Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Auf dem weißen Fußboden lagen große viereckige Sonnenstücke, die vom Schatten schmaler Blätter gesprenkelt wurden. An den Fenstern standen in hohen Kübeln die Oleander, ein ganzer Wald von schlanken Oleanderbäumen. Das waren die Lieblingspflanzen der Mutter, die sie selbst begoß und pflegte. Im Sommer standen sie vor den weißen Säulen auf der Veranda, und ihre zarten rosa Blüten dufteten süß und zugleich bitter, als sehnten auch sie sich nach einem wärmeren Lande.
Aber jetzt im Winter blühten nur Hyazinthen und Goldlack auf den Fensterbrettern im Saal. Jeden Morgen öffnete sich eine neue Hyazinthe, und vorher rieten die Mutter und Aurel, welche Farbe sie haben würde.
„Riech, wie sie duften!“
Aurel grub die Nasenspitze tief zwischen die schmalen Blätter hinein und schnupperte an der kühlen Dolde.
„Warum riechen die Blumen so gut?“ fragte der Junge.
„Weil sie nicht sprechen können und doch Gott danken wollen!“ sagte die Mutter. Dann summte sie wieder, und beide gingen auf und ab, im rötlichen Schein der schwachen, niedrigen Wintersonne.
Wenn sich aber die Tür vom Lesezimmer öffnete und der Vater dunkel mit der langen Pfeife auf der Schwelle stand, verstummte die Mutter. Und Aurel wurde zu Mila ins Spielzimmer geschickt.
Wie bald kam die Dämmerung, und wie lange dauerte es, bis es richtig dunkel wurde! Mila erzählte Zauber- und Gespenstergeschichten von Ungeheuern und unheimlichen Geistern. Von einem Silberschatz, der tief im Moor vergraben lag, und von Wölfen, die ein Kind verschleppten, das dann wild in den Wäldern aufwuchs und ein richtiges Wolfsfell bekam. Dieser Wolfsmensch lief auf vier Beinen und konnte sogar richtig heulen. Marz, der alte Kutscher, hatte ihn einmal gehört, als er nachts durch den Wald fuhr, und seine Frau war am nächsten Tag gestorben. Und Mickel, der Buschwächter, hatte einmal auf ihn angelegt, aber dann war der Schuß in seinen eigenen Daumen gegangen. Denn der Wolfsmensch ist kugelfest, und wer ihn heulen hört, der muß sterben.
„Aber Marz ist doch gar nicht gestorben?“ meinte Aurel.
„Dafür starb seine Frau“, erklärte Mila, „der Wolfsmensch holt sich die Frauen! Und paß auf: auch Marz wird er einmal holen! Der Wolfsmensch ist stärker als alle Menschen, weil er einen Wolfsrachen hat, und schlauer als die Wölfe, weil er ein Menschenhirn hat. Er ist böse, weil die Menschen ihn nicht mehr in ihre warmen Stuben hineinlassen, und er ist hungrig, weil die Wölfe ihm nichts zu fressen geben. Er hat kein Zuhause, gehört nirgends hin, weder zu den Tieren, noch zu den Menschen, und nur wenn ein Mädchen ihm ihr Herz schenkt, kann er erlöst werden. Aber sie muß es ihm freiwillig geben, und noch hat er keins bekommen.“
„Und was macht er mit allen Frauen, die er sich holt?“
„Er frißt ihre Herzen! Aber davon wird er nicht satt. Denn noch hat ihm keine ihr Herz geschenkt.“
„Und dann läßt er sie liegen?“
„Nein, er vergräbt sie im Moor. Der alte Jaunsem, der Grabenstecher, hat oft ihre Knochen gefunden. Sie sind weiß wie Zähne, und wenn man sie an der Brust trägt, ist man gegen den Wolfsmenschen geschützt.“
„Hast du einen Knochen?“
Mila schüttelte den Kopf:
„Nein, ich habe keinen“, sagte sie leise, „und einmal wird der Wolfsmensch auch mich holen!“
Aurel war auf ihren Schoß gesprungen, umklammerte heftig ihren Hals:
„Nein, das wird er nicht! Dann schieß’ ich ihn tot!“
Mila lächelte traurig:
„Und wenn ich ihm mein Herz schenke?“
Aurel brach in Tränen aus:
„Das gehört mir!“
Auch Mila schluchzte:
„Wirst du mich nie vergessen?“
Und dann weinten beide, bis Karlomchen mit der Petroleumlampe kam.
Einmal wachte Aurel mitten in der Nacht auf. Weiße Mondstreifen lagen auf dem Fußboden, aber ein großer schwarzer Schatten fiel schräg über sein Bett. Er fühlte, daß dort jemand am Kopfende stand und ihn ansah, er glaubte sogar den schnaufenden Atem zu hören. Plötzlich wußte er: es war der Wolfsmensch, der gekommen war, ihn zu holen. Er wollte schreien, aber der Mund war ihm zugeschnürt; er wollte aus dem Bett springen, aber alle Glieder waren gelähmt, er konnte sich nicht rühren. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, die Augen zu schließen und sich schlafend zu stellen.
Eine Ewigkeit lag er so, jeden Herzschlag darauf gefaßt, daß das Ungeheuer sich über ihn stürzen werde. Als er endlich wieder einen Spalt der Augen öffnete, war der Schatten verschwunden. Auch der Mond war weitergewandert bis zum Ofen, der so fremd und entrückt wie ein weißes Gespenst dastand. Der Mond hatte ihn verzaubert.
Aber Minkas Fell war warm und weich wie immer, und die Hand nach der schnurrenden Katze ausgestreckt, schlief Aurel wieder ein.
Nein, der Wolfsmensch kam nicht, aber dafür kam ein Bär, ein richtiger brauner Bär mit dickem Zottelpelz, kleinen schwarzen Augen und mächtigen Tatzen. Vom Spielzimmerfenster hatte Aurel ihn kommen sehen, und ein schwarzer, dünner Mann mit einem großen Leierkasten auf dem Buckel stapfte hinter ihm her durch den tiefen Schnee.
Dann kam der Bär in den Saal, der Mann drehte den Leierkasten, und der Bär mußte tanzen: er richtete sich auf den Hinterbeinen auf und wackelte mit dem Kopf. Es war ein noch junges, unausgewachsenes Tier, wenn er aber so dastand, war er doch größer als Aurel und recht unheimlich, obgleich er einen eisernen Maulkorb hatte.
Die Mägde, die aus der Gesindestube hereingelaufen waren, standen lachend und kreischend im Kreise herum; die schwarze Tina schob immer die kleine Karlin vor, die sich an der alte Liese festhielt. Auch Marz, Janz, Mikkel und Indrik waren gekommen. Mickel erzählte aufgeregt und wichtig, wie er einmal einen Bären geschossen hatte, der auf ihn losgegangen war; aber das sei ein anderes Tier gewesen, dreimal so groß wie dieses Baby, und dabei griff er mit der Hand in das Nackenfell, zog sie aber gleich wieder zurück, als sich der Rachen mit den weißen Zähnen und der roten Zunge öffnete.
Mila aber hatte keine Angst und streichelte den zottigen Kopf.
„Armes Tier“, sagte sie, „armes Tier!“
Und auch Aurel befühlte zögernd die rauhen Haare. Wie traurig ihn die kleinen schwarzen Augen über dem eisernen Maulkorb anblickten. Und wie traurig der fremde Mann im dünnen Sommermantel aussah, und wie traurig der Leierkasten klang, obgleich der Bär tanzte und alle rundherum so lustig waren.
Die Mutter versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Der Vater, der eine Weile von der Schwelle des Lesezimmers zugeschaut hatte, schloß bald wieder die Tür. Karlomchen kramte in der Pelzkiste, bis sie endlich einen abgetragenen Wintermantel fand. Außerdem bekam der Leierkastenmann in der Gesindestube tüchtig zu essen und heißen Kaffee. Auch der Bär wurde gefüttert.
Aber noch lange roch es im Saal nach Tier und Leuten. Karlomchen mußte alle Fenster öffnen und mit brennenden Wacholderzweigen die säuerliche Luft ausräuchern. Als die Fenster geschlossen waren, sprengte die Mutter Eau de Cologne aus.
„Was denken sich wohl die armen Oleander“, fragte sie, „daß Bären vor ihnen herumtanzen! Aber dies Land ist wohl mehr für Bären geschaffen!“
Endlich kam warmer Wind aus dem Süden, der viele Schnee schmolz, es tropfte vom Dach, und überall auf den Wegen standen große Wasserpfützen. Dann trat bald braune Erde hervor, und man konnte in hohen Galoschen zum „Kleinen