Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

Читать онлайн.
Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



Скачать книгу

darauf an, den rein menschlichen Konflikt darzustellen, den die Balten jetzt durchmachen underleiden mußten, den Konflikt zwischen Heimatliebe und Treue zum eigenen Volk.“ In seinem Rechenschaftsbericht erzählt er weiter: „Die Kölnische Zeitung hat 1941 den Roman unter dem Titel ‚Und wenn sie nicht gestorben sind‘ als Vorabdruck veröffentlicht. Der Schünemann-Verlag wollte das Buch aber nur unter der Bedingung bringen, wenn das Manuskript völlig umgearbeitet und den damaligen Ansichten angepaßt würde – was ich natürlich ablehnte. Ich hatte über diese sogenannte ‚Umsiedlung‘ meine eigenen Gedanken, die ich in keinem Fall der damals propagierten ‚Heimkehr ins Reich‘ anpassen konnte. So ist ‚Der letzte Akt‘ erst lange nach dem Krieg – 1958 im Salzer Verlag – erschienen.“

      Wiederholt hat sich Siegfried von Vegesack der Propaganda der Nationalsozialisten widersetzt – etwa, wenn er sich weigert, einen Glückwunsch der „Reichsschrifttumskammer“ zu Goebbels Geburtstag zu unterschreiben. Auch ihr Verlangen nach einer schriftlichen Erklärung, „stets für die Deutsche Dichtung im Sinne der Nationalen Regierung“ einzutreten, lehnt er mehrfach ab – mit Erfolg. Doch erst in jüngster Zeit hat die Literaturwissenschaft den Baltendeutschen vereinzelt den Vertretern der Inneren Emigration zugerechnet. „Als Mitglied der Paneuropäischen Union und der internationalen Künstlervereinigung Porza war ich schon längst der Partei ein Dorn im Auge“, kommentiert er seine frühe Verhaftung im März 1933. Dieser Künstlervereinigung haben die Eheleute von 1929 bis 1932 ihren Turm verpachtet; sie ziehen ins Tessin. Nur als Gäste kehren sie zeitweilig auf ihr Grundstück zurück. Vegesacks Wunsch, einer Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, sowie sein ausgeprägtes „Fernweh“ treiben ihn hinaus in die Weite: außer ins Tessin und ins Baltikum nach Schweden, Südtirol, Dalmatien und – Südamerika.

      In Argentinien lebt nämlich „Nena“, Siegfried von Vegesacks – bis zu seinem Lebensende zumeist ferne – Geliebte. Dreimal – 1936–38, 1959–60 und 1965–66, noch mit 78 Jahren, wird er sie dort besuchen. Nicht von ungefähr heißt auch in der „Baltischen Tragödie“ eine von Aurels italienischen Spielgefährtinnen ‚Nena‘. Kennengelernt haben sie einander im Herbst 1929 in Lugano. Von Clara Nordström hat er sich bereits getrennt, auch wenn die Ehe erst 1935 geschieden wird: „Zuerst die Anthroposophie, und nun die Rassenseuche haben uns immer mehr entfremdet“, schreibt er Alfred Kubin im Mai 1935 über die Schwedin, die nach dem Krieg zum Katholizismus konvertieren wird. Nena – ihr richtiger Name lautet Lea de Loeb – ist Halbjüdin, geschieden und neun Jahre jünger als Vegesack; sie zieht im Februar 1932 mit ihren Kindern zu den Eltern nach Argentinien, wohin diese ausgewandert sind.

      Weinend läuft der dreizehnjährige Gotthard dem Vater auf dem Bahnsteig bei dessen Abreise nach Südamerika im September 1936 neben dem abfahrenden Zug nach. Er hatte ihm zuvor einen Zettel in die Jackentasche gesteckt, den dieser aber erst in Argentinien entdeckt: „Komm bald zurück, ich brauche Dich sehr!“ Nach fünf Jahren sehen die Liebenden einander wieder; Vegesack trifft Nena in Montevideo. Ihm ist, „als wären wir nie getrennt gewesen.“

      „Von diesen Wochen habe ich gezehrt, und davon lebe ich noch heute“,schreibt er 1967 in der „Überfahrt“, der Bilanz seines Lebens. Warum ist der Dichter nicht bei Nena geblieben? Er erzählt es in seinem Roman: „Und dann – die Nacht in der Pampilla. Weißt Du noch? Ich erinnere mich an alles. Wir waren hinaufgeritten – zu ‚meinem‘ Häuschen, einem alten Gemäuer, das verlassen über der Quebrada stand. Ich träumte davon, es mir als mein Zuhause einzurichten, und wollte es Dir zeigen. […] Wir ließen die Pferde im Freien grasen, saßen auf der steinernen Schwelle und schauten, wie der Feuerball in die Sierra versank. Als es dunkelte, gingen wir hinein. Ich hatte uns ein Lager bereitet.

       Beim Abstreifen meiner alten Windjacke griff ich in die Tasche. Da kam der Zettel meines Jungen zum Vorschein. Ich gab ihn Dir. Du lasest ihn und sagtest kein Wort. […] Mitten in der Nacht wachte ich auf. Die Cresciente? Nein. Du schluchztest. Noch nie hatte ich Dich weinen gesehen. Ratlos saß ich da und begriff nichts. Der Mond, der über dem Gemäuer aufgegangen war, schien auf Dein Gesicht, über das unaufhörlich Tränen liefen. Und dann sagtest Du: ‚Nein – du mußt zurück. Du kannst den Jungen nicht im Stich lassen. Unser Glück wäre zu teuer erkauft. Wir müssen verzichten…‘

      In jener Nacht fielen alle meine Träume zusammen. Du hattest recht. Du kanntest mich besser als ich mich. Du dachtest an mich – und nicht an Dich. Ich konnte nicht bei Dir bleiben – ich mußte zurück…“ – Ein seltsam verdichtetes Zusammenspiel, denn auch von Gotthard, seinem ersten Sohn, soll er bald Abschied nehmen: 1944, erst zwanzigjährig, ist Gotthard von Vegesack in Polen als Flieger gefallen. Als Nachruf erscheint 1947 Vegesacks Gedichtsammlung „Mein Junge“, in der er seiner Trauer Ausdruck gibt.

      Im Mai 1938 reist der Dichter zurück nach Deutschland, nutzt die knapp zweijährige Tätigkeit als Auslandskorrespondent für seinen ersten Reisebericht „Unter fremden Sternen“ (1938). „Es war ein großes Glück für mich, daß ich noch kurz vor Tores-Schluß so viel von der Welt sehen und mich mit unvergeßlichen Eindrücken vollpumpen konnte“, schreibt Vegesack im März 1940 an Kubin. „Sie tragen Ihre Welt in sich und brauchen deshalb nur aus Ihrem Innern zu schöpfen; bei mir ist das anders: ich muß mir alles hereinholen, muß die Dinge leibhaftig sehen, damit sie im Innern lebendig werden! Aber nun bin ich für Jahre versorgt!“ Erzählungen aus Argentinien (1940), Paraguay (1941), Chile (1942) und Brasilien (1947) entstehen. Stets bildet die Grundstimmung immer wiederkehrender Schwermut und Melancholie den fruchtbaren Boden für Vegesacks Humor. Die Liebesgedichte, die der Bewunderer Schopenhauers über Nena schreibt, sind „durchzogen vom Wissen um die Zerbrechlichkeit des Glücks, aber immer wieder auch erfüllt von jener Weisheit des Heimatlosen, den sein entwurzeltes Leben lehrte, daß man nur das besitzt, was man ganz verlor: das vollkommen Verinnerlichte. So wird auch verinnerlichte Liebe selbst durch Ozeane nicht getrennt“, schreibt Franz Baumer – es sind melancholische Liebesgedichte. Für Vegesacks zweite Frau Gabriele, „Jella“ genannt, ist das Ertragen seiner Zerrissenheit sicher nicht leicht: Von Anfang an hat sie von seiner fernen Liebe gewußt, nie aber geglaubt, daß diese so unauslöschlich sein würde. „So ganz allein im Turm – das ging doch nicht auf die Dauer. Meine zukünftige Frau […] ist ein lieber, warmer, völlig unkomplizierter Mensch – gerade das, was ich brauche!“ schwärmt der Ledige: „So wird nun im Turm ein neues Leben beginnen – ich wollte fort, aber er läßt mich nicht los, und nun werden sogar neue Wurzeln geschlagen. Ich habe das Gefühl, daß ich Ihrem Beispiel folgen, mich immer tiefer hier vergraben und von der Welt da draußen abschließen werde. Aber dazu braucht man einen Menschen, der die Einsamkeit teilt, – sonst erfriert man. Und ich glaube, daß ich diesen Menschen gefunden habe!“ schreibt er am 1. März 1940 an Kubin. Im April heiratet er Jella, die Tochter eines Obersten aus Würzburg, zum Jahresende wird ihr gemeinsamer Sohn Christoph geboren.

      Doch bald schon ist Vegesack von der Familie getrennt: „Als der Krieg im Osten ausbrach, meldete ich mich […] freiwillig als Dolmetscher“, erzählt er in seinem Rechenschaftsbericht. Im Mai 1942 setzt ihn ein Flugzeug in Poltawa ab; von dort aus trampt der 54jährige „ohne Auto und keinem Vorgesetzten unterstellt, kreuz und quer, meist in Lastwägen oder Güterzügen, im Süden bis in die Krim und den Kaukasus, und im Norden nach Reval und Narwa hinauf“. Als „Sonderführer“ kommt er in die Ukraine, nach Georgien, schließlich auch in die alte Heimat: „Als Dolmetscher im Osten hatte ich mich anfangs noch einigen Illusionen hingegeben. Doch mit der Zeit wurden meine Eindrücke immer skeptischer. Im Frühjahr 1944 erhielt ich vom damaligen Chef des Wirtschafts-Stabes-Ost – General Stapf – den Auftrag, auf Grund meiner Berichte und eines umfangreichen Materials von Dokumenten, die mir zur Verfügung gestellt wurden, eine Denkschrift über die ‚Behandlung der Bevölkerung‘ in den von uns besetzten Gebieten zu schreiben, und zwar so, wie ich die Dinge sehe, ohne jede Rücksicht auf höhere Dienststellen. Einzelheiten dieser Denkschrift hatte ich mit Graf Peter Yorck von Warthenberg besprochen, der bei uns im Stab tätig war.

       Am 17. Juli 1944 lieferte ich meine Denkschrift in Berlin ab. Schon am nächsten Tag empfing mich General Stapf mit den Worten: ‚Wissen Sie, was Sie da geschrieben haben? Eine furchtbare Anklage!‘

      Ich