Medusas Ende. Elisa Scheer

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Название Medusas Ende
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562607



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Bücherei zu schleppen.

      Eigentlich sollte ich ja putzen und die beiden Exen korrigieren, und das zügig, ermahnte ich mich, aber ich war absolut unfähig, damit anzufangen. Stattdessen starrte ich leer vor mich hin, bis ich mich doch endlich wieder ermannte. Vielleicht einen kleinen Spaziergang, um mir anzuschauen, wie die reicheren neunzig Prozent der Leisenberger so wohnten? Und auf dem Rückweg ein paar Schmöker, am besten von der So-machte-ich-meinen-blöden-Exlover-fertig-Sorte. Die Bücherei war auf diesem Gebiet recht gut sortiert, was Rückschlüsse auf das Privatleben der beiden Bibliothekarinnen zuließ. Und vielleicht irgendeinen Leb-Glücklich-Ratgeber und ein paar Krimis...

      Ich zog den Anorak wieder an, steckte Geldbeutel und Schlüssel in die ausgeleerte Jutetasche und machte mich auf den Weg. Draußen war es windig und anfallsweise sonnig, dann wieder dicht bewölkt. Ein dramatischer Himmel, die Wolken jagten nur so von West nach Ost, und der Lichtwechsel verlieh Selling stellenweise einen richtig unheimlichen Charakter, speziell an der Alten Fabrik, in der jetzt eine Art Event-Halle untergebracht war. Aber wie in diesem Moment die Sonne auf den verrußten alten Schornstein schien und ihn schwefelgelb aufleuchten ließ vor dem dunkelgrauen Himmel: toll!

      Meine Laune hob sich wieder, und ich beschloss, mir öfter solche – kostenlosen – Eindrücke zu gönnen. In der Kölner Straße entdeckte ich einen neuen Laden, der Sonderangebote in Asianudeln führte. Wider besseres Wissen holte ich mir drei Päckchen mit Entengeschmack, obwohl ich das Zeug doch kannte und wusste, dass es kaum nach Ente schmeckte, sondern mehr oder weniger nach nichts, höchstens nach undefinierbarer Brühe. Trotzdem, drei Mahlzeiten für den Wasserkocher!

      Von der Kölner Straße führte eine neue Seitenstraße weg, quer durch die Rheinlandsiedlung, die in den letzten Monaten fertig geworden war. Schicke Wohnungen nach dem, was die Bautafeln zeigten. Zwei oder drei Zimmer – auf die Dauer wäre das nicht schlecht. In fünf Jahren vielleicht, aber die Kaufpreise waren für mich unerschwinglich.

      Sogar wenn ich fünf Jahre lang so weiter lebte wie bisher, hätte ich dann höchstens – hm – fünf mal zwölf mal dreihundert... – achtzehntausend Euro. Klasse, das war kein Eigenkapital, das war ein Witz. Da musste schon ein neuer Börsenboom her! Und in zehn Jahren? Sechsunddreißig... na gut, vierzig mit etwas Renditeglück. Immer noch höchstens zwanzig Prozent. Ich seufzte und fand mich damit ab, dass es bei mir zu einer Eigentumswohnung nie reichen würde. Höchstens, wenn ich mir so ein Winzappartement wie meine jetzige Wohnung kaufen würde, die musste für unter hundert hergehen, glaubte ich. Aber mein Leben lang in so einer Schuhschachtel? Deprimierender Gedanke!

      Natürlich, wenn ich mich mit einem Mann zusammentäte... ja, und dann ginge mein bisschen Kapital noch für seine Eigentumswohnung drauf und ich war die Blöde! Ich hatte genug einschlägige Romane gelesen, um zu wissen, wie so etwas lief.

      Aus eigener Erfahrung wusste ich es nicht. Meine paar Freunde bisher hatten zwar auch nichts gehabt, aber sie hatten eigentlich nie versucht, mich abzuzocken. Höchstens arbeitstechnisch: Das kannst du doch gleich mitwaschen. Ansonsten hatten wir die Pleite gelebt, jahrelang, und mit irgendwelchen Idiotenjobs – Briefe sortieren, Hunde ausführen, Semmeln oder Obst verkaufen, Keller entrümpeln, Werbesendungen kuvertieren – notdürftig den Kopf über Wasser gehalten. Manchmal hatte ich mir ausgemalt, eine reiche Verwandte – natürlich väterlicherseits – würde mir ein Vermögen vererben, aber dann war mir eingefallen, dass meine Mutter garantiert Anspruch darauf erheben würde, weil man sie ja gezwungen hatte, mich achtzehn Jahre lang zu ernähren. Der Rechtsstreit hätte mich wahrscheinlich noch den letzten Pfennig gekostet! Gut, dass mein Vater dem Vernehmen nach gar keine Verwandten mehr gehabt hatte. Ganz sicher wusste ich das zwar nicht, aber was sollte ich tun? Eine Anzeige schalten Ist jemand mit Roland Prinz (1954-1975) verwandt? Da würde sich doch jeder Trottel melden, der glaubte, etwas abstauben zu können! Und was hatte ich schon davon, wenn ich ein paar Verwandte ausgrub? Meine Mutter war meine einzige Verwandte, und sie animierte nicht dazu, nach weiteren Exemplaren zu suchen.

      Nein, ich wollte meine Ruhe haben.

      Aber wozu eigentlich? Um ziellos durch Selling zu schlendern, das welke Laub mit den Füßen aufzuwirbeln und nicht zu wissen, warum ich so diffus unzufrieden war, obwohl es mir heute deutlich besser ging als noch zu Wochenanfang? Vermisste ich meine Notlage vom Montag? Als ich noch wusste, warum ich mir leidtun konnte? Als ich wirklich noch das arme Waisenkind war? Ich war wirklich albern! „Reiß dich zusammen!“, ermahnte ich mich und schritt etwas zügiger aus. Sollten beim Walking nicht auch irgendwelche Endorphine oder so ähnlich freigesetzt werden? Offenbar war ich dafür nicht zügig genug unterwegs, jedenfalls stellte sich die geforderte gute Laune fürs erste nicht ein.

      Ich beschloss, den Weg abzukürzen und gleich in die Bibliothek zu gehen und mir allerlei Kitsch auszuleihen. Und dann würde ich ein bisschen putzen, das erste Ex wenigstens halb durchsehen und mir dann mit irgendeinem Schmachtfetzen und der Mandelschokolade einen schönen Abend machen. Genau, das war überhaupt das Allerbeste – und hatte ich es mir nicht verdient? Dieser Entschluss hob meine Laune nun doch etwas, und als ich in der Bibliothek einen ordentlichen Stapel zum Ausleihschalter trug, der dem volksbildenden Charakter dieser Büchereien keine besondere Ehre machte, freute ich mich schon richtig aufs Schmökern.

       2

       Mo, 03.11.2003

      Ich hatte mich prima erholt, zog ich am Montagmorgen nach den Ferien Bilanz. Meine bescheidene Habe war aufgeräumt und geputzt, die Exen waren korrigiert, die Noten ausgerechnet, der Unterricht für die nächste Zeit vorbereitet, mein Depot stand auf 302 Euro und einigen Cent, also hatte ich schon über zwei Euro erspekuliert, ich hatte alle Schmöker ausgelesen und mir schon wieder Nachschub geholt und mir alle negativen Gedanken energisch verboten.

      Verena war knackbraun, aber die Bräune hatte einen grünlichen Unterton, und sie erzählte, dass sie seit vier Tagen an Montezumas Rache litt. Nadja trug eine Jacke aus einem silbernen nylonartigen Material und erzählte, das sei jetzt in London der allerletzte Schrei, im Übrigen sei die Stadt irrsinnig aufregend und irrsinnig teuer. Und was ich denn so gemacht hätte?

      Ich berichtete wahrheitsgemäß von meiner gemütlichen Woche, und beide seufzten neidisch. „Total stressfrei, was? Und billig. Eigentlich hast du völlig Recht gehabt. Ich bin jedenfalls überhaupt nicht erholt. Der Flieger ist gestern um sieben hier angekommen, und der Jetlag bringt mich noch um“, stöhnte Verena.

      „Und was in London so hip ist, kann man hier ja doch nicht anziehen“, murrte Nadja und zupfte an ihrem Spacegirl-Outfit herum, das ihr offenbar peinlich zu werden begann. Verena horchte in sich hinein, wurde noch einen Schein grünlicher und verließ das Lehrerzimmer eiligst.

      Die Bernrieder kam vorbei und warf uns einen giftigen Blick zu. „Guten Morgen“, grüßte ich höflich, eingedenk meiner guten Vorsätze, nicht zuerst zuzubeißen. „Was soll an diesem Morgen schon gut sein?“, blaffte sie mich an.

      „Weil keine Ferien mehr sind, meinen Sie? Ach ja“, seufzte ich mitfühlend, was mir von Nadja einen ungläubigen Blick eintrug.

      „Unsinn!“, wurde ich sofort zurechtgewiesen. „Das ist doch mal wieder typisch für diese faule junge Generation. Immer das Gejammer wegen der Arbeitsüberlastung! Und sicher haben Sie sich in den Ferien auch nicht sinnvoll weiter gebildet, obwohl das gerade Ihnen nichts geschadet hätte.“

      „Wie meinen Sie das?“, erkundigte ich mich, meine guten Vorsätze langsam vergessend. Sie schnaubte verächtlich. „Kommt direkt vom Seminar, hat von nichts eine Ahnung und glaubt, wenn es sich die Haare rot färbt, kann es sich bei den Schülern anbiedern und muss nichts von ihnen fordern.“

      Das war so blöde, dass ich nur noch staunen konnte. „Was soll denn der Quatsch? Ich färbe mir doch die Haare nicht! Und bei den Schülern anbiedern muss ich mich auch nicht. Ich bringe ihnen einfach was bei. Das mögen die.“ Gut, das war gemein, aber sie hatte es provoziert. Und natürlich wich sie der eigentlichen Streitfrage aus: „Dieses ordinäre Rot soll echt sein? Da lachen ja die Hühner!“

      „Dann lachen Sie doch!“, fuhr Nadja sie an und packte mich