfschüttelnd durchs Esszimmer, trat auf die Terrasse hinaus und ließ sich einen Moment lang mit geschlossenen Augen von der Julisonne aufwärmen. Immer noch huschten sturmzerzauste Wolken über den Himmel, und eine schwarz maskierte Elster humpelte mit begehrlichen Blicken und einem abgeknickten Bein beutehungrig die Erdbeerbüsche entlang.

      „Ksch!“, machte sie, und die Elster hüpfte beidbeinig und in doppelter Geschwindigkeit zurück.

      Eine schwüle Hitze lastete über der Siedlung Am Birkenpfuhl, die Sonne stach mit tausend Speeren, und die Quecksilbersäule des Außenthermometers an der Hauswand war auf 24 Grad Celsius geklettert. Durch die brütende Stille klang aus einiger Entfernung das leise Kreischen einer Motorsäge herüber, die sich offensichtlich durch einen vom Sturm gefällten Baumstamm fraß. Wie es jetzt wohl oben am Ribbenkopp und in den Kleingärten unterhalb des Waldes aussah? Wenn sie morgen Hermann begoss, könnte sie eigentlich gleich vorbeifahren und in den Gärten nach dem rechten sehen. Sie verzog unwillig das Gesicht und klammerte das Geschirrtuch an die Wäscheleine zwischen Hauswand und Birnbaumtorso.

      Wieso der Junge aber auch immer noch, mit fünfzig Jahren und bei seinem Beruf, so empfindlich reagierte? Natürlich passten Rouladen und BSE nicht zusammen, aber wenn David sich nicht gleich wieder so überheblich und besserwisserisch über die übertriebene Berichterstattung der Medien geäußert hätte, dann wäre es ihr doch nie in den Sinn gekommen, ihm in allen Einzelheiten zu schildern, wie das gewesen war im Fernsehen mit den hilflos herumtorkelnden Rindern, die schon auf den Weiden geschlachtet und noch zuckend mit großen Bulldozern zusammengebaggert wurden. Und wenn Alice, diese Etepetete mit ihrer Angst vor Elektrosmog – und das, obgleich sie wie ein Schlot rauchte - einen Fernseher im Haus duldete ... Aber so konnte der Junge ja gar nichts darüber wissen.

      Sie seufzte und trampelte halbherzig mit den Füßen auf der Stelle, um die Elster endgültig zu vertreiben. Die drehte sich gelassen um und sah sie vorwurfsvoll an, während das