Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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Aber zum Großen Wald konnte Aurel noch nicht gehen. Mila führte ihn an der Hand; wenn eine Pfütze kam, griff sie ihn unter die Ellbogen und schwang ihn mit einem Ruck hinüber. Die großen Brüder sprangen von einem Erdhümpel zum anderen. Die Luft flimmerte, der Schmelzschnee glitzerte, in den klaren Wasserlachen spiegelte sich der hellblaue Märzhimmel mit den schnell dahinziehenden Frühlingswolken. Rosigweiß standen die jungen Birkenstämme am schwarzen Waldrande.

      Zwischen den dunklen Fichten lag noch viel Schnee, aber auf einer kleinen Lichtung, um einen Wassertümpel, leuchteten schon saftiggrüne Moospolster, und wenn man sich auf den Bauch darauflegte, konnte man durch ein Loch zwischen dem Wurzelwerk eines vermoderten Baumstumpfes ganz dicht in das blaßgrüne Eiswasser der Grube hineinblicken. Die großen Brüder taten das, sie lagen alle lang ausgestreckt auf dem Bauch und starrten abwechselnd in das geheimnisvolle Loch. Und weil die Großen das taten, legte auch Aurel sich hin und wollte hineinschauen. Dabei schob er sich wohl ein wenig zu weit vor, verlor das Gleichgewicht und stürzte Kopf voran in den Tümpel.

      Keine Luft, kein Licht, keine Sonne; die warme, helle Welt da oben war ausgelöscht, und eine andere, eiskalte und dunkle Welt griff nach seinem Herzen. Verzweifelt strampelten die kleinen Beine, aber der Kopf konnte sich nicht mehr aus dem Eiswasser heben. Die großen Brüder schrien und zerrten ihn an den Füßen, aber die Grube war zu tief und der kleine Bruder zu schwer – sie konnten ihn nicht herausziehen.

      Im letzten Augenblick kam Mila herbeigeeilt, packte die schon schwächer zappelnden Beine und zerrte den Jungen heraus. Die Luft, die Sonne, das Licht waren wieder da, wenn auch der kleine Körper vor Eiseskälte bebte, von Schneewasser triefte. Mit weit von sich gehaltenen Armen und steif gespreizten Beinen wanderte der kleine Mann, verwundert und sehr benommen, neben den großen Brüdern und der verzweifelten Mila heimwärts. Bei jedem Schritt glucksten die wassergefüllten Galoschen.

      Die Mutter erfuhr es erst, als er warm eingepackt in seinem Gitterbett lag. Sie beugte sich tief über ihn und hielt lange seinen Kopf umschlossen. Aber sie sagte kein Wort. Dann drückte sie Mila die Hand und streichelte ihren Rücken. Denn Mila konnte sich nicht beruhigen und machte sich die bittersten Vorwürfe, daß sie den Jungherren auch nur einen Augenblick unbewacht gelassen hatte! Karlomchen brachte heiße Himbeerlimonade.

      Dann schlief der Junge ein.

      Aber die Mutter saß noch lange bei ihm, befühlte seine Stirn, stopfte die Decke zurecht. Und der blaue Schein von Karlomchens Öllampe schwebte immer wieder wie ein guter Schutzgeist in der Dunkelheit, und unermüdlich wanderte ihr Buckel, der wieder zu einem großen Flügelpaar bis zur Decke gewachsen war, an den Wänden entlang. Dann ging die Mutter. Und auch die blaue Öllampe erlosch.

      Nur der späte abnehmende Mond, der über den weiten, dunklen Wäldern aufging, tastete sich durch das Fenster und legte sich auf die weißen Bretterbohlen.

      Der Junge erwachte. Wieder fiel ein schwarzer Schatten schräg über sein Gitterbett. Aber er fürchtete sich nicht. Er wußte: der Wolfsmensch konnte ihn nicht holen. Ruhig wandte er den Kopf auf die andere Seite und blickte auf.

      „Mila?“

      Ja, es war Mila, die dort neben seinem Bett kauerte, den Kopf tief in die Hände vergraben. Aber warum zuckten so ihre Schultern?

      Aurel richtete sich auf. Jetzt stand er, vom Mond beschienen, im weißen Nachthemd da und streckte die Arme nach Mila aus.

      „Du mußt dich hinlegen, du mußt schlafen!“ sagte Mila leise, drückte ihn an sich und deckte ihn wieder zu.

      „Mila, der Wolfsmensch kann mich doch nicht holen?“ fragte der Junge, schon halb im Schlaf.

      „Nein, das kann er nicht, und wenn er kommt, dann jag’ ich ihn fort!“

      Und wieder war um ihn eine große, weiche Dunkelheit, eine wohlige Wärme und tiefes Geborgensein.

      Aurel schlief ein.

       Der Wolfsmensch

      Und dann wurde es Sommer. Die Störche klapperten in ihrem Nest hoch oben auf dem Ahorn, der am Eingang zur Allee stand; der Faulbeerbaum neben der Schaukelbank am Spielplatz blühte, die verwilderten Cyrenen- und Jasminbüsche am alten Gartenzaun dufteten betäubend, und die Oleander vor den weißen Säulen der Veranda hatten schon zartrosa Knospen angesetzt.

      Schon ganz früh am Morgen drang durch die offenen Fenster ein unermüdliches Kratzen und Scharren ins Haus: Janz harkte mit einem hölzernen Rechen die breite Anfahrt vor dem runden Rasenplatz. Sorgfältig zog er schräge Strichelmuster in den lockeren braunen Grand und wischte behutsam die Spuren seiner nackten großen Füße hinter sich aus. In gemusterten Vierecken, wie Parkett, lag dann der breite Weg in der Morgensonne, schräg durchschnitten vom dunklen Dachschatten, der immer näher ans Haus rückte. Auf dem kurzgeschorenen Rasenplatz glänzten fett und schwarz die frischaufgeworfenen Maulwurfshümpel.

      Aurel mußte sie glatttrampeln, aber er tat es nur zaghaft und sehr vorsichtig, um den Maulwürfen, die vielleicht dicht unter seiner Sohle ahnungslos hockten, nicht weh zu tun. Einmal hatte Janz einen gefangen. Er hielt das schwarze kleine Tier mit dem spitzen Rüssel und den komischen krummen Schaufelpfoten in der Hand und meinte lachend:

      „Man braucht ihm nur einen kleinen Klaps auf die Schnauze zu geben – dann ist er tot!“

      „Und warum willst du ihn totmachen?“ fragte Aurel verwundert.

      „Weil er so häßliche Haufen macht“, sagte Janz unbekümmert und griff nach dem Rechenstiel.

      Aber Aurel umklammerte den schon zum Schlag erhobenen Rechen, nahm ängstlich, aber doch tapfer das unheimliche schwarze Geschöpf in beide Hände und trug es mit Mila in den kleinen Wald. Wie seidig weich sich das glänzende Fell anfühlte! Und wie schnell sich das Tier in die gelbe, sandige Walderde hineingrub.

      Aurel nahm sich nun vor, alle Maulwürfe zu fangen und in den Wald zu tragen: dort durften sie ja ungestört ihre Haufen machen. Aber so tiefer auch mit den Händen in den aufgeworfenen Erdhümpeln herumwühlte – niemals konnte er einen erwischen.

      „Mein Gott“, seufzte die Mutter, „was hast du wieder für Pfoten!“

      Und Karlin mußte warmes Wasser und Karlomchen grüne Seife bringen, und die Mutter band sich feierlich eine blaue Schürze vor – war aber gleich so erschöpft, daß sie kraftlos in den Stuhl sank und Mila die erdigen Hände mit einer Bürste schrubben mußte.

      Das Händewaschen machte Aurel Spaß. Er tat es jetzt ganz von selbst. Aber nicht, um die Finger rein zu bekommen, sondern nur, um zu sehen, wie der Seifenschaum, wenn man ihn tüchtig rieb, immer tiefer in die Haut hineinging und schließlich ganz verschwand. Die Hände fühlten sich dann so merkwürdig glatt und seifig an. Und wenn man sie später irgendwo ins Wasser steckte, fingen sie wieder an zu schäumen. Das war ein großes Wunder, mit dem er Adda und Janit, dem kleinen Verwalterssohn, imponieren konnte, wenn sie am Teich mit ihren Segelschiffen spielten.

      Sie hockten auf dem schmalen Brettersteg, der auf einem Holzbock in das von grüner Entengrütze, Schlamm und Schilf verwachsene Wasser ragte. Nur eine kleine Stelle dicht am Steg war klar, und wenn man sich tief bückte und den Arm hineintauchte, konnte man fast den lehmigen Grund berühren. Von hier aus traten die Segelschiffe ihre weiten Weltreisen an, die immer irgendwo in der dicken Entengrütze endeten, so das Janz mit aufgekrempelten Hosen sie aus dem Wasser holen mußte. Hier gab es grüne Frösche, quabblige Kaulquappen, Feuersalamander mit roten Bäuchen, blanke, grünschillernde Wasserkäfer und die unheimlichen schwarzen Blutegel, die Janz sich lachend an die Wade setzte, wenn Aurel es haben wollte. Und hier konnte er das Seifenwunder vorführen:

      „Seht, ich habe kein Stückchen Seife!“ Er hielt beide Hände in die Luft, Adda und Janit untersuchten sie ganz genau. Dann tauchte er sie ins Wasser, rieb und rieb sie eifrig aneinander, und langsam fingen sie an zu schäumen!

      Auch Marz, der alte Kutscher, der gerade zum Wasserschöpfen kam, um die Kalesche zu putzen, schüttelte verwundert seinen buschigen Vollbart. Und dann durfte Aurel auf den Bock klettern, die