Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

Читать онлайн.
Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



Скачать книгу

einen toten Hasen in der Küche ablieferte.

      „Weil sie gut schmecken!“ lachte Janz und drehte einen neuen Hedepfropfen.

      „Ich werde ihn nicht essen“, erklärte der Junge nachdenklich, „– und auch keine Hasen schießen, wenn ich groß bin!“

      „Und doch wirst du es tun“, meinte Janz und stieß den Pfropfen in den Lauf. „Ein Jungherr geht auf die Jagd, und ein Jungherr schießt Hasen!“

      „Und du?“ fragte Aurel.

      „Ich bin kein Jungherr!“ lachte Janz. „Ich putz’ nur die Flinte!“

      „Was ist ein Jungherr?“ erkundigte sich Aurel.

      „Das bist du!“ sagte Janz und preßte den Putzstock immer tiefer in den Lauf hinein.

      Wieder war die Glaswand da, diese unsichtbare Mauer, die ihn von Janz, von Mickel, von Indrik und sogar vom alten Marz trennte. Alle diese Leute sagten zum Vater: „Großherr“, zur Mutter: „Großfrau“ und zu ihm und zu den Brüdern: „Jungherr“. Es war wie ein Zauberwort, mit dem sie Vater, Mutter und Brüder in einen gläsernen Berg bannten. Und nun sollte auch er dort eingeschlossen werden.

      „Ich bin kein Jungherr, und ich werden den Hasen nicht essen!“ Aurel stapfte mit dem Fuß und lief zur Backstube hinaus in das Anrichtezimmer. Hier trockneten die schwarze Tina und Karlin Geschirr.

      „Was hat nur der kleine Jungherr?“ fragte die schwarze Tina und wollte ihn an sich ziehen. Aber er riß sich wütend los und stürmte weiter. Jetzt kam er an der dunklen Vorratskammer vorbei, die Tür stand offen, er hörte Karlomchen rascheln und kramen. Es roch nach getrockneten Äpfeln, Pflaumen, Rosinen und Korinthen, nach Honigwaben, Kaneel und Safran.

      Der Junge konnte nicht widerstehen: er ging in die Vorratskammer. Geduldig wartete er, bis Karlomchen mit dem Kramen fertig war. Wie klein war jetzt ihr Buckel geworden, viel kleiner als in der Nacht – ob wirklich Flügel darin versteckt sind, mit denen Karlomchen heimlich fliegen kann, wie Mila behauptet? Aber gesehen hatte er es noch nicht. Wenn es auch merkwürdig war, daß Karlomchen überall gleichzeitig sein konnte: beim Wäschezählen, beim Zuckerhacken, in der Apfelkammer, in der Schafferei, beim Einmotten vor der großen Pelzkiste oder auf der Veranda beim Erbsenbulstern. Karlomchen war überall und immer im Trab, so daß der große Schlüsselbund klirrte. Selbst nachts huschte sie mit der blauen Öllampe durch die Zimmer. Vielleicht flog sie dann?

      Aber jetzt schob sie endlich das große Schubfach dort oben ein wenig auf, griff hinein und gab dem Jungen, der nur darauf gewartet hatte, eine Handvoll getrocknete Apfelscheiben.

      „Karlomchen, ich will nicht den Hasen essen“, erklärte Aurel, indem er sich ein Apfelstück in den Mund steckte. „Und ich will auch kein Jungherr sein!“

      Karlomchen schob das Schubfach wieder zu.

      „Papperlapapp, ob du Jungherr bist oder nicht: es kommt nicht darauf an, was wir sind, sondern wie wir sind“, meinte sie ernst und schloß die Tür der Vorratskammer.

      „Und warum muß ich dann Jungherr sein?“ fragte Aurel und spürte mit Behagen den süß-säuerlichen Geschmack der getrockneten Apfelscheiben auf der Zunge.

      „Weil jeder das sein muß, was er ist!“ sagte Karlomchen und drehte den Schlüssel im Schloß um. „Aber im Himmel vor dem lieben Gott sind wir alle gleich!“

      „Und warum können wir es nicht schon hier sein?“ forschte der Junge und steckte sich ein neues Apfelstück in den Mund.

      „Weil wir noch keine Engel sind“, seufzte Karlomchen und schon war sie mit ihrem Buckel verschwunden. Nur der Schlüsselbund klapperte noch irgendwo aus der Ferne.

      Nein, Papa ist kein Engel, wenn er Hasen schießt, überlegte Aurel und wanderte nachdenklich, das letzte Apfelstück in der Faust, auf dem Dielenläufer in den Saal. Erschrocken blieb er stehen: dort stand er, der Vater, die lange Pfeife in der Hand und schaute zum Fenster hinaus. Schon wollte der Junge umkehren, schnell davonlaufen, aber dann besann er sich: wie, wenn er ihn jetzt fragte, ihn bat – vielleicht war alles gutzumachen, vielleicht ließ er dann die Hasen leben?

      Das kleine Herz klopfte zum Zerspringen bis in den Hals hinauf, und die Faust hielt noch immer das Apfelstück umklammert, als er nun neben dem Vater dastand und mit hochgereckter Nasenspitze zum glimmenden Pfeifenkopf hinaufstarrte. Aber er brachte kein Wort hervor. Auch der Vater schwieg. Er legte nur seine schwere Hand auf den blonden Scheitel des Kindes, und damit waren alle Fragen und Bitten verstummt.

      Dann ging der Vater wieder in sein Zimmer. Die Tür schloß sich. Und Aurel steckte sich tief beschämt das letzte getrocknete Apfelstück in den Mund.

      Nein, dem armen Hasen war nicht zu helfen. Jetzt nahm der Vater sogar die großen Brüder mit auf die Jagd: drei Schlitten mit dicken Felldecken hielten vor der Veranda. Der Vater kutschierte den ersten und hatte Christof bei sich. Marz folgte im zweiten mit Balthasar und Reinhard. Und Mickel, der Buschwächter, saß im letzten mit den drei Hunden: Waldi, Sagrei und Schamyl.

      Aurel war im Spielzimmer mit Hilfe eines Schemels auf das Fensterbrett geklettert, und von hier aus konnte er alles genau beobachten: die dampfenden Mäuler der Pferde, Vaters rote Fuchsfellmütze mit den Ohrenklappen, den schwarzen Bärenpelz, die blitzenden Flintenläufe. Und den aufgeregten Mickel mit den noch aufgeregteren Hunden, das runde Messingjagdhorn auf dem kurzen Schafspelz. Dann knallten die Peitschen, das Horn schmetterte, die Schellen läuteten, die Hunde jauchzten – die Schlitten bogen bei den Tannen ein und waren hinter der roten Klete verschwunden.

      Aurel ertappte sich bei dem Wunsch mitzufahren. Und dann kam wirklich der große Tag, an dem Mila ihn dick einpackte und er mit ihr und den Brüdern in einer „Ragge“, einem tiefen, breiten Bauernschlitten, spazierenfahren durfte. Balthasar, der Älteste, kutschierte, und Reinhard und Christof balgten sich um die Peitsche, bis Balthasar auch die Peitsche an sich riß. Ehra, die alte Fuchsstute, rannte wie verrückt und schleuderte mit ihren Hufen vereiste Schneebälle in den Schlitten. Jetzt bogen sie von der Allee auf die Landstraße ein, dicke Weidenstümpfe mit kahlen Ästen flogen vorüber. Aber dann plötzlich, an einer Biegung, scheute Ehra, machte einen gewaltigen Satz, der Schlitten kippte um, und alle rollten in den Graben. Immer wieder mußte Aurel, ganz aufgeregt, Karlomchen und der Mutter davon berichten. Bis tief in die Ärmel und unter den Baschlik, die braune Kapuze, war der Schnee gedrungen. Er war glücklich und stolz wie auf eine Heldentat. Nur durfte er nicht mehr mit den großen Brüdern spazierenfahren.

      Dafür baute er sich im Spielzimmer mit Stühlen und Kissen selbst einen Schlitten, spannte das Schaukelpferd davor, packte sich in dicke Decken ein und fuhr los. Als die kleine Schwester etwas größer wurde, setzte er sie auch hinein und fuhr sie spazieren. Das Schaukelpferd Ehra trabte ganz brav, hob und senkte die Mähne, hob und senkte den etwas dünnen, halbausgerissenen Schwanz, die Schellen an der blauen Leine klimperten. Aber dann plötzlich machte Ehra einen Satz, der Schlitten fiel um, und Adda, die kleine Schwester, mußte, auch wenn sie gar nicht wollte, über den Fußboden rollen.

      Das Spielzimmer war Aurels Reich: hier baute er mit glatten Holzklötzen mächtige Türme und Häuser, weidete große Herden von Kühen (das waren braune Kastanien) und Schafen (das waren Weidenkätzchen) oder spielte auch stundenlang eifrig mit seinen Puppen. Besonders liebte er Franz, der sogar die Augen aufschlagen und schließen konnte und der immer bei ihm im Gitterbett schlafen mußte.

      Während er eifrig spielte, saß Mila am Fenster, strickte oder stopfte Strümpfe. Dann und wann huschte Karlomchen durch das Zimmer, oder die schwarze Tina steckte den Kopf durch die Tür. Aber die Mutter kam nur selten. Sie schaute dann wie suchend nur ein wenig herein, fragte etwas und war ebenso schnell wieder verschwunden. Dafür kletterte Aurel jeden Morgen zu ihr ins Bett. Die kleine Karlin brachte ihr das Frühstück auf einem Tablett, die Mutter mußte lange liegen. Besonders im Winter, wenn es draußen kalt und dunkel war. Die Mutter fror immer. Wie oft stand sie fröstelnd, einen weißen gehäkelten Schal um die schmalen, zusammengezogenen Schultern, am weißen Kachelofen im Saal und wärmte sich den Rücken. Solange draußen Schnee lag, ging sie fast nie hinaus.

      „Dies ist kein