Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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David. Wie gehetzt er plötzlich ausgesehen hatte, als sie ihm schilderte, wie im Schlachthof den Rindern die Köpfe abgetrennt wurden, damit die Veterinäre das BSE aus den Hirnen extrahieren konnten. Er bekam denselben gehetzten Ausdruck in die Augen wie seinerzeit Hermann, wenn er eine Schnecke im grünen Salat oder einen Wurm im Matjes fand.

      Die Rieffenbachs sind härter im Nehmen als die Nichterleins, dachte sie zufrieden.

      Und von BSE und den abgeschlagenen Rinderköpfen zu Hermann und dem Problem mit den sogenannten Wachsleichen zu kommen, die nicht verwesten, schien ihr auch im Nachhinein noch logisch. Vielleicht etwas gedankenlos, weil es doch um Davids Vater ging, aber immerhin lag er nun schon seit fünfzehn Jahren auf dem Waldfriedhof und wenn man nicht einmal mehr dem eigenen Sohn sagen durfte, was einem so durch den Kopf ging ...

      Unsinn, murmelte David natürlich wieder, alle Leichen verwesen. Was blieb ihr da anderes übrig, als ihn zu widerlegen, von dem Stauwasserhorizont über den Lehmschichten zu erzählen, in denen manche Särge verbuddelt wurden, und richtig blass wurde er auch erst, als sie ihm erklärte, Regenwürmer und Käfer befänden sich nur in den oberen dreißig Zentimetern des Bodens und kämen folglich gar nicht erst in den Genuss der Leiche, und dass die Larven der Maden in den tieferen Bodenschichten, die eigentlich die Verwesung vorantrieben, in den Verstorbenen nicht schlüpfen könnten, weil die Kälte des Stauwassers einfach keine Schlüpftemperatur aufkommen lasse. Und dass sich durch seltsame chemische Reaktionen in dieser Stauwasseratmosphäre die Haut der Leichen in eine Art Wachs umwandle, was sie auf Jahrzehnte hinaus konserviere.

      David hatte auf seine halbe Roulade gestarrt, die tot und still auf dem Teller lag und nur innen noch etwas rosig schimmerte, und das mechanische Mahlen seiner Kiefer – Hermann musste auch immer so langsam und ordentlich seine Bissen zwischen den kräftigen Zähnen zermahlen – war noch langsamer geworden und schließlich ebenfalls erstorben. Sie gab ja zu, einen unglücklichen Zeitpunkt gewählt zu haben, aber im Eifer des Gefechtes rutschte ihr doch auch nur die Frage heraus, ob David glaube, bei Hermann seien die Maden geschlüpft oder ob er jetzt wohl so aussehe wie der Ötzi aus dem Alpengletscher. Und während sie ihre Zitronencreme löffelte, hörte sie David im Badezimmer würgen. Er fuhr noch vor der nachmittäglichen Käsesahnetorte ab.

      Emmi schloss die Terrassentür, stapfte schwerfällig die Treppe ins Wohnzimmer hinauf zu einem ihrer eher seltenen Mittagsschläfchen, weil sie und ihr Prolaps an den meisten Tagen das Hochkommen aus den weichen Polstern mehr fürchteten als einen durchgähnten Nachmittag. Oben hielt sie das Pendel der wuchtigen Standuhr an, ein Geschenk von David und Alice zum Siebzigsten.

      „Grässlich“, hatte sie geschockt über die Lippen gebracht und schnell hinzugefügt. „Grässlich, teuer, meine ich!“ Später stellte sie fest, dass auf der Rückwand der Uhr ein Schild klebte. Made in Thailand und auf dem Garantieschein stand Mängelexemplar, kein Umtausch. Von Christina stammte die neue Badematte im Keller und eine aus Kupferdraht gebastelte Wünschelrute, von Julia und Rupert ein Korb mit Schrumpelobst, Käse, Eingemachtem und selbst gekeltertem sauren Wein. Und die Enkel hatten den armen Goldfisch geschenkt, der bei der Wohnzimmerrauferei unter die Füße geriet. Der Siebzigste Geburtstag!

      Tempi passati, dachte Emmi erleichtert und in Gedenken an ihren Volkshochschulkurs Lateinische Redewendungen für den Hausgebrauch, zog die braune flauschige Decke über die Beine, drehte sich mit dem Gesicht zur Rückenlehne des Sofas und stöhnte wohlig in Morpheus Armen. Ein Martinshorn jaulte durch ihren Traum als sie Hermann die ausgeblichenen Rosenblätter aus Rilkes Cornet auf die tote Brust streute. Seine spitze Nase schob sich unter dem Laken hervor, und zahnlos mümmelte er: Rosen, Tulpen, Nelken bricht, aber unsre Liebe nicht!

      4.

      Eine gute Stunde später holte sie ein stakkatohaftes Keuchen von der Woitzack‘schen Seite der dünnen Wohnzimmerwand aus der Traumwelt zurück, und sie verzog angewidert das Gesicht. Die rote Lola! Früher hatten die Männer der Siedlung ihr ausschweifendes Liebesleben bestimmt. Die Heimlichen, die sich schwarzgekleidet im Dunkeln durch den Keller des Eckhauses schlichen und die Dreisteren, die nur etwas von Skatspielen im Schuppen murmelten und ungeniert hinüberschlenderten. Aber das war eben früher gewesen. Heute hatte die schier unersättliche Lust der roten Lola die Gelüste der wenigen, die aus ihrer Generation noch im Birkenpfuhl lebten, längst überholt, und die Leidenschaft der alten Recken ließ sich auch durch die Rotfärbung von Lolas grauen Locken nicht wieder anfachen. Sie musste selbst Hand anlegen.

      Das Keuchen brach plötzlich ab. Noch ein lustvoller Seufzer. Dann nichts mehr.

      Schamlose Person!

      Emmi Nichterlein lupfte die Decke, richtete sich mit schmerzendem Rücken vorsichtig auf und streckte die steifen Gelenke. Degenerative Erscheinungen, behauptete der Kühne, dieser Dämlack, natürlich wieder. Die Knochen werden eben im Alter umgebaut, Frau Nichterlein, und mitunter geht es dabei etwas schmerzhaft zu. Sehen Sie zu, dass sie nicht noch dicker werde. Noch dicker! Unverschämter Kerl. Was konnte sie denn dafür, wenn mit einem rückwärts gerichtetem Wachstum der Körper auch automatisch in die Breite ging. Und 65 kg bei einer Größe von 1,64 waren beileibe nicht zu dick. Griffig, hätte Hermann wahrscheinlich gesagt. Oder üppig. Aber nicht dick.

      Und eine simple Arthrose? Einfach lachhaft! Wahrscheinlich Arthritis, vielleicht sogar Polyarteriitis. Die Äskulapschlange schrieb bereits seit über einem halben Jahr an einer Serie über Gelenkerkrankungen und Bindegewebsschwächen, und den Symptomen nach litt sie zweifelsfrei an einer schweren Arthritis. Oder Polyarteriitis. Außerdem machte ihr das Rheuma zeitweise zu schaffen. Und das würde sie dem Kühne am Montagmorgen schon nachdrücklich verklickern, um elf bei ihrem Termin. Sie hatte noch das ganze Wochenende Zeit, sich all ihre Symptome aufzuschreiben, damit es ihr nicht so wie beim letzten Mal ging, als in der Praxis plötzlich der Alzheimer zuschlug, und der Kühne ungeduldig mit der Zunge schnalzte, während sie mühsam ihr Gedächtnis durchforstete und schließlich verzweifelt murmelte, es sei ja nicht nur der Rücken, sondern meistens auch der Kopf, manchmal die Beine, und mitunter fiele ihr vor Schwäche sogar die Pfanne aus den Händen. Gott, wie peinlich!

      Aber diesmal würde sie ihm keine Gelegenheit geben, hinter ihrem Rücken die Augen zu verdrehen, um der netten Sprechstundenhilfe zu imponieren. O nein, diesmal nicht. Sobald er anfing, sie an das EKG anzuschließen, würde sie ihm ruhig aber bestimmt die ganze Liste vorlesen. Einschließlich der winterlichen Gicht in den Fingern. Bei Alzheimer half nur die Zetteltherapie. Mit steifen Arthritisknien stapfte sie die Treppe hinunter, die gichtigen Finger um das Geländer gekrallt.

      Während der Kaffee durch die Maschine gurgelte, öffnete Emmi die Terrassentür und blinzelte ins helle Licht. Ein bisschen besser war das mit dem Blenden ja geworden, nach der dritten Operation vor knapp einem Jahr im Klinikum Göttingen, als die alte neue Linse wegen Materialermüdung gegen ein Nachfolgemodell ausgetauscht wurde. Allerdings musste es ein montagsmodell gewesen sein, denn seit dem Austausch nahm die Sehkraft auf dem Auge merklich ab. Man kann nicht alles haben, Frau Nichterlein, hatte der Hansemann phlegmatisch gemurmelt, als sie sich beschwerte. Seien Sie dankbar, dass Sie überhaupt noch was sehen.

      In zehn Jahren bin ich blind, dachte sie, eine alte blinde Frau, die in Windeln durchs Pflegeheim kraucht und vergessen hat, wie sie heißt.

      Sie atmete tief durch und beschirmte die Augen mit der Hand.

      Schön war er, der Garten, wenn die Sonne durch die Wolkenlücken schien. Bunt getupft das Steinbeet unter dem blauen Sommerhimmelloch, sattgrüner Rasen rund um den Apfelbaumtorso und im Vordergrund die im Wind wippenden roten Geranienblüten in den langen grünen Blumenkästen auf dem Mäuerchen zwischen Terrasse und Garten. Selbst die Weinranken am Holzgitter zur Woitzack’schen Terrasse entwickelten sich prächtig und sahen längst nicht mehr so mickrig aus wie noch im letzten Jahr.

      Eine wohltuende Ruhe lag über der Siedlung. Die Autos dösten antriebslos am Straßenrand der Sackgasse, ihre Besitzer dösten in nachmittäglicher Schlaffheit hinter zugezogenen Gardinen, aus dem offenen Wohnzimmerfenster von Sauerbachs im Eckhaus neben der Großen Wiese dudelte ganz leise ein Radio, und Emmi lächelte zufrieden. Die Menschheit