Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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erst letzte Woche an einem Blasenkatarrh gestorben war?

      „Dreiundzwanzig Euro und neunzig!“, murmelte Emmi entrüstet und humpelte die Kellertreppe hinunter, eine Hand auf dem zweiten und dritten Wirbel der Lendenwirbelsäule - ihrem Prolaps.

      Die Turmuhr der Apostel-Paulus-Kirche schlug zwölf. Zeit fürs Mittagessen.

      Im Nachbargarten schrubbte die olle Taube den Gartenweg.

      Ich muss Hermann gießen, dachte Emmi. Aber nicht heute. Sonst lauf ich auf dem Friedhof noch der Ollen in die Arme.

      3.

      Ravioli aus der Dose und eingemachte Stachelbeeren als Kompott.

      Wie lange war es eigentlich her, dass sie ein vollständiges Essen gekocht hatte – mit Fleisch, frischem Gemüse und Kartoffeln? Letzen Sonntag? Nein, da gab’s Tiefkühlpizza mit Eiscreme. Und davor ...? - Richtig, zu Davids Ehren vor fünf Wochen, Ende Mai. Er kam, um ihr oben im Wohnzimmer die neuen Stores, beige mit Schmuckborte, aufzuhängen, oder besser gesagt hatte er kommen müssen, weil sie ihn nachdrücklich herzitierte. Mein Gott, wie die Zeit verging und wie er wieder schmollte, ihr Ältester. David der Rührmichnichtan mit seinen braunen vorwurfsvollen Augen. War das nötig?, fragten sie in stummer Verzweiflung. Musstest du ausgerechnet mich anrufen? Und ausgerechnet an diesem Wochenende?

      „David gramt mal wieder mit der Welt“, pflegte Hermann immer zu sagen, wenn er seinen Sohn schmollend in der Ecke fand. Keines seiner Kinder beherrschte das wortlose Schmollen so meisterlich nuancenreich wie David. Jeder Widrigkeit des Lebens wurde ein ganz spezifisches Schmollen entgegengesetzt, und auf einer Intensitätsskala von eins bis hundert stand ein erzwungener Besuch in Koppstedt bei neunundneunzig.

      Aber war es nicht ihr gutes Recht, ihn herzuzitieren, nach der Geschichte mit dem Schuhschrank vor fünf Jahren und zwei Monaten, diesem knackenden Trauma in ihrem Rücken? Sollte sie etwa selbst die Leiter aus dem Keller schleppen, die Arme hoch über den Kopf recken und das Gewicht der schweren Stores ausbalancieren?

      Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Allein bei der Vorstellung kreischte ihr Rücken gemartert auf, die Schultergelenke wimmerten, die Arme fielen kraftlos an den Seiten herab, der hölzerne Rührlöffel plumpste zu Boden, und die Tomatensoße der Ravioli spritzte an ihre Beine und den Herd.

      „Ich sag’s ja!“, sagte Emmi.

      In der nächsten Woche würde sie David eine Kopie des Prolaps-Artikels aus der Äskulapschlange schicken: Motorische Ausfallerscheinungen infolge eines Bandscheibenschadens. Prolaps! Selbst Schäden im unteren Lendenwirbelbereich verursachen mitunter indefinite Schulter-Hals-Syndrome mit eingeschränkter Beweglichkeit der Extremitäten. Sollte er es doch selbst nachlesen.

      Nicht einmal über seine ausstehende Beförderung hatte er reden wollen, ihr schmollender Herr Sohn. Er strafte sie mit der Kargheit seiner zäh über die Lippen tropfenden Worte. Ja und nein und bitte und danke. Und nein danke, o Wunder, als sie ihm die teuren Pralinen anbot, für die sie extra seinetwegen mit dem Bus in die Stadt gefahren war. Er verweigerte sich, obgleich seine Augen einen Moment lang ganz begierig aufflackerten.

      Emmi kaute die Ravioli auf der rechten Seite. Wegen des Wackelzahns links unten, dem P1, wie Doktor Mirkowitz beim letzten Mal seiner Sprechstundenhilfe ansagte. In dem kleinen anatomischen Atlas, dem Werbegeschenk eines hausierenden Buchringvertreters, hatte sie daraufhin das Gebiss nachgeschlagen. P1 heiß erster Prämolar, erster Backenzahn, und als sie zwei Wochen später den Mirkowitz so ganz nebenbei aufforderte, sich doch auch mal den aufmüpfigen M2 unten rechts anzusehen, da blickte er nur belustigt auf, und sein hämisches Hä? brachte sie in arge Versuchung, kräftig zuzubeißen, als seine langen beweglichen Finger in ihrem aufgerissenen Mund herumfuhrwerkten. Jedenfalls musste sie wegen des renitenten P1 augenblicklich rechts kauen.

      David bleckte bei der Geschichte nur stumm und kariös die Zähne, dieser Feigling, und wurde bei der Schilderung der Wurzelbehandlung des M2 noch blasser als gewöhnlich. Wenn der Junge seine Zahnarztphobie nicht bald überwand, bekam er noch lange vor ihr ein Vollgebiss. Außerdem lutschte er Pfefferminzpastillen wegen des Mundgeruchs. Dass seine Alice da nicht meckerte, obgleich sie doch sonst in allem so etepetete war!

      Sie seufzte, und ein Nudeleckchen fiel ihr aus dem Mund.

      David und sein stummer Widerstand. Dabei dauerte das Aufhängen der Stores nicht einmal zwei Stunden, und die Fahrt von Frankfurt nach Koppstedt, meine Güte, mit seinem neuen großen BMW, schwarz wie ein Leichenwagen, ging das doch ruckzuck. Bis Göttingen die Autobahn und dann nur noch ein knappes Stündchen über die Landstraße. So viel Aufheben um nichts.

      Ich hätte sie länger auf dem Feuer lassen sollen, dachte sie ärgerlich und verfolgte die letzte Ravioli quer über den Teller. Die Füllung war nicht einmal lauwarm. Wie immer! Welch boshaftes Teufelchen rieb ihr da eigentlich ständig ihre eigene Blödheit unter die Nase? Das Alzheimersche? Oder lag es doch eher an ihrer zunehmenden Trägheit alltäglichen Dingen gegenüber? Bettwäschewechsel nur noch, wenn sie eine leichte Muffigkeit aus den Kissen schreckte, Saugen erst, wenn sich die Krümel hart in die Fußsohle bohrten und die Ravioli eben gedankenlos von der Herdplatte nehmen, sobald die Tomatensoße die erste Blase schlug. Es war niemand da, der protestierte, und ihr eigener Protest verscholl zwischen Gedanke und Ausführung.

      „Alzheimer“, sagte sie laut, schrieb Ravioli länger im Topf lassen auf einen Zettel - mit drei Ausrufezeichen - und pinnte ihn mit einer Reißzwecke an die kleine aufgehängte Korkwand neben der Terrassentür. Gleich über den ausgeschnittenen Cartoon aus dem Anzeiger für‘s Koppstedter Land, der Gast und Kellner in einer Bilderfolge zeigte: „Was haben Sie heute als Menü? – „Der Herr Professor haben das Menü ja gerade gegessen!“ - „Gut. Dann möchte ich zahlen.“ – „Der Herr Professor haben soeben bezahlt!“ - „Hm – bin ich gegangen?“

      Alzheimer!

      „Ach verdammt noch mal“, hatte David unwirsch gemurmelt und wütend die Stores gebeutelt, als sie ihn harmlos fragte, ob nach der Gesundheitsreform die Kassen eigentlich noch die Kosten für Pflegeheimpatienten übernahmen oder ob man hilflose Alte jetzt einfach einschläferte.

      Dieser dumme Junge. Wäre er nicht erst am Sonntag, sondern schon ein oder zwei Tage früher gekommen und sich von ihr vernünftig bekochen lassen, seine Alice brachte mit ihrem Schlankheitswahn bestimmt nur labbrige Salate auf den Tisch, dann hätte ihn sein stummer Vorwurf nicht selbst so hart getroffen. Und vielleicht wäre es ihm erspart geblieben, sich in seiner Ungeduld in den Stores zu verheddern und die eine Seite der Gardinenstange aus der Wand zu reißen. So rieselte Putz aus dem Loch in der Wand, David fluchte lauthals, und sie rührte Moltofill an.

      „Warum konntest du nicht Julia oder Christina kommen lassen?“ So lautete sein erster Mehrwortsatz an diesem Tag.

      Emmi lächelte grimmig.

      Er war einfach an der Reihe gewesen. Immer klagte er über die große Entfernung und seinen ermüdenden Schichtdienst und glaubte, sich so einfach freikaufen zu können. Und wenn der Berg nicht zum Propheten kam, dann musste der Prophet eben Gewalt anwenden. O ja, sie wusste nur zu gut, dass keines ihrer Kinder gern nach Koppstedt kam und sie daher jedes Jahr wieder einen Rotationsplan zur rationellen Mutterbetreuung in Verknüpfung eigener Interessen aufstellten. Besuche so häufig wie nötig, aber so selten wie möglich. Seit gut einem halben Jahr wusste sie von diesen Plänen und auch, wer wann an der Reihe war. Raoul, Julias Ältester, hatte sie eines Tages angerufen und gesagt: „Oma, für einen Fünfziger erzähl ich Dir was!“ Seit damals verband sie mit ihrem Enkel ein geschäftliches Abkommen. Der Junge wollte Rennfahrer werden und übte sich auf einer Gokartbahn, was bedeutete, dass er ständig in Geldsorgen schwebte und auf gutwillige Sponsoren angewiesen war. Natürlich waren seine Zukunftspläne altersgemäß kindisch, schließlich lag sein dreizehnter Geburtstag erst ein paar Wochen zurück, und wahrscheinlich würde er nie Rennfahrer werden, aber, und so viel stand fest, auch kein perspektivloser Schlappschwanz wie sein Papa. Der Junge besaß Mumm, Unternehmungsgeist und das notwendige Maß an Skrupellosigkeit, um in der Geschäftswelt zu überleben, und